Studienergebnis: „Wer sieht sich als Ukrainer?“

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Kiew, 12. Januar 2016 – Die Ukrainer meinen, dass sich die Gesellschaft veränderte, obwohl sie weniger bereit sind, sich selbst zu ändern. Die Bereitschaft der Menschen, ihre Würde zu verteidigen, nahm wesentlich zu, wobei es den Bürgern dafür an praktischen Instrumenten fehlt. Die Ukrainer nannten auch eine Zunahme der zivilen Aktivitäten, allerdings bleibt die Mehrzahl von ihnen bisher passiv. Dies sind die Hauptergebnisse der Umfrage „Wie sehen wir uns und wer sind wir?“, die von der internationalen „Renaissance Foundation“ in Zusammenarbeit mit dem Fond „Demokratische Initiative“ durchgeführt wurde. Das Studienergebnis stellte die Direktorin des Fonds „Demokratische Initiative“, Irina Bekeschkina, im Ukrainischen Crisis Media Center vor.

Ziel war, zu verstehen, wie sich die Gesellschaft nach dem Maidan veränderte. Das Wesen der Umfrage bestand in der Klärung, wie die Menschen die Änderungen in der Gesellschaft und bei sich wahrnehmen. Und diese Wahrnehmung erwies sich als ambivalent, meinte Olexander Suschko, Vorstandsvorsitzender der „Renaissance Foundation“.

„Die Gesellschaft nimmt die Veränderungen um sich selbst sehr optimistisch wahr. Es besteht sogar eine gewisse Euphorie. Andererseits gibt es bei den Menschen weniger die Bereitschaft, auf diese neue Art zu handeln“, erklärte Olexander Suschko.

Als Irina Bekeschkina die Umfrageergebnisse erläuterte, meinte sie, dass sich bei den Menschen eine optimistische Vorstellung über die Gesellschaft und deren Aktivitäten bildete.

„50 Prozent der Befragten meinen, dass die Bereitschaft der Menschen zunahm, für ihre Rechte einzustehen, und weitere 33 Prozent meinen, dass ihre persönliche Bereitschaft zunahm, für ihre Rechte und Freiheiten einzustehen. Dies ist ein sehr wichtiges Ergebnis der Revolution der Würde“, kommentierte Irina Bekeschkina.

Dabei meinen 50 Prozent der Repräsentanten, dass die Bereitschaft, sich in Gesellschaftsvereinen zu organisieren, angeblich gestiegen sei; aber nur 18 Prozent der Befragten zeigten eine solche Bereitschaft, berichtete die Soziologin. Als wichtigsten Punkt nannte Irina Bekeschkina die Bereitschaft der Bürger, am politischen Leben teilzunehmen.

„43 Prozent meinen, dass diese Bereitschaft in der Gesellschaft gestiegen ist; 12 Prozent verweisen auf eine persönliche Bereitschaft; und 19 Prozent meinen das Gegenteil, dass diese Bereitschaft zurückging“, sagte sie und ergänzte, dass sich dies in der Distanz zwischen Gesellschaft und Politik zeigt.

Die Umfrage ergab auch einen Bruch bei der Frage über die Kontrolle der Regierenden durch die Bürger: 44 Prozent der Befragten meinen, dass diese Beteiligung stieg, aber nur 16 Prozent sind persönlich bereit, die Regierenden zu kontrollieren.

Nach Meinung der Soziologin wurden aktive Bürger noch aktiver, aber es sind noch mehr Menschen erforderlich. Dabei verwies Irina Bekeschkina auf den Vertrauensrückgang gegenüber den Behörden, wobei die Streitkräfte, Freiwillige und Gesellschaftsorganisationen Vertrauen genießen.

„Derzeit bildet sich eine neue Art der Autorität. Wenn die Behörden nicht das leisten können, was von ihnen erwartet wird, sollen es Gesellschaftsorganisationen richten“, fasste Irina Bekeschkina zusammen.

Die Soziologin Viktoria Bryndsa merkte an, dass der Staat von der staatlichen zur gesellschaftlichen Initiative übergeht und dass in der neuen Ukraine gerade die Zivilgesellschaft Entscheidungen treffen soll.

„Das Beteiligungsniveau der Menschen ist bisher sehr gering. Aber diese Entwicklung unterliegt einem gewissen Prozess“, sagte sie.

„Die Leute haben von der Gesellschaft eine bessere Meinung als von sich. Dies ist ein interessantes Phänomen“, sagte auch Olga Ajwasowskaja, die Koordinatorin der Wahl- und Politikprogramme des Zivilnetzwerks „OPORA“.

„Das Vertrauen in das Kollektiv bei aller persönlichen Selbstkritik bewirkt trotzdem Perspektiven“, davon ist Olga Ajwasowskaja überzeugt.

