Balcerowicz: Die Ukraine ist ein Bollwerk für eine neue, bessere Ordnung in Europa

Der legendäre polnische Reformer über die ukrainische Wirtschaftspolitik, Oligarchen, die Sanktionen gegen Russland unter Putin und das Wesen politischer Führung

Vor knapp einem Monat wurde der bekannte Ökonom und Politiker, Leszek Balcerowicz, vom ukrainischen Präsidenten, Petro Poroschenko, in das Ministerkabinett berufen. Er gilt als einer der Architekten für die erfolgreichen Reformen in Polen. Balcerowicz ist heute Chef einer strategischen Beratergruppe, die mit der Regierung von Grojsman zusammenarbeitet. In einem Interview mit LIGA.net sprach der polnische Reformer mit seiner ihm eigenen Klarheit und Selbstironie über die Kernaufgaben der ukrainischen Wirtschaftspolitik, sowie darüber, warum er zustimmte, in der Ukraine zu arbeiten. Das Originalinterview von LIGA wurde in einer gekürzten Version von UCMC veröffentlicht.

Was ist Ihre praktische Aufgabe in der Ukraine und welchen Einfluss haben Sie?

Zum einen bin ich nicht allein. Ich habe ein Team. Ich schlug meinem Freund Ivan Mikloš vor (Anm. der ehemalige Vizeministerpräsident der Slowakei), ein Team zu bilden. Derzeit besteht unser Team aus etwa zehn Personen, darunter auch Kollegen aus der Ukraine, wie zum Beispiel Viktor Pynzenyk, ebenfalls ein Reformer. Außerdem gibt es Kollegen aus Polen, wie Jerzy Miller, der mein Stellvertreter im Finanzministerium war und dann von 1997 bis 2000 polnischer Innenminister.

Zum anderen wollen wir sofort mit der Arbeit beginnen. Wir arbeiten mit der neuen ukrainischen Regierung so zusammen, dass das Programm des Ministerkabinetts mit Entscheidungspaketen begleitet wird. Meine Erfahrung zeigt, dass eine komplexe und schnelle Reformstrategie besser ist als eine langsame und schrittweise. Es ist einfacher, komplexe Entscheidungen zu treffen. Und je früher komplexe Entscheidungen getroffen werden, desto schneller werden Ergebnisse sichtbar.

Haben Sie für sich eine Deadline definiert, wann Sie ihre Arbeit in der Ukraine aufgeben? Sagen wir, wenn Sie in einem Jahr keine Ergebnisse sehen, oder wenn man nicht auf Ihre Ratschläge hört?

Darüber wollte ich nicht öffentlich sprechen. Aber da Sie schon einmal fragen, kann ich versichern, dass ich nicht einfach so aufgeben werde, wenn es über wirklich wichtige Dinge geht. Und die Ukraine ist mit Sicherheit ein wichtiges Land für ganz Europa. Glauben Sie mir, ich bin sehr daran interessiert, bei den Reformen in der Ukraine zu helfen. Natürlich gefällt mir Kiew sehr. Die Stadt ist wunderschön. Aber ich bin nicht hier, um die Schönheit zu genießen, sondern um bei realen Änderungen in der Ukraine zu helfen.

Die Ukraine befindet sich gerade in einer schwierigen Situation: da gibt es den Faktor Putin und sein militärisches Engagement. Was bedeutet dies Ihrer Meinung nach für die ukrainischen Reformer?

Mehr zu reformieren! Ich kenne keine andere Lösung. Man muss die Ukraine stabilisieren. Und es gibt keinen anderen Weg, außer durch Reformen.

Sicher, die Ausgangsbedingungen waren in der Ukraine vor zwei Jahren äußerst kompliziert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens fehlten nach 1991 radikale und komplexe Reformen. Wäre die Ukraine zwischen 1992 und 1999 den polnischen Weg mit radikaleren Reformen gegangen, wäre der Lebensstandard in der Ukraine heute um ein vielfaches höher. Ich will nicht sagen, dass die Ukraine die ganzen Jahre lang nichts getan hat. Es gab gewisse Reformen. Aber sie reichten nicht aus.

