Die gesamte politische Opposition in Russland besteht aus Marionetten

Interview mit Herman Obuchow und Jurij Melnitschuk, beide Vertreter der Opposition, die Russland verlassen mussten. Wir sprachen mit ihnen über die Gründe, weshalb Menschen aus Russland fliehen, sowie über ihre Einschätzung, was in Russland vor sich geht.

Warum sind Sie aus Russland ausgereist und weshalb fliehen Menschen aus Russland? Was hat Sie persönlich dazu bewegt, diese Entscheidung zu treffen?

Jurij Melnitschuk: Nun, dann fange ich wohl mal an, weil Herman bereits seit längerem in der Ukraine lebt. Ich bin auch schon seit einiger Zeit aus Russland weg, da es eine reale Gefahr ist, verhaftet zu werden. Bis zu einem bestimmten Moment wurden mir verschiedene Verwaltungsstrafen auferlegt. Als ich ausreiste, gab es noch keine schlimmen Gesetze. Doch dann wurde bestimmt, dass jemand, der zu einer unangekündigten Kundgebung (aus Sicht der russischen Behörden) geht, mit bis zu 5 Jahren Haft rechnen muss. Ich hatte mit diesem Gesetz noch keine Berührung, aber es bestand große Gefahr, dass man mich ins Gefängnis steckt. So war ich gezwungen, zu gehen. Heute verschärfen sich solche Verfolgungen und damit sind manche Leute von den Behörden gezwungen, das Land zu verlassen.

Können Sie sagen, dass das eine Massenerscheinung ist?

Jurij Melnitschuk: Ja.

Herman Obuchow: Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Massenerscheinung ist. Als ich das Land verließ, wurde ich nicht verfolgt. Aber bereits in jener Zeit war es schwierig, sich mit Oppositionspolitik zu beschäftigen. Ich kam im Juni 2014 nach dem Maidan in die Ukraine. In dieser Zeit standen noch die Zelte. Diesen Prozess (die Flucht von Menschen aus Russland) kann man mit einem Bach vergleichen, der sich nur vergrößert, wenn die Repressionen stärker werden und wenn sich die Wirtschaftslage verschärft. Meiner Meinung nach wird alles nur noch schlimmer.

Sie sprechen über Repressionen. Was denken Sie über die Oppositionellen, die sich noch in Russland befinden? Wie effektiv sind sie und können sie etwas bewegen?

Jurij Melnitschuk: Aus meiner Sicht ist die Opposition derzeit nicht effektiv. Sie ist degeneriert. Russland hatte im Winter 2011/12 die Möglichkeit, die Staatsführung „sanft“ zu ändern. Und diese Möglichkeit wurde verpasst – zielgerichtet verpasst. Das heißt, sie „verpassten“ diese Möglichkeit, wonach viele Leute aus der Opposition enttäuscht waren. Jetzt sind viele Leute gezwungen, Russland zu verlassen. Aber jene Oppositionsvertreter, die blieben, entsprechen der gleichen Opposition, die in der russischen Duma (im Parlament) sitzen, wie zum Beispiel Sjuganow, Schirinowskij und andere. Laut einer neuen Gesetzgebung sollen die Oppositionsvertreter auf der Krim bei den anstehenden Lokalwahlen gewählt werden. Das heißt, diese Leute bereiten sich gerade vor, an den Wahlen in einem besetzten Gebiet teilzunehmen. Ich kann diese Leute nicht „Opposition“ nennen. Sie sprechen über irgendeinen politischen Pragmatismus, aber sie haben überhaupt keine Prinzipien und keine Moral.

Wir hörten von der These „Die Krim ist kein Butterbrot“…

Jurij Melnitschuk: Ja, das sagte Nawalnyj. Sein Mitstreiter Karamursy sagte, dass dies kein Kartoffelsack ist. Chodorkowskij, der 10 Jahre im Gefängnis saß und trotzdem nichts verstanden hat, bereitet sich darauf vor, um den Kaukasus zu kämpfen. Das heißt, sie sind auch Imperialisten und selbst wenn sich die Staatsführung in Russland ändert, bleibt es für die Ukraine gleich. Der russische Staat muss aufgelöst werden und ich scheue mich nicht davor, das zu sagen.

Was denken Sie über die nächste Zukunft? Was kann passieren? Wir sehen, dass Russland wirklich isoliert wird.