Außerdem sieht sie es nicht als sinnvoll an, die Freiwilligenbewegung zu institutionalisieren und alle Aktivisten in einer Gesellschaftsorganisation zu vereinen. Damit sich die Kultur der Freiwilligkeit in einer breiteren Gesellschaftsschicht ausdehnt, und nicht nur als Reaktion einer äußerlichen Gefahr, ist ein strategisches Vorgehen notwendig, bei der die Medien helfen sollen.

Nach Meinung von Artem Mirgorodskij, Leiter des Reanimationspakets für Reformen, muss die Analysefähigkeit in der Gesellschaft verstärkt werden, sowie der Diskurs unter Gewinnung eines breiten Expertenkreises bei der Erörterung von gesellschaftlich wichtigen Fragen im Staat.

„Der Zivilgesellschaft kommt eine enorm wichtige Rolle zu, die sie in den vergangenen 25 Jahren nicht hatte“, davon ist Artem Mirgorodskij überzeugt.

Igor Kogut, Direktor des USAID-Programms „RADA“, das vom Fond „Osteuropa“ umgesetzt wird, meinte, dass die Gesellschaft keine staatlichen Institutionen ersetzen, sondern sie vielmehr zum Handeln anregen soll. Die Bürger sind bereit, Steuern zu zahlen, aber nur dann, wenn sie vertrauen.

„Wenn heute Freiwillige irgendwelche Funktionen erfüllen und den Staat effektiv ersetzen, so geben die Bürger ihnen Geld. Wenn der Staat effektiver wäre, würden die Bürger wahrscheinlich auch mehr Steuern bezahlen“, meinte Igor Kogut.

Allerdings meinte Oleg Rybatschuk, Vorsitzender und Mitbegründer des „Zentrums UA“, dass die Zivilgesellschaft in vielen Fällen den Staat ersetzen soll, wenn dieser ineffektiv ist.

„In der Ukraine laufen die Veränderungen nicht deshalb, weil sich die Eliten darauf verständigten, sondern weil sie von der Gesellschaft mit Füßen getreten werden. Das ist der prinzipielle Unterschied bei dem ukrainischen Szenario“, erklärte Oleg Rybatschuk.

Dabei merkte er an, dass wenn die Zivilgesellschaft nicht seit Beginn des militärischen Konflikts gehandelt hätte, es die Ukraine nicht mehr geben würde. Korruption ist jetzt keine geringere Bedrohung und hier ist die Energie der Gesellschaft wichtig, diesen Kampf aufzunehmen, meinte Oleg Rybatschuk.

Nach Meinung von Wolodymyr Ermolenko, Direktor des Europaprogramms „Internews-Ukraine“, ist das Thema „Maidan“ für die Welt bereits veraltet. Und das Problem der Ukrainer besteht heute darin, dass wir die Welt fragen, wie man uns helfen kann. Aber man muss fragen, was wir machen und der Welt bieten können. Unter Berücksichtigung dessen, davon ist Wolodymyr Ermolenko überzeugt, ist es notwendig, Initiativen zu unterstützen, die es in anderen Ländern bisher nicht gab.

„Es ist sehr wichtig in den Begriffen von radikalen Innovationen und der Kreativität zu träumen, da auf der Welt immer mehr Ideen geschätzt werden, die es bisher nicht gab“, betonte der Direktor des Europaprogramms „Internews-Ukraine“.

Ewgenij Bystrizkij, ausführender Direktor der internationalen „Renaissance Foundation“ merkte an, dass die Umfrage „Wie sehen wir uns und wer sind wir?“ dabei helfen wird, zu klären, in welche Richtung sich die Zivilgesellschaft weiterbewegen wird.

„Wir werden die Ausarbeitung eines Plans für die Zivilgesellschaft dann unterstützen, wenn er „Fußtritte erteilt“ und er direkt Annahme von Herrschaftsentscheidungen beeinflussen kann, die für die gesamte Gesellschaft wichtig sind“, betonte Ewgenij Bystrizkij.

In diesem Jahr ist die Einführung entscheidender Reformen sehr wichtig. Dabei geht es vor allem um die Reform der Verwaltung und des Staatsdiensts, sowie die Gewinnung neuer Führungskräfte. Wenn dies nicht geschieht, ist keine Bewegung nach vorn möglich, meinte Ewgenij Bystrizkij.

Und die Aufgabe des Fonds ist es, alles zu tun, damit sich die Öffentlichkeit an den Reformen im Land stärker beteiligt, fasste der ausführende Direktor der „Renaissance Foundation“ zusammen.

Präsentation der Studie „Wie wird sich die Gesellschaft der Neuen Ukraine verändern?“ (auf Ukrainisch)