Das zweite ist das Erbe von Wiktor Janukowitsch. 2013 begann in der Ukraine eine Rezession. Janukowitsch führte eine expansive Fiskalpolitik auf Kosten der Zukunft des Staates ein, wobei wieder Reformen fehlten. Ein zusätzlicher Faktor war der Preisverfall [auf internationalen Märkten] für ukrainische Hauptexportwaren.

Und Drittens gibt es die russische Aggression – nicht nur militärisch, sondern hauptsächlich wirtschaftlich: die Blockade für ukrainische Exporte von 2014. Man muss sich eingestehen, dass die Rezession in der Ukraine nicht durch die Politik der neuen ukrainischen Staatsführung entstand, sondern eine direkte Folge der Moskauer Maßnahmen war. Dies fügte der Ukraine enormen Schaden zu. Zusammengefasst: jetzt gibt es keinen anderen Weg außer Reformen.

Sind Ihrer Meinung nach die Sanktionen des Westens gegen Russland effektiv?

Es ist sehr wichtig, dass die Sanktionen aufrecht erhalten werden. Wenn sie aufgehoben würden, wäre es eine Billigung der Aggression. Das ist indiskutabel. Die Sanktionen müssen verlängert werden. Die stärkste Sanktion gegen Russland wäre ein radikaler Preisverfall bei Energieträgern.

Wie schätzen Sie die Stimmung in einzelnen Ländern der EU ein, wo es heißt, dass man die Sanktionen lockern müsse, damit die russische Wirtschaft nicht endgültig zerstört wird?

In Europa gibt es verschiedene Meinungen. Aber ich möchte wiederholen, dass dies eine prinzipielle Frage ist. Wenn es eine Aggression gibt, müssen Sanktionen sein. Und erst wenn die Aggression aufhört, können die Sanktionen aufgehoben oder gelockert werden. Und die schwierige Wirtschaftslage in Russland ist heute hauptsächlich das Ergebnis der russischen Wirtschaftspolitik, die sich vom Export von Naturschätzen abhängig machte. Die Wirtschaftsstruktur von Russland ist heute wie die von Nigeria. Und dagegen hilft nichts anderes als liberale Wirtschaftsreformen.

Was kann man mit den ukrainischen Oligarchen machen? Die oligarchischen Verflechtungen mit der ukrainischen Politik sind eng: sie kontrollieren Parlamentsfraktionen und Fernsehkanäle. Ist es eine aussichtlose Situation?

Man muss vor allem betrachten, wo es Privilegien gibt. Das Beseitigen dieser Privilegien wäre ein richtiger Schritt. Für mich besteht das Problem mit den Oligarchen darin, dass es Menschen sind, die durch ihre politischen Kontakte reich werden und entsprechend diese Kontakte nutzen. Und mir scheint, dass diese Definition in der Ukraine zu breit benutzt wird. In Polen sagten wir früher auch, dass wenn jemand reich ist, er ein Oligarch sei. Aber war Steve Jobs ein Oligarch? Oder ist Bill Gates ein Oligarch? Diese Leute erhielten ihren Reichtum unter Konkurrenzbedingungen und dank ihrer Talente. Auf der anderen Seite bekam der reichste Mann auf dem Planeten, der Mexikaner Carlos Slim, seinen Reichtum durch politische Beziehungen und Monopole. Man muss die Monopole brechen und die politischen Verbindungen lösen. Dazu muss die Konkurrenz gestärkt werden. Und je früher dies gemacht wird, desto schneller wird das Phänomen mit den Oligarchen kein Problem mehr für die Ukraine darstellen.

Was ist Ihr persönlicher Eindruck von unserem Präsidenten? Ist er bereit, das umzusetzen, was Sie ihm raten?

Darüber kann ich nicht ausführlich sprechen. Aber bisher hatte ich bei den Treffen mit Ihrem Präsidenten einen sehr guten Eindruck. Ich habe keine Zweifel, dass er die Hauptprobleme versteht und welche Entscheidungen die Gesellschaft von ihm erwartet.