Herman Obuchow: Das ist eine sehr traurige Prognose. All das ist offensichtlich mit Wirtschaftsfragen verbunden. Als der Preis für Erdöl in den Keller ging, begannen die russischen Goldwährungsreserven zu schrumpfen. Dabei ist bereits eine Grenze erkennbar, die in ein bis eineinhalb Jahren erreicht wird. Und danach wird es absolut dunkel. Deshalb muss die Staatsführung etwas machen. Und sie schreien schon „Lasst uns wieder mit der Ukraine befreundet sein!“ Aber wie kann man mit jemandem befreundet sein, wenn so viele Menschen, ob Zivilisten oder Soldaten (zwischen 9.000 und 10.000), ums Leben kamen? Wer wird den zerstörten Donbass wieder aufbauen? Er muss von Russland wiederhergestellt werden. Russland muss an Hinterbliebene und Verkrüppelte Entschädigungen zahlen. Das sind mehrere Milliarden Dollar.

Sie meinen, dass der russische Staat demontiert wird?

Herman Obuchow: Vor kurzem veröffentlichte Stratfor, bei dem Dutzende CIA-Agenten arbeiten, die ihr Fach verstehen, einen Bericht, in dem es hieß, dass Russland vor dem Zerfall steht. Und daran wird niemand anderer Schuld tragen als Putin und seine Umgebung, nicht die Opposition.

Heißt das, die Russische Föderation kann in mehrere Staaten zerfallen?

Herman Obuchow: Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Aber zur Zeit gibt es dort keine Opposition. Das ist eine Marionettenopposition. Sie spielen mit der Macht, aber sie verfügen in dem Sinn über keine.

Sie sprachen vor Kurzem über „Versöhnung“, worüber auch ukrainische Medien berichteten. Was meinen Sie mit „Versöhnung“? Ist das überhaupt möglich? Und wer hat davon einen Vorteil, wenn dieses Wort in den Medien auftaucht?

Jurij Melnitschuk: All diese Worte, die im Rahmen eines hybriden Kriegs auftauchen, haben ihren Ursprung im Kreml. Das ist für mich völlig offensichtlich. Ich vermute, dass durch solche Worte die Menschen noch stärker darüber streiten, was vor sich geht. Mit dieser „Versöhnung“ kann ein Grund für einen anderen Ansatz vorbereitet werden. Man versucht vielleicht, die Situation zu entschärfen. Aber ich würde den Menschen nicht raten, sich in die Arme zu werfen. Ich richte mich nach dem Prinzip, dass alles, was vom Kreml kommt, falsch läuft. Ich würde dazu raten, das Thema zu ignorieren. Wurde es einmal eingebracht, heißt das, dass es der Kreml und diese Verbrecherbande braucht.

Herman Obuchow: Ja, dem stimme ich zu. Der Kreml sucht nach einem Ausweg aus der Sackgasse. Das heißt, sie versuchen, ihr politisches Überleben und ihr eigenes Wohlergehen zu verlängern, sowie ihr Vermögen und ihre Macht zu sichern. Aber ich glaube, dass mindestens 5 Jahre (für eine Versöhnung) notwendig sind. Ich denke, dass in 5 Jahren in Russland enorme Veränderungen beginnen. Das zu begreifen, wird durch den Bauch (Hunger) kommen. Dann wird sich die Situation in Russland „klären und begriffen“. Wenn sich die Einkaufsregale leeren, wenn man kein Geld mehr hat, um grundlegende Leistungen zu bezahlen, dann werden die Menschen verstehen, wohin sie geführt wurden.

Haben Sie eigentlich gerade den Status von politischen Flüchtlingen?

Jurij Melnitschuk: Ich reichte in der Ukraine den Antrag ein, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden. Ich habe noch die russische Staatsangehörigkeit.

Herman Obuchow: Ich habe zwei Staatsangehörigkeiten – eine amerikanische und eine russische. Ich war in der UdSSR im Lager und erhielt danach eine amerikanische Staatsangehörigkeit. Aber später bestanden russische Diplomaten darauf, dass man ehemaligen politischen Häftlingen wieder die russische Staatsangehörigkeit gibt. Ich denke nur, dass man in der Ukraine weit mehr machen kann als in Russland.

Jurij Melnitschuk: Ich möchte ergänzen, dass wenn zu Ihnen Menschen aus einem Aggressorstaat kommen, so muss man dies nutzen.

Aber fliehen Menschen massenweise?

Jurij Melnitschuk: Nein, nicht massenweise. Die Ukraine ist nicht unbedingt ein Wunschland, wohin man fliehen will. Aber wenn Leute hierher fliehen, heißt das, dass sie dazu gezwungen wurden.

Originalinterview: HromadskeTV