Der Transformationsprozess wird in der Ukraine 15 Jahre dauern und während dieser Zeit wird Russland zerfallen – Ökonom Bohdan Hawrylyshyn

Der Originalartikel wurde in der Zeitschrift „Nowoje Wrema“ (Neue Zeit) veröffentlicht. Übersetzung ins Deutsche: UCMC

Der bekannte ukrainische Ökonom, Mitglied des Club of Rome und Mitbegründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, berichtete, warum ukrainische Führungskräfte und die Politik unfähig sind, einen Durchbruch zu erzielen, und warum er trotzdem Hoffnung sieht

Bohdan Hawrylyshyn gehört zu den angesehensten Ukrainern auf der Welt. Er wurde in Ternopil geboren, wurde während des Zweiten Weltkriegs vertrieben, erhielt die beste westliche Bildung und wurde zu einem weltbekannten Ökonom. Er lebt heute im Ausland, doch den Löwenanteil seines Wissens, seiner Bemühungen und seines Geldes investiert er in die Ukraine. Hawrylyshyn war Berater von ukrainischen Präsidenten und Ministerpräsidenten, und ist Mitbegründer der internationalen „Renaissance Foundation“, die sich intensiv in der Ukraine engagiert. Außerdem ist er Mitglied der Initiativgruppe „1. Dezember“. Seine eigene Stiftung, der Fond „Bohdan Hawrylyshyn“, vergibt seit 2010 jährlich mehrere hunderttausend Euro zur Entwicklung und Ausbildung ukrainischer Jugendlicher. Gerade die junge Generation wird dabei helfen, die Ukraine umzugestalten und auf Basis erfolgreicher europäischer Staaten ihre Entwicklung zu übernehmen. Der 89-jährige Bohdan Hawrylyshyn kam in die Ukraine, um vor einem jungen Publikum und Personen des öffentlichen Lebens bei einer Konferenz anlässlich des Jahrestags der Ukrainischen Schule für politische Studien zu sprechen.

Die Ukraine genügt und genügte sich selbst. Politisch, wirtschaftlich, sozial-wirtschaftlich. Wir haben alle Naturschätze, die uns das Land gibt. Wir sind ein äußerst talentiertes Volk. Ich war in 89 Ländern. Ich unterhielt mich dort mit vielen Menschen. Ich weiß, was ich vergleiche.

Um einen Staat zu verändern, müssen Politiker über drei Eigenschaften verfügen: Zum einen Patriotismus. Das heißt, dass sie wirklich etwas Gutes für die Ukraine machen wollen. Zum anderen, Kompetenz. Und die dritte Eigenschaft ist Anstand: kein Schmiergeld annehmen, beziehungsweise oftmals auf verschiedene Weise einfach sehr viel Geld verdienen.

Wir haben in der Staatsführung niemanden, der über alle drei Eigenschaften verfügen würde. Es gibt Leute mit ein oder zwei dieser Eigenschaften, aber niemand hat alle drei. Unser erster Präsident [Leonid Krawtschuk] war ein Patriot, aber nicht wirklich kompetent. In dem Sinne, dass er zum Beispiel gar nichts von Marktwirtschaft verstand.

Heute besteht das Problem darin, dass es in der Politik Personen mit diesen Eigenschaften gibt, aber sie bilden zusammen keine kritische Masse. Es gibt Abgeordnete, besonders weibliche, und ein paar Minister. Aber leider bilden sie nicht jene kritische Masse, die für die Beschließung von Gesetzen entscheidend sein kann. Zum Beispiel denke ich, dass Natalija Jaresko oder Sergij Kwit über diese Eigenschaften verfügen. Aber es ist keine kritische Masse im Ministerkabinett. Im Parlament gibt es ein paar Frauen mit diesen Qualitäten. Der Bildungsminister kam zu mir, weil ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass es bei den Hochschulen gar nicht so viele Reformen braucht. Das gesamte System muss umgestaltet werden. Wir haben zum Beispiel 800 Universitäten. Wir brauchen aber nicht so viele. 80 würden reichen. Wir müssen Institute irgendwie an die Universitäten ankoppeln, damit die Universitäten Spezialisten ausbilden.

