Zeit für neue Allianzen

Deutschland und Frankreich wollen nach einem Brexit eine noch tiefer integrierte EU schaffen, die Kurs auf eine Allianz mit Russland nimmt. Doch die nordeuropäischen und osteuropäischen Staaten werden sich an Großbritannien und den USA orientieren, meint der ukrainische Politikexperte Roman Rukomeda. Die unterschiedlichen Wege in Europa beschreibt er in einem Beitrag für die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN. Eine Übersetzung des Ukraine Crisis Media Center.

Nach zwei Jahren Feuer und Blut in der Ukraine, an der östlichen Grenze der Europäischen Union, und zwei Jahre nach dem Bruch aller Grundregeln der internationalen Beziehungen und des bestehenden Systems der globalen Sicherheit, ist nun der geopolitische Raum der westlichen Welt in Bewegung geraten. Grund dafür ist nicht das Blut der Ukrainer, das bei der Verteidigung Europas gegen die neue Ankunft der russischen Horde vergossen wird. Grund ist ein neuer geopolitischer Brand, diesmal im Westen Europas. Der Brexit, das Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der EU, ist zum Eisbrecher in der etablierten europäischen Politik geworden, die nicht in der Lage ist, angemessen auf die dringendsten Herausforderungen Europas in diesem Jahrhundert zu reagieren.

Aber am interessantesten ist nicht so sehr das Ergebnis des Referendums, sondern die Reaktion der wichtigsten EU-Staaten auf den Brexit. Anscheinend haben Deutschland und Frankreich und einige andere Länder des alten Europa auf eine Möglichkeit gewartet, die britische Präsenz in der EU loszuwerden, um wieder eine neue Periode einer deutsch-französischen Dominanz auf dem europäischen Kontinent zu etablieren – sich stützend auf russische Ressourcen.

Dafür gibt es folgende Anzeichen: Der Versuch Deutschlands, Großbritannien mit einem Aufbauschen des Separatismus in Schottland zu schwächen. So hat zum Beispiel der Vorsitzende des EU-Ausschusses des Deutschen Bundestags und Mitstreiter von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Gunther Krichbaum, unmittelbar nach dem britischen Referendum erklärt, Deutschland und die Europäische Union würden einen Beitritt Schottlands zur EU begrüßen, sollte das Land entscheiden, unabhängig zu werden. Berlin hat wahrscheinlich sein Bayern vergessen, das externe Akteure, was Separatismus angeht, durchaus als Gegenkarte einsetzen können.

Aufmerksamkeit verdient auch der “blitzartige” deutsche und französische Plan zur Reform der EU, der eine tiefe Integration der Mitgliedsländer der Europäischen Union vorsieht, darunter die Aufgabe der nationalen Armeen und Geheimdienste, die vollständige Integration der Gesetzgebung und des Steuersystems sowie die Übertragung der Migrationspolitik und Grenzkontrolle an ein einziges Zentrum. In Wirklichkeit ist ein solches Projekt nichts anderes als der alte Plan Deutschlands, erneut seine Dominanz in Europa zu errichten, und nichts anderes als ein grundlegender Schritt, die Bedeutung eines globalen geopolitischen Subjekts zu erreichen. Recht haben die ukrainischen Experten, die sagen, dass sich Berlin längst auf ein solches Szenario vorbereitet hat. Das erklärt übrigens die völlig fehlende Bereitschaft deutscher Beamter und Politiker, ernsthaften Druck auf Putin auszuüben, mit dem Ziel, seine Politik gegenüber der Ukraine und Europa insgesamt zu ändern.

Interessant ist, dass die vier Visegrad-Länder es abgelehnt haben, Statisten in einem Transformationsprozess der alten gesamteuropäischen EU hin zu einer neuen deutsch-französischen zu sein. Unter anderem erklärte der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek, dass die Visegrad-Länder bezweifeln würden, dass die deutsch-französischen Vorschläge für eine erhebliche Vertiefung der “politischen Union” in der EU überhaupt relevant sind. Besorgnis riefen auch die strengen Vorschläge für eine gemeinsame Sicherheitspolitik hervor.

