Die Ukraine kann der Krim und dem Donbass eine Integrationsstrategie bieten, die attraktiver ist als die „Russische Welt“ – Experten

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Kiew, 10. Februar 2016 – Die Ukraine hat keine klare Strategie in Bezug auf die Zukunft der vorrübergehend besetzten Gebiete. Und bevor man auf die Frage antwortet, was mit dem Donbass passieren soll, ist es notwendig zu klären, welchen Weg die Ukraine gehen wird. Diese Meinung vertraten Personen des öffentlichen Lebens und Experten während einer Diskussion im Ukrainischen Crisis Media Center.

Mykhaylo Winnizkij, Dozent an der Kiewer-Mohyla Akademie und an der Wirtschaftsschule NaUKMA, meinte, dass die Hauptaufgabe nicht nur die Gebiete sind, sondern auch die Menschen, einschließlich jenen, die in den besetzten Gebieten leben und die Ukraine nicht wahrnehmen. Im Donbass verstehen viele Bewohner die Ukraine nicht als Einheit und sehen ihre Zukunft nicht innerhalb dieses Staates. Hier zog Mykhaylo Winnizkij Parallelen mit dem „Quebec-Separatismus“, als sich Quebec von Kanada trennen wollte. Allerdings gab es dort, im Unterschied zum Donbass, keine dritte, ausländische Partei in dem Konflikt. Nach Angaben des Dozenten laufen internationale Verhandlungen darauf hinaus, dass der Donbass ukrainisch sein soll. Aber die Menschen im Donbass sollen in erster Linie zustimmen, dass sie Teil der Ukraine sein wollen. Hinzu kommt der Wunsch, auf den Donbass „zu hören“, wobei die Menschen versuchen, für sich irgendwelche Sonderrechte auszuhandeln.

„Und die Erfahrung von Kanada zeigt, dass die Separatistenbewegung aufhörte, nachdem der übrige Teil von Kanada meinte: Wenn sie unabhängig sein wollen, dann sollen sie das auch sein. Danach verlor die Erpressung der Separatisten relativ schnell ihren politischen Zweck“, sagte Mykhaylo Winnizkij.

„Wir sollten zumindest darüber nachdenken, ob wir den Donbass zurück haben wollen. Und wenn ja, ist es notwendig, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen und ob wir Ausschreitungen und Erpressungen zulassen, die wir noch vor dem bewaffneten Konflikt sahen“, meinte der Dozent von der Kiewer-Mohyla Akademie.

„Unsere Strategie muss darauf basieren, dass es eine gewisse Zeit braucht, um sich wieder zu versöhnen. Das ist wichtig. Und danach braucht es eine Entscheidung von beiden Seiten, dass wir uns als Subjekte gemeinsam auf gleichberechtigte Bedingungen einigen. Und wenn dies misslingt, sich auf diese gleichberechtigten Bedingungen zu einigen, ist es auch besser, sich nicht zu einigen“, meinte Mykhaylo Winnizkij.

Der orthodoxe Priester Georgij Kowalenko meinte, dass die Lösung des Konflikts im Donbass auf grundlegenden Prinzipien wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Dialog basieren soll. Das Schicksal des Donbass soll seiner Meinung nach von allen Ukrainern entschieden werden. Dazu muss man auf die Meinung der Binnenflüchtlinge hören, die in die freien Gebiete geflohen sind.

„Und nicht nur auf jene, die heute mit Unterstützung der russischen Propagandamaschine angeblich im Namen des Donbass sprechen. Ohne Versöhnung ist fast kein Dialog möglich. Es geht derzeit nur um eine Waffenruhe und den Austausch von Gefangenen“, meinte der Priester.

Er merkte an, dass es heute wichtig ist, Akteure zu finden, die beide Seiten versöhnen können.

„Leider sehen wir heute in den Gebieten von Donezk und Luhansk Probleme mit der Gewissensfreiheit und einer interkonfessioneller Feindschaft. Es schmerzt, dass die Kirche nicht als Vermittler oder Friedensstifter auftreten kann“, sagte Georgij Kowalenko.

Andrij Dlygatsch, Generaldirektor bei der „Advanter Group“, meinte, dass der Konfliktfaktor im Donbass heute nicht dazu verwendet wird, die Ukraine zu entwickeln, sondern als Entschuldigung, weshalb im Land keine systemischen Änderungen möglich sind.

