Die NATO beobachtet die Ereignisse in der Schwarzmeerregion aufmerksam, aber es ist nicht mit einer Strategieänderung der Allianz zu rechnen – Experten

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Kiew, 14. Mai 2015 – Die Ergebnisse des NATO-Treffens, das am 13. Mai in der Türkei stattfand, zeugen von einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber den Ereignissen in der Schwarzmeerregion seitens der Nordatlantischen Allianz und dass die Tatsache begriffen wird, dass sich das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten Russlands verändert. Diesen Standpunkt äußerten die Teilnehmer der Diskussion „Militarisierung der Krim als Bedrohung der kollektiven Sicherheit in Europa“, die im Ukrainischen Crisis Media Center stattfand.

Grigorij Perepeliza, Experte für internationale Sicherheitsfragen und Direktor des Instituts für Außenpolitik, meinte, dass die Aufmerksamkeit der NATO bis vor kurzen noch auf verschiedene Regionen verteilt war, welche keine direkte Bedrohung der euroatlantischen Sicherheit darstellen. Das Ergebnis dieser Politik war, dass durch die russische Aggression gegenüber der Ukraine eine Bedrohung an den Grenzen der NATO auftauchte. Wenn die NATO den Status quo im Kräftegleichgewicht verliert, wird sie ihren Einfluss insgesamt in der gesamten Region verlieren. Allerdings prognostiziert der Experte für die nächste Zeit keine Revision der NATO-Strategie in der Schwarzmeerregion, einschließlich in der Ukraine, obwohl die Situation außerordentlich beunruhigend ist. „Diese Region hat für Russland eine Schlüsselbedeutung aufgrund der Möglichkeiten, seinen geopolitischen Einfluss auf den Balkan, den Nahen Osten, die kaspischen und mediterranen Regionen und den Iran auszudehnen“, merkte Grigorij Perepeliza an.

Nach seiner Meinung ist die Militarisierung der Krim der Versuch, die Halbinsel an einer Rückkehr zur Ukraine zu hindern. Allerdings sieht der Experte dieses von der Ukraine gewünschte Szenario mittelfristig als unwahrscheinlich an. Die Halbinsel wird nicht nur zu einer Marine-, sondern auch zu einer Landfestung. Spezialisten sind besonders darüber beunruhigt, dass an der Küste Marschflugkörper und moderne Flugabwehrsysteme stationiert und die Landtruppen verstärkt werden. „Ich denke, in nächster Zeit werden die Flugstaffeln ersetzt und durch strategische Bomber ergänzt, die über einen Aktionsradius verfügen, der den gesamten Nahen Osten erfasst, sowie den Iran, Zentralasien, den Balkan und Osteuropa“, prognostiziert Grigorij Perepeliza. Er sagte auch, dass Russland durch die Okkupation der Krim die Kontrolle über die Küstenabschnitte um das dreifache vergrößerte. Faktisch erlangte Russland so die volle Kontrolle über die Schwarzmeerregion.

„Wenn die Russische Föderation solch schweren Überschallbomber wie die TU-160 auf der Krim stationiert, kann sie nicht nur die arabische Region kontrollieren, sondern ihren Einfluss bis nach Indien verstärken und praktisch das Rote Meer abdecken und bis zum Indischen Ozean ausdehnen“, erklärte Igor Kosij, Militärexperte am Institut für die euroatlantische Zusammenarbeit. Diese Ambitionen, so die Worte des Experten, haben ihre Wurzeln in der Sowjetzeit. Allerdings muss Russland ein zusätzliches Kommandozentrum für die Umsetzung dieses Ziels schaffen.

Sergej Dscherdsch, Vorsitzender der Gesellschaftsorganisation „Ukraine-NATO Civic League“, richtete seine Aufmerksamkeit darauf, dass die NATO harte Schritte und deutliche Erklärungen vermeidet. Dies vor dem Hintergrund, weil die Wahrscheinlichkeit besteht, dass das Militärpotential auf der Krim gegen die Ukraine eingesetzt wird. „Sollte es zu einem großangelegten Angriff zum Beispiel auf Mariupol kommen, kann dies von der Krim aus geschehen“, vermutete der Experte. Gleichzeitig erkannte der Experte an, dass das Problem wohl kaum durch Gewaltanwendung gelöst werden kann. „Die Politik der NATO muss gemeinsam mit der EU darauf gerichtet sein, den Druck auf die Russische Föderation durch die Kürzung von Finanzmitteln und die Ausweitung der Sanktionen zu verstärken. Damit erhöht sich der Druck auf die russische Wirtschaft“, sagte Sergej Dscherdsch. Der Experte stimmte auch der Meinung seiner Kollegen zu, dass das Militärpotential auf der Krim gegen die Ukraine gerichtet werden kann. „Dies ist die frühere Politik des Kremls, als er von ihm unterjochte Völker dazu nutze, andere zu unterjochen, wie zum Beispiel als er die Tschetschenen und Burjaten schickte, um im Donbass gegen die Ukrainer zu kämpfen. Und heute werden die jungen Männer auf der Krim in die russische Armee einberufen. Es gibt noch ein weiteres Signal, das der Westen und die NATO verstehen muss: wenn Russland die Ukraine auf irgendeine Weise unterjocht, so wird es das gesamte Potential gegen Europa und die Allianz nutzen“, betonte er.

Alexander Musienko, Direktor des Zentrums für militärrechtliche Forschung, nannte eine weitere Gefahr in Form von Diversions- und Spionagegruppen, die laut Informationen des Experten gerade auch auf der Krim vorbereitet werden. Diese Gruppen werden in den Donbass verlegt und können sich in Städten der restlichen Kontinentalukraine an Terroranschlägen beteiligen. Außerdem wendet Russland die Taktik von Repressalien an, was ein Merkmal zum Aufbau einer totalitären Gesellschaft ist. Ziel dieser Methoden ist, Angst zu streuen, um die Zivilgesellschaft, sowie freiheitliche Ideen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken. „Die Symbiose aus FSB und dem organisierten Verbrechen, mit dem die Führung auf der Krim verbunden ist, ist sogar gefährlicher, als wenn sie nur aus dem Geheimdienst bestehen würde, da so Straftaten den Bogen überspannen können, um sich einzuschmeicheln“, erklärte Alexander Musienko.

Nach Meinung von Grigorij Perepeliza werden in naher Zukunft auf der Krim die militärischen Repressionen weiter zunehmen, wenn die Verwaltungsbehörden von lokalen halbkriminellen Banden zu Silowiki (Geheimdienst- und Armeevertreter) übergehen. „Faktisch wird die Halbinsel von einer Militärverwaltung geführt. Die Praxis geschlossener Städte wird wieder kommen. Die gesamte Halbinsel wird zu einem geschlossenen Gebiet, das von der Russischen Föderation vollständig kontrolliert wird“, fasste der Experte für internationale Sicherheitsfragen zusammen.