Die unterschiedlichen Ansichten über eine gemeinsame europäische Zukunft zwischen den meisten osteuropäischen EU-Mitgliedern einerseits und dem alten Europa andererseits geben zum Beispiel Grund zur Annahme, dass es die frühere Geschlossenheit in den Reihen der EU nicht mehr geben wird. Wahrscheinlich wird Deutschland zusammen mit Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden und einigen anderen europäischen Ländern versuchen, einen noch tiefer integrierten auf Berlin und Paris ausgerichteten Block zu schaffen. Ein wichtiges Merkmal dieses Blocks wird der Kurs auf eine Allianz mit Putins Russland sein, ungeachtet dessen, dass der Kreml jegliche Spielregeln ablehnt.

Die osteuropäischen und nordeuropäischen Staaten werden versuchen, ein eigenes Einfluss-Zentrum innerhalb der heutigen EU zu schaffen (obwohl man logischerweise davon ausgehen muss, dass die internen Regeln der EU bald geändert werden), in dem Polen, Schweden, Litauen und Rumänien als Anführer auftreten werden. Diese Staatengruppe wird sich an Großbritannien und den USA sowie an deren Militärpotenzial zur Abschreckung Russlands orientieren, aber auch einen zwischen Berlin und Moskau in “geopolitischer Ekstase” betriebenen Bund blockieren. Für die Ukraine ist diese Staatengruppe, wenn sie klare Formen annimmt, die beste außenpolitische Allianz mit langfristiger Perspektive.

Übrigens will man schon bald auf dem Wirtschaftsforum im polnischen Krynica vorschlagen, eine interparlamentarische Versammlung der Visegrad-Länder (Tschechische Republik, Polen, Ungarn, Slowakei) zusammen mit Rumänien und der Ukraine zu bilden. Diese Idee hat Zukunft, obwohl Länder wie Ungarn und die Slowakei derzeit eine sehr loyale Außenpolitik gegenüber Russland betreiben.

Interessant ist auch die Erklärung des polnischen Außenministers Witold Waszczykowski, dass “ohne die Länder der Östlichen Partnerschaft das europäische Projekt unvollständig ist”. Angesichts der kategorischen Ablehnung Deutschlands und anderer Länder des alten Europa, der Ukraine die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft (sei es auch nur eine sehr weit entfernte) zu gewähren, wird sich das europäische Projekt Polens deutlich von dem deutschen unterscheiden. Und Warschau wird Kiew was zu bieten haben.

Übrigens könnte der Schlag des Federal Reserve System der USA gegen die Deutsche Bank als “Warnschuss” der Angelsachsen in Richtung Deutschland dienen, was dessen Pläne angeht, Großbritannien aus der EU zu verdrängen. Laut Vertretern des Federal Reserve System und dem Internationalen Währungsfonds hat die Bank den amerikanischen Fed-Stresstest nicht bestanden und ist nun die größte Risikoquelle unter den globalen systemrelevanten Banken. Die zweite Bank, die den Fed-Stresstest nicht bestanden hat, ist die spanische Santander Holdings USA.

In Europa kommt jetzt die Zeit für neue geopolitische Allianzen, mit einer Ausrichtung auf unterschiedliche Machtzentren. Für die Ukraine ist es äußerst wichtig zu begreifen, dass der Übergang der EU zu einem neuen Gemeinwesen Realität ist. Noch wichtiger ist, den eigenen Weg im europäischen Projekt zu wählen, klar zwischen Verbündeten und Partnern auf der einen Seite und den Ländern auf der anderen Seite zu unterscheiden, die die ukrainische Karte beim Schacher mit dem Kreml ausnutzen werden. Fehler dürfen praktisch keine mehr gemacht werden.

Roman Rukomeda für UNIAN