„Im Gegenteil, der Ostfaktor wird als Entschuldigung dafür genutzt, weshalb im Land keine Reformen und keine reale Modernisierung möglich ist“, erklärte er.

Das heißt, die Ukraine wird nicht durch irgendwelche Minsker Vereinbarungen gerettet, falls das korrupte und oligarchische System der Staatsführung bleibt. Der Krieg wird erst dann enden, wenn die Ukraine systemische Reformen durchführt. Der Experte stellte fest, dass es bisher keine Strategie zur Lösung der Frage im Donbass und auf der Krim gibt.

„Wir können der Krim und dem Osten eine Strategie zur Rückkehr in die Ukraine anbieten, wenn die Ukraine mit ihrer Gesellschaft und Wirtschaft als Land attraktiver sein wird als das, was die „Russische Welt“ zu bieten hat“, davon war Andrij Dlygatsch überzeugt.

„Bevor man auf die Frage „Was soll man mit dem Donbass machen?“ antwortet, muss man die Frage klären „Was soll mit der Ukraine passieren?“, meinte der Dozent und Unternehmer, Walerij Pekar.

Er nannte das Beispiel von Deutschland: dort wurde die Wiedervereinigung möglich, als Westdeutschland stark und mächtig wurde.

„Menschen wollen dorthin, wo es ein attraktiveres Modell gibt. […] Deshalb müssen wir die Ukraine reich, sowie politisch, militärisch und wirtschaftlich stark machen. Dann kann man dem Donbass anbieten, sich uns anzuschließen. Und dann kann man sich vielleicht abgrenzen. Möglicherweise müssen dann viele Menschen von dort flüchten“, sagte Walerij Pekar.

Dabei erinnerte er daran, dass im Fall Deutschlands dieses „Hebelprinzip“ funktionierte.

„Es ist genauso viel Zeit notwendig, sich wieder zu vereinen, wie notwendig war, sich zu trennen. Das heißt, wir lebten 70 Jahre unter der Sowjetherrschaft und nun brauchen wir vielleicht 70 Jahre, davon loszukommen. Es wird weniger, wenn wir es sehr wollen“, meinte Walerij Pekar.

„Die Ukraine befindet sich im Fahrwasser von Ideen und Vorschlägen, die nicht durch das Land vorgeschlagen werden, sondern von Russland und westlichen Kollegen“, meinte Oleksander Tkatschenko, Generaldirektor bei 1+1 Media. „Faktisch ist die Geschichte mit der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen verbunden, in denen ein Datum steht. Ein Datum zur Annahme von Verfassungsänderungen, die gemacht werden müssen, ohne öffentlich diskutiert zu werden und ohne Rücksicht auf die Interessen der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit.“

Nach Meinung von Oleksander Tkatschenko ist es unmöglich, das weitere Schicksal des Donbass ohne öffentliche Diskussion zu lösen. Dabei merkte er an, dass es wichtig ist, nach einer Strategie zur Lösung des Konflikts zu suchen. Und dabei sei zu berücksichtigen, eine gemeinsame Sprache mit den Leuten zu finden, die andere Werte vertreten, was sehr schwierig sein wird.

Joseph Sissels, ausführender Vizepräsident des Kongresses der Nationalgemeinden in der Ukraine, vertrat die Meinung, dass der derzeitige militärische Konflikt noch lange andauern wird und dass wir lernen müssten, damit zu leben.

„Wir haben es mit zwei zivilisatorischen Ausbildungen zu tun, die man auf keinen gemeinsamen Nenner bringen kann. Es sind einfach verschiedene Wertesysteme“, erklärte er.

Dabei könnte man in Frieden Leben, wenn man sich nicht einander die Werte aufzwängt. Doch seit Gewalt ins Spiel kam, ist es nicht mehr möglich, so weiter zu leben, stellte er fest.

„Im Gebiet von Donezk und Luhansk sind es nicht Separatisten, denn das wäre zu oberflächlich. Es ist auch nicht wie in Kanada, sondern eine Mischung. Und der Hauptfaktor ist, dass Russland anwesend ist. Ich betrachte sogar jene Leute, die im Donbass aktiv gegen die Ukraine auftreten, nicht als Separatisten, sondern als Kollaborateure“, erklärte der Vizepräsident des Kongresses der Nationalgemeinden in der Ukraine.