Die derzeitige Staatsführung spricht sehr viel, aber kann die Ukraine nicht in einen effektiven Staat verwandeln. Was ist aber ein effektiver Staat? Dieser Staat verfügt über vier Komponenten. Erstens, völlige politische Freiheit. Zweitens, ein gewisses Niveau an wirtschaftlichem Wohlstand für die gesamte Bevölkerung. Drittens, soziale Gerechtigkeit bei der Bildung, im Gesundheitswesen und so weiter. Und viertens, eine Koexistenz mit der Natur, der Ökologie und Umwelt. Also keine Umweltverschmutzung und Zerstörung. Diese Komponenten müssen in Einklang mit dem Post-Maidan und unseren Werten stehen. Nicht nur den europäischen. Es ist wichtig, dass auf dem Maidan zuerst der Wert entstand, verantwortlich für seine Mitbürger zu arbeiten. So, wie es die Menschen auf dem Maidan taten. Zum Beispiel die medizinische Versorgung auf dem Maidan. Olga Bogomolez schuf diese medizinische Versorgung nicht, weil es jemand von ihr verlangte, sondern sie tat es aus einem Pflichtgefühl gegenüber ihren Mitbürgern. Als die allerersten [Freiwilligen] in die ATO gingen, war dies auch aus einem Pflichtgefühl gegenüber ihrer Heimat heraus, um ihre Unabhängigkeit zu verteidigen.

Bei uns entstanden diese einzigartigen Werte, und davon gibt es viele auf der Welt. Wir lernen viel von der Welt. Die Welt hilft uns. Im April hatten wir eine Konferenz mit folgenden Fragen: hilft die Welt der Ukraine oder kann die Ukraine der Welt helfen? Ja, sie gibt uns Silber und wir können ihr Gold geben. Das heißt, neue Werte, neue Paradigmen, auf die die Welt übergeht. Wir müssen effektiver zusammenarbeiten, statt konkurrieren. Ein gewisses Maß an Konkurrenz ist notwendig, aber besser ist, wenn man zusammenarbeiten kann.

Was ich dem Präsidenten empfehlen würde? Bevor Petro Poroschenko Präsident wurde, kam er öfters in mein Büro. Ich weiß, dass er ein guter Manager ist. Er versteht etwas von Wirtschaft. Dafür respektiere ich ihn. Heute, als Präsident, hat er ein zu großes Verlangen nach zu viel Macht. Aber ich denke nicht, dass es ihm viel nützen könnte. Er hat seine Ideen und seine Art aufzutreten. Aber, was ich sagen möchte: es war falsch, eine Koalition auf Basis seines „Plans 2020“ zu schaffen. Wie hätte man die Koalition aber sonst bilden sollen? Man hätte Vertreter verschiedener Parteien zusammennehmen sollen, die miteinander reden und sich gegenseitig auf die Finger klopfen, damit klar ist, was wirklich allgemeine Priorität hat, welche Politik gemacht werden muss und welche Werkzeuge dafür notwendig sind. Dann ist eine Koalition effektiv. Sie wissen, dass es nicht so ist.

Die Ukraine wird 15 Jahre brauchen, um sich völlig in einen neuen Staat zu transformieren. Während dieser Zeit wird die Russische Föderation zerfallen und davor wird auch etwas mit Putin passieren, so dass die Krim wieder zur Ukraine zurückkehrt.

Ich war in Donezk und weiß, wie sich dort die Mehrheit der Bevölkerung fühlt. Aber es gab massenweise russische Agenten. Nur wenige [Ukrainer] wollten das wirklich. Dort gibt es sehr dumme, herrschsüchtige Strukturen und eine starke Machtvertikale. Wenn die Menschen dort ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen könnten, würden sie eigene Steuern einführen, eigene Leute wählen, die ihren Wünschen entsprechen. Aber heute wird alles aus Moskau diktiert.