„Ein Verständnis der Vor- und Nachteile der georgischen Reformen ist für die Ukraine wichtig“

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Kiew, 8. Juli 2015 – „Heute, wenn Saakaschwili Gouverneur des Gebiets von Odessa ist, sehen wir, dass es wichtig ist, alle Vor- und Nachteile der georgischen Reformen zu verstehen. Ich sprach vor zwei Tagen mit Saakaschwili und es war für mich klar, dass, unabhängig davon, ob man ihn mag oder nicht, er eine klare Vorstellung davon hat, was er machen will.“ Diese Gedanken äußerte der französische Journalist und Autor der Bücher „Putin und der Kaukasus“ und „Reise nach Abchasien“, Regis Gente, während einer Pressekonferenz im Ukrainischen Crisis Media Center.

Regis Gente, der seit 2002 in Georgien lebt, das heißt, seit der Regierungszeit von Schewardnadse, betonte, dass es mit den Reformen unter Saakaschwili gelang, die Korruption im postsowjetischen Georgien zu unterbinden. Die erfolgreiche Reformerfahrung im Land wurde zu einer erfolgreichen Fortsetzung der „Rosenrevolution“.

„Ich will betonen, dass es in Georgien wirkliche Reformen gab und dass es im modernen Georgien wirklich keine Korruption mehr gibt. Nach dem Amtsantritt von Saakaschwili sah ich kein einziges Mal mehr, wie die Polizei Schmiergeld annahm oder dass es andere Verstöße gab“, berichtete Regis Gente. Der Journalist erklärte den Reformerfolg durch einen echten politischen Willen. „In Georgien gab es deshalb Reformen, weil der politische Wille dazu vorhanden war. Außerdem waren die Reformen nicht „kosmetisch“, sondern betrafen alle, sogar die schutzlosesten Bevölkerungsschichten: zum Beispiel immigrierte Afrikaner, die mir erzählten, dass wenn sie kein Gesetz verletzen, sie niemand mehr unterdrückt“, berichtete der Journalist.

Gleichzeitig sprach Regis Gente ausführlich über die Mängel der Regierung unter Saakaschwili und nannte die Gründe seines Machtverlusts in Georgien 2012. Heute hat seine politische Partei nur 20 Prozent Unterstützung unter den Georgiern.

Nach Meinung des Journalisten gab es fünf Hauptgründe für den Machtverlust von Saakaschwili:

Erstens verlor Saakaschwili die Unterstützung während ehrlicher und transparenter Wahlen. Wähler in demokratischen Ländern mögen es, wenn sich die Staatsführung ändert. Unter den Bedingungen der freien Willensäußerung der Bürger ändert sich ihre Sichtweise öfters, selbst wenn diese Änderungen manchmal nur eine kleine Veränderung darstellt.

Der zweite Grund für die Unzufriedenheit mit Saakaschwili war, dass ein Großteil der Staatsangestellten entlassen wurde. „Zum Beispiel arbeiteten beim Innenministerium zirka 72.000 Personen, was doppelt so viel waren als tatsächlich notwendig. Unter Schewardnadse wurden sie für alle Fälle behalten, damit er sein Regime sichern konnte. All diese von der Regierung Saakaschwili entlassenen Beamten waren unzufrieden.

Der dritte Grund für den Machtverlust war die Veröffentlichung eines Videos, das zeigte, wie Rechtsschutzorgane in georgischen Gefängnissen ihre Vollmachten überschritten. „Ich würde nicht über Folter sprechen, aber das Video zeigte, dass Vollmachten überschritten wurden“, präzisierte Regis Gente. „Das trübte das Vertrauen in Saakaschwili, da die Wähler das Bekenntnis zur Demokratie von Saakaschwili nicht mit seinen realen Handlungen vereinbaren konnten, als sie Menschenrechtsverstöße gegenüber Inhaftierten sahen. Die Menschen verstanden dies als postsowjetische Praxis von Doppelmoral“, erklärte er.

Viertens ging es um wirtschaftliche Faktoren. Im Land gab es keine Korruption und Bürokratie mehr. Alle Hürden für Investitionen waren beseitigt, und die Regierung hielt an der liberalen Idee fest. Doch da Georgien ein sehr kleines Land ist, um mit anderen Ländern zu konkurrieren, war es schwierig. Viele Georgier verließen gerade in der Zeit von Saakaschwili das Land, weil sie keine Arbeit fanden.

Der fünfte Grund ist der verlorene Krieg von 2008. Einige Georgier meinen, dass Saakaschwili Russland provozierte, weshalb es zum Krieg kam. Die Anzahl dieser Leute ist nicht sehr hoch, weshalb man ihre Rolle nicht überbewerten sollte.

Zusammenfassend merkte der Journalist an, dass das Hauptproblem unter der Regierung von Saakaschwili darin bestand, so schnell wie möglich die fast ausweglose Situation mit der Korruption in der Gesellschaft zu überwinden, wobei die Methoden nicht immer demokratisch waren. Jede schnelle Veränderung läuft Gefahr, die Demokratie dafür zu opfern, weil Demokratie Zeit für Diskussionen und Erörterungen braucht. „Eine weitere Tragödie für Saakaschwili war, dass es im Land keine echte Opposition gab. Alle Aktivisten der Zivilgesellschaft, die gegen Schewardnadse kämpften, wurden Minister und Abgeordnete unter Saakaschwili. Es blieb niemand, der die Fehler von Saakaschwili effektiv kritisieren konnte“, ergänzte Regis Gente.

Im Gegensatz zu Georgien besteht die Chance für die Ukraine darin, dass die georgische Revolution nur von einer kleinen Gruppe Menschen getragen wurde, während es in der Ukraine fast das gesamte Volk war. Änderungsinitiativen kommen von unten und die Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle.

„Alle Änderungen kommen nicht von der Elite, sondern vom Volk. Gerade darin besteht die Chance für die Ukraine“, schloss der Journalist.