Joseph Sissels sieht für die nächsten Jahrzehnte keine Chance einer Wiedervereinigung, aber auch keinen Beitritt des Donbass zu Russland.

„Die wahrscheinlichste Entwicklung ist Ungewissheit, was für die Ukrainer charakteristisch ist“, meinte er. So kann der Konflikt noch Jahrzehnte dauern, solange keine neue Generation heranwächst, die daran gewöhnt ist, wie zum Beispiel in Transnistrien oder Abchasien zu leben. Deshalb gestand Joseph Sissels, dass er das Gefühl hat, dass sich der Donbass und die Krim von Jahr zu Jahr weiter entfernt. Außerdem glaubt er nicht daran, dass dieser Konflikt zu einem eingefrorenen wird.

„Bei uns herrscht Krieg und die Kriegstreiber sitzen in Russland. Und dieser Krieg wird solange dauern, wie ihn Russland braucht, um die Kräfte in der Ukraine abzulenken und sie aufzubrauchen. Russland will nicht, dass wir uns in Richtung Westen bewegen“, meinte der Experte.

Der verdiente Ökonom der Ukraine, Oleksander Paschawer schlug die Gründung einer Art unabhängigen Enklave auf der Krim und in den Gebieten von Donezk und Luhansk vor, vorbehaltlich, dass sich die Ukraine durch ihre Armee an den Grenzen zu ihnen absichern kann.

„Dieser Vorschlag hätte eine kolossale Auswirkung bei den Verhandlungen mit internationalen Partnern und Russland“, meinte er.

Das heißt, der Ökonom schlägt vor, über einen legitimen Weg für diese Regionen nachzudenken, damit die Lokalbewohner nicht die Entwicklung des Landes beeinflussen können, einschließlich mit Hilfe von Abstimmungen in diesen Regionen.

„Wenn wir sie in die Ukraine aufnehmen, erhalten wir eine Opposition zu allem, was die Ukraine in Bezug auf eine Konsolidierung braucht, sowie auf liberale Reformen. Dies wird es sehr schwer machen und kann den Prozess zur Modernisierung der Ukraine lahm legen“, meinte Oleksander Paschawer.

Said Ismagilow, Mufti der geistigen Verwaltung der ukrainischen Moslems „Umma“ gab die Meinung der Bewohner in den besetzten Gebieten des Donbass wieder. Zum einen soll sich die Ukraine nach seinen Worten nicht auf irgendeinen Austausch ihres Territoriums einlassen.

„Wir können uns nicht den Luxus erlauben, die Gebiete aufzugeben. Wenn wir uns von den besetzten Bereichen im Donbass trennen, verlieren wir die Krim endgültig und wir schaffen im Bewusstsein der Leute einen Präzedenzfall mit gefährlicher Wirkung, denn Separatisten in jeder Region werden verstehen […], dass man von der Ukraine unter bestimmten Umständen früher oder später jedes Gebiet abtrennen kann“, sagte der Mufti der geistigen Verwaltung der ukrainischen Moslems. „So wird die Ukraine in einer Parade des Separatismus ersticken.“

Dabei stimmte er zu, dass sich in der Ostukraine viele wie bei einer Blockade „einkapseln“, so wie es schon früher war. Diesen Menschen ist es nicht besonders wichtig, wer regiert. Deshalb muss die Ukraine Bedingungen schaffen, damit die Bewohner in diesem Staat leben wollen.

„Der Hauptteil muss gefüttert werden. Man muss sich um ihn sorgen und den Menschen Arbeit geben“, sagte Said Ismagilow.

Er empfahl auch, die Korruption zu bekämpfen und Schuldige zur Verantwortung zu ziehen, die in dem Konflikt verschiedene Verbrechen begingen. Weil man bisher hier in Kiew alles mit Geld lösen konnte, werden sich diese Menschen dort frei fühlen.

Die Experten kamen zu dem Schluss, dass das undurchsichtige Spiel und die Geheimdiplomatie ohne großen öffentlichen Dialog weitergehen wird. Doch mit dieser Politik kann die Ukraine nicht leben. Die Politik soll ehrlich und offen für die Menschen sein, und sie sollen ihrerseits Bescheid wissen und das Recht haben, ihre Meinung zu sagen.

„Das ist auch eine Änderung, die der Maidan in unser Leben brachte“, fasste Waleriej Pekar zusammen.