Irina Bekeschkina bei INALKO: „Zwei Jahre nach dem Maidan – was denken die Ukrainer?“

Am 16. Dezember hielt Irina Bekeschkina, Soziologin und Vorsitzende des Fonds für Demokratische Initiativen, bei INALKO den Vortrag „Zwei Jahre nach dem Maidan – was denken die Ukrainer?“. Die Veranstaltung wurde unter Mitwirkung des Ukrainischen Crisis Media Centers (UCMC) und mit Unterstützung der „Renaissance Foundation“ organisiert. UCMC fasste den Vortrag kurz zusammen:

Maidan

Trotz russischer Propaganda, die die Ereignisse auf dem Maidan als Kampf zwischen Nationalisten und antirussischen Kräften darstellte, meint die überwiegende Mehrheit der Ukrainer (61,6 Prozent), dass der Maidan eine Bewegung für den europäischen Weg der Ukrainer war, sowie gegen Korruption und die Gewalt, die von Staatsschutzorganen gegenüber den Bürgern angewandt wurde.

Gefühl der Identität

Es ist auch interessant, dass die Ukrainer trotz aller schwierigen und manchmal auch tragischen Ereignisse im Land, optimistisch bleiben. Im Juli 2013, in einer relativ „stabilen“ Zeit, als noch Janukowitsch an der Macht war, hielten sich 14 Prozent der Ukrainer für „Optimisten“. Dann, um Juli 2014, nach der Annexion der Krim und während der stärksten Kämpfe in der Ostukraine, sahen sich 24 Prozent als „Optimisten“. Im Juli 2015, als der Konflikt in eine ruhigere Phase überging, machten sich die wirtschaftlichen Probleme bemerkbar – die Zahl sank auf 23 Prozent.

Hoffnung und Sorge

Hoffnung und Sorge stieg seit 2013 trotz des Kriegs bei den Ukrainern wesentlich. 2013 waren 32 Prozent voller Hoffnung und 31 machten sich Sorgen. 2014 meinten fast die Hälfte der Befragten (49 Prozent), dass sie voller Hoffnung sind, aber gleichzeitig nannten 45 Prozent Sorgen. Beide Werte gingen 2015 etwas zurück, auf 44, bzw. 40 Prozent, doch wurde das Niveau von 2013 bisher nicht mehr erreicht.

Nationalgefühl

Wichtig zu erwähnen ist, dass die Ukrainer wegen aller Ereignisse ein Nationalgefühl entwickelten, das über der regionalen Identität lag. 2014 meinten 65 Prozent der Befragten, vor allem Ukrainer zu sein; im Jahr zuvor waren es 50 Prozent. Dabei ist hervorzuheben, dass sich die Befragten aus allen Regionen, einschließlich dem Donbass, mit der Ukraine identifizieren: 39 Prozent der Donbass-Bewohner sehen sich als Ukrainer. Die Umfrage wurde in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten durchgeführt.

Nationalstolz

Zusammen mit Hoffnung und Sorge begannen die Ukrainer, Stolz darauf zu sein, ihrer politischen Nation anzugehören. 2014 fühlten sich weniger als die Hälfte (48 Prozent) stolz, Ukrainer zu sein; 2015 änderte sich der Wert auf 67 Prozent. Auch die Anzahl der Ukrainer, die sich als Patrioten sehen, stieg von 2013 mit 8 Prozent auf 42 Prozent 2015.

Dezentralisierung

Die Frage der Dezentralisierung ist in ukrainischen Medien dauerpräsent. Laut den Umfrageergebnissen unterstützen die meisten Ukrainer (48,7 Prozent) die Idee der Dezentralisierung im Land, während nur 5,9 Prozent für eine Föderalisierung sind.