Und ich möchte ergänzen, dass sogar vor dem Hintergrund der Rezession, die durch die Wirtschaftsblockade von Russland hervorgerufen wurde, sehr viel passiert ist. Sie hatten keine Armee, heute gibt es eine. Die Ukraine war im Energiesektor von Russland abhängig: früher wurden fast 40 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland importiert; in diesem Jahr werden es fast Null. Damit wird die Unabhängigkeit der Ukraine gefestigt. Es wurde eine enorme Diversifikation im Außenhandel eingeführt. Man versteht, dass dies in vielerlei Hinsicht eine Zwangsmaßnahme wegen der russischen Blockade war. Aber heute exportiert die Ukraine mehr in andere Länder. Die Ukraine gewinnt neue und für sie ungewöhnliche Märkte. Das Land vermied eine finanzielle Katastrophe. Und obwohl es noch sehr viel im Ausgabenbereich zu tun gibt, könnte alles viel schlimmer sein. Sie standen vor einem Zusammenbruch des Bankensystems. Das war real. Aber das Team der Nationalbank handelte professionell. Die Privilegien der Oligarchen schwinden und die Reform von Naftogaz ist im Gange.

Ja, es ist normal, dass, wenn sich die Situation im Land verschlechtert, die Leute die Regierung dafür verantwortlich machen. Man muss von der Regierung Reformen fordern, damit bin ich absolut einverstanden. Allerdings muss man dies nüchtern betrachten und auf das schauen, was getan wurde. Und um das zu bewerten, braucht es mindestens noch zwei Jahre.

Die ukrainische Regierung unterstützt die Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds, aber wenn alle Punkte erfüllt werden, werden die nächsten Wahlen von Populisten gewonnen. Welche Lösung gibt es dafür?

Man muss das relativieren. Stellen wir uns vor, dass die Ukraine das Budget nicht stabilisiert und keine Liberalisierung der Wirtschaft durchführt und die Monopole nicht bricht und keine Reform im Öl- und Gassektor umsetzt… Wird es dem Land dann besser gehen? Nein, es wird ihm schlechter gehen. Wenn es keine Reformen gibt, wird sich die Situation im Land nur verschlimmern. Und, glauben Sie mir, die Blockade von Reformen ist gerade das, was Populisten in Wirklichkeit wollen. Das Fehlen von Reformen bietet ihnen einen Nährboden und eröffnet Populisten neue Möglichkeiten zur endlosen Kritik.

Deshalb sage ich, dass die Ukraine schnelle und komplexe Reformen braucht. Die Chancen zum Erfolg sind dabei viel größer als der Weg von hinausgezögerten Reformen. Wenn die Reformen verschoben werden, gibt es insgesamt keinerlei Erfolgschancen.

Was können Sie der neuen Regierung empfehlen, wenn Sie die Fehler der Vorgängerregierung betrachten?

Die Regierung von Arsenij Jazenjuk unternahm sehr viel. Ich weiß nach meiner Erfahrung, wie schwer es ist, diese Aufgaben zu bewältigen, vor der seine Regierung stand. Es ist sehr wichtig, das Niveau der politischen Kultur in der Ukraine zu verbessern. Es sollte weniger Beleidigungen geben und nicht so aggressiv sein. Gerade mit dieser Position versuche ich, mit allen demokratischen Politikern in der Ukraine zu arbeiten, einschließlich mit der neuen Regierung. Unser Schlüssel zum Erfolg ist ein [gemeinsames] Programm und dessen praktische Umsetzung. Dafür sind Konsolidierungen notwendig.

Ihre politische Vergangenheit zeigt, dass ein Reformer seine Popularität und seine politische Zukunft opfern muss. Meinen Sie, dass die führenden ukrainischen Politiker von heute dazu bereit sind?

Ein Reformer muss sich nicht opfern, aber er soll dazu bereit sein, wenn es notwendig ist. Reformen beinhalten natürlich das Risiko, zum Opfer zu werden. Aber wenn es keine Reformen gibt, verliert ein Politiker sowieso. Wenn man Reformen durchführt, gibt es viele Gruppen dagegen. Aber wenn man nichts macht, sind alle gegen einen.