Die Welt braucht ein neues globales Sicherheitssystem

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Kiew, 2. November 2015 – Die Einwilligung der Ukraine, ihre Nuklearwaffen abzugeben, half nicht dabei, die Welt sicherer zu machen. Die Geschichte der nuklearen Abrüstung in der Ukraine wurde zu einem anschaulichen Beweis dafür, dass in der heutigen Welt Abkommen nicht gelten und das globale Sicherheitssystem praktisch nicht funktioniert. Zu dieser Schlussfolgerung kamen die Teilnehmer der Diskussion zum Thema „Wurde die Welt sicherer, nachdem die Ukraine nuklear abrüstete? 21 Jahre nach dem Beitritt der Ukraine zum Atomwaffensperrvertrag“ im Ukrainischen Crisis Media Center.

„Die Ukraine war seit 1960 ein Atomstaat und stellte Raumfahrttechnik her. Wir hatten das drittgrößte Atomwaffenarsenal auf der Welt“, sagte Wolodymyr Tolubko, Generaloberst, Doktor der technischen Wissenschaft, Professor und von 1990-1994 Parlamentsabgeordneter in der Ukraine.

„Das Hauptargument, das die größten Atommächte der Welt nutzen, damit die Ukraine der nuklearen Abrüstung zustimmt, war, den weltweiten Prozess zur Verringerung der nuklearen Bedrohung auf der Welt und deren Stabilisierung nicht zu blockieren. Diese These war das Kernargument bei den Diskussionen auf verschiedensten Ebenen“, sagte Jurij Kostenko, Leiter der ukrainischen Regierungsdelegation bei den Verhandlungen mit der Russischen Föderation zu Fragen der nuklearen Abrüstung (1992/1993) und Autor des Buchs „Geschichte der nuklearen Abrüstung in der Ukraine“.

Nach seinen Angaben stimmte die Ukraine der nuklearen Abrüstung unter für sie sehr ungünstigen Bedingungen zu. Sie übernahm die Hauptkosten für die Abrüstung und willigte ein, einen Teil ihres Arsenals an Russland abzugeben, statt es zu vernichten. Und die Unterzeichnung des Budapester Memorandums schuf keine „juristische Verpflichtung für militärische Hilfe der Garantiemächte“. Außerdem, so ergänzte der Experte, herrschte unter der Mehrheit der ukrainischen Politiker jener Zeit eine pro-kommunistischen Stimmung, bei der die NATO aus Gewohnheit in erster Linie als Feind gesehen wurde. Deshalb wurde der Vorschlag der USA in Bezug auf eine Kooperation bei der Abrüstung und auf eine weitere strategische Zusammenarbeit ignoriert, was aber der beste Weg zur Abrüstung gewesen wäre, sowie die beste Sicherheitsgarantie.

„Es gab nichts vergleichbares, dass einem Staat die mächtigsten Waffen auf der Welt entzogen wurden. […] Durch die nukleare Abrüstung gab die Ukraine nicht nur ihre „Kernwaffen“ auf, sondern degradierte sich durch diesen Prozess zu einem Drittweltland, für das sich die Welt nicht interessiert“, meinte Jurij Kostenko.

Die Experten waren sich einig, dass die nukleare Abrüstung der Ukraine die Welt faktisch nicht sicherer machte. Heute steht die Weltöffentlichkeit vor größeren Herausforderungen als Anfang der 1990er: allein die Konflikte in Syrien und in der Ostukraine stellen eine enorme Gefahr dar. Letzteres hat deutlich gezeigt, dass das globale Sicherheitssystem faktisch nicht funktioniert.

„Die UNO ist für die Menschheit ein Traum über eine bessere Zukunft. Aber dieser Traum bleibt vorerst ein Traum, denn in Wirklichkeit gilt unter diesem richtigen und schönen „Dach“ das Recht des Stärken. Je stärker ein Staat ist, desto mehr wird er auch respektiert. Dabei ist es eine andere Frage, worin diese Stärke besteht: ob nur militärisch, oder wirtschaftlich, oder in der Möglichkeit, andere Länder zu beeinflussen“, stellte Wolodymyr Ohrysko fest, ehemaliger Außenminister der Ukraine (2007-2009).

Außerdem, so betonte Jurij Kostenko, war die Politik der Russischen Föderation in der gegenwärtigen Realität völlig überraschend. Und die USA konnten trotz ihrer Stärke nicht die Ordnung der ganzen Welt gewährleisten. Sogar eine NATO-Mitgliedschaft ist keine 100-prozentige Garantie, dass die Allianz im Fall einer Aggression militärische Hilfe leistet.

„Solange auf der Welt keine neue Sicherheitsarchitektur geschaffen wird, werden alle Staaten versuchen, an Nuklearwaffen zu kommen und sie werden sie im Fall der Notwendigkeit einsetzen. Und das wichtigste Argument dafür ist die Geschichte der nuklearen Abrüstung in der Ukraine“, sagte Jurij Kostenko.

Wolodymyr Ohrysko und Jurij Ruban, der Leiter des Departements zu Fragen humanitärer Politik bei der ukrainischen Präsidialverwaltung, betonten, dass die Fähigkeit eines Landes, sich zu verteidigen, direkt von dessen Beziehung zu seinen internationalen Partnern und der wirtschaftlichen Situation abhängt. Entsprechend ist die dringendste Aufgabe der Ukraine, ihre Wirtschaftsmacht zu vergrößern.

Nach den Worten von Wolodymyr Ohrysko muss die Ukraine den Wunsch nach Veränderungen zeigen und danach streben, ein zivilisierter Staat zu werden, denn andernfalls wird die Ukraine die Unterstützung anderer Länder verlieren. Unter dieser Berücksichtigung, so betonte Jurij Ruban, ist es sehr wichtig, die Ruhephase im Osten zur Durchführung von Reformen zu nutzen, um den „Appetit der herrschenden Klasse zu begrenzen, damit die Politik, einschließlich der Wirtschaftspolitik, vorhersehbar wird. So kann das Land die notwendigen Ressourcen für die Streitkräfte finden, um zumindest eine eigene Sicherheitsgarantie zu schaffen.“