Außenpolitische Orientierung

Eine Folge des Maidans und des Kriegs im Osten war, dass das Land nicht mehr in eine West- und Ostorientierung geteilt ist. Die überwiegende Mehrheit ist für die EU. Der Krieg im Osten der Ukraine vergrößerte die Akzeptanz der Ukrainer, hypothetisch Mitglied der NATO zu werden. 2012, während der Zeit von Janukowitsch, waren 13 Prozent der Ukrainer für eine NATO-Mitgliedschaft; 2015 stieg ihre Anzahl auf 45,5 Prozent. Allerdings bleibt das Land bei einem möglichen Referendum zu dieser Frage gespalten: im November 2015, wenn ein solches Referendum in naher Zukunft stattfinden würde, wären 91 Prozent im Westen der Ukraine für einen NATO-Beitritt, aber nur 58,5 Prozent im Donbass (in den unbesetzten Gebieten).

Wirtschaftslage

Die Wirtschaft der Ukraine erlebt nicht die beste Zeit. Fast 300 Prozent Abwertung der Landeswährung, über 50 Prozent Inflation, Export- und Importrückgang (20 und 30 Prozent). Die Situation erscheint den Ukrainern weitaus schwieriger als die Weltwirtschaftskrise 2008. Im Dezember 2008 meinten 33 Prozent der Ukrainer, dass sie durch die Krise negative Folgen spüren; 2015 nannten 59 Prozent ernsthafte Schwierigkeiten durch die Situation.

Reformwahrnehmung

Bisher werden die Erwartungen der Bürger durch die Reformen in der Ukraine nicht befriedigt. Fast die Hälfte der Befragten (48,4 Prozent) meint, dass „nichts“ getan wird, während ein Viertel glaubt (24,6 Prozent), dass nur 10 Prozent der notwendigen Reformen umgesetzt wurden. Im Juli 2015 fehlte bei einem Drittel der Ukraine die Hoffnung, dass Reformen stattfinden.

Reformprioritäten

Interessant dabei ist, dass sich die Prioritäten der Ukrainer in Bezug darauf änderten, welche Reformen für die Ukraine wichtig sind. In den vergangenen Jahren waren den Ukrainern sozial-wirtschaftliche Probleme wichtig – sie sorgten sich über ihre Gehälter und die Sozialhilfe vom Staat. Heute steht die Korruptionsbekämpfung im Staat an oberster Stelle (65 Prozent), gefolgt von der Reform der Rechtsschutzorgane (58 Prozent). Erst an dritter Stelle kommen Sozialreformen (40 Prozent).

Aussicht auf einen dritten Maidan

Die Mehrheit der Ukrainer glaubt nicht, dass es bald neue Proteste geben wird. Die höchste Bereitschaft, auf die Straße zu gehen, wurde im Januar 2015 erreicht (40 Prozent), als die Abwertung 400 Prozent erreichte. Aber danach gab es eine makrowirtschaftliche Stabilisierung, die für mehr Ruhe sorgte. Die Mehrzahl der Ukrainer fürchtet sich auch vor neuen Protesten, weil es unter den Bedingungen der Kriegshandlungen zu viele Waffen im Land gibt.

Frieden im Donbass

Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer meint, dass es unmöglich ist, im Donbass auf militärischem Weg Frieden zu erreichen. Nur 14 Prozent glauben, dass man den Donbass mit Gewalt erobern kann; 35 Prozent gaben an, dass man die Situation dadurch lösen kann, indem der internationale Druck auf Russland (durch Sanktionen) verstärkt wird und wenn sich ein normales Leben in den angrenzenden Gebieten zur ATO-Zone entwickelt, um ein positives Beispiel zu werden (29 Prozent). Russisch als offizielle Sprache, die NATO-Mitgliedschaft oder eine Föderalisierung, die von der Russischen Föderation als Schlüssel zur Problemlösung gesehen wird, spielen für die Ukrainer keine Faktoren, um Frieden zu bringen: nur 6-8 Prozent der Ukrainer halten diese Punkte für wichtig.