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Experten ziehen politische Bilanz des ersten Halbjahres 2016 in der Ukraine

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Die Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” hat eine Expertenbefragung zur “politischen Bilanz des ersten Halbjahres” durchgeführt. Rund 50 Experten wurden gefragt, was für sie die wichtigsten Erfolge und Misserfolge in der ukrainischen Innen- und Außenpolitik im ersten Halbjahr 2016 sind. Welche Entwicklungen sehen die Experten?

Kiew, 22. Juli 2016 – Eines der größten Erfolge in der ukrainischen Innenpolitik im ersten Halbjahr 2016 ist nach Ansicht der befragten Experten die Überwindung der Regierungskrise sowie die Bildung einer neuen Regierung ohne vorgezogene Wahlen. Doch auch die Justizreform, die Verstärkung der Korruptionsbekämpfung, vor allem seitens des neuen Nationalen Anti-Korruptions-Büros und der neuen Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft, seien positive Entwicklungen des vergangenen Halbjahres. “Der Anfang des Jahres war von Korruptionsskandalen beherrscht und jetzt sehen wir konkrete Verhaftungen wegen Korruption”, erklärte Wolodymyr Fesenko, Leiter des Zentrums für angewandte politische Studien “Penta”. Es müssten jetzt noch Gerichtsurteile folgen, betonte der Experte.

Die größten außenpolitischen Erfolge im ersten Halbjahr 2016 sind den Experten zufolge die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland, die Intensivierung der Zusammenarbeit mit der NATO sowie die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit Kanada. Oleksij Haran, wissenschaftlicher Leiter der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen”, sagte, die Ukraine habe in der Frage bezüglich eines Sonderstatus für die selbsternannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” sowie bezüglich des Wahlgesetzes nicht nachgegeben. Positiv für die Ukraine sei, dass beim Warschauer NATO-Gipfel deutlich gemacht wurde, dass zunächst die Sicherheit im Osten der Ukraine gewährleistet werden müsse, und erst dann der Konflikt politisch gelöst werden könne.

 

Negative Entwicklungen

Eine der negativsten Entwicklungen im ersten Halbjahr 2016 ist laut Experten die zunehmende Schwäche und Ineffizienz des Parlaments. Faktisch gebe es keine Koalition. “Das Parlament, das eigentlich das Epizentrum der Reformen sein müsste, ist geschwächt. Im Parlament haben wir zwei Oppositionen und keine Mehrheit”, sagte der Politologe Wiktor Neboschenko. Er ist Direktor des soziologischen Dienstes “Ukrainisches Barometer”. So würden Abgeordnete häufig bei den Sitzungen fehlen, äußerst wichtige Gesetze nicht rechtzeitig prüfen oder sie einfach sabotieren.

Neboschenko meint aber, dass derzeit alle drei Zweige der Staatsgewalt geschwächt seien. “Von außen betrachtet erscheint der Präsident als stärkste Akteur. Er hat das Parlament geschwächt und eine technische Regierung geschaffen, doch gleichzeitig gelingt es nicht, Reformen durchzusetzen. Im Hinblick auf alle Herausforderungen der Ukraine ist das eine ziemlich gefährliche Situation”, so Neboschenko.
Die zunehmenden Kampfhandlungen im Donbass sind nach Ansicht der Experten eine weitere negative Entwicklung. Oleksij Haran sagte, Russland spitze die Lage zu, um die Ukraine und ihre westlichen Partner unter Druck zu setzen. Auf diese Weise wolle Putin ein Gesetz über Wahlen in den besetzten Gebieten zu seinen Bedingungen durchsetzen. Haran meint, ein entsprechendes Gesetz könnte im Herbst im Rahmen diplomatischer Manöver angenommen werden. Doch die Ukraine sollte das Gesetz zu ihren und nicht zu Putins Bedingungen annehmen. Aber solange keine Sicherheit im Donbass gewährleistet sei, werde das Parlament kein Gesetz verabschieden, glaubt der Experte.

 

Innen- und außenpolitische Misserfolge

Die größten Misserfolge in der Innenpolitik sind den Experten zufolge vor allem fehlende reale Ergebnisse bei der Korruptionsbekämpfung und die Tatsache, dass korrupte Beamte sich der Verantwortung entziehen. Der Widerstand unehrlicher Richter, die jetzt noch mehr Unabhängigkeit erhalten hätten, gefährde alles Positive der Justizreform.

Ein weiterer Misserfolg der ukrainischen Politik im ersten Halbjahr 2016 ist nach Ansicht der Experten die drastische Erhöhung der Tarife für kommunale Dienstleistungen. Diese würde die politischen Gegner ausnutzen, um in der Bevölkerung Unzufriedenheit mit der jetzigen Regierung zu schüren und vorgezogene Wahlen herbeizuführen.

Der größte Misserfolge in der Außenpolitik ist den Experten zufolge das Referendum in den Niederlanden, bei dem die Bürger des Landes das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine abgelehnt haben. Auch ist den befragten Experten zufolge die Verschiebung der Visafreiheit mit den Schengen-Ländern einer der größten Misserfolge der ukrainischen Außenpolitik.

 

Umfragewerte der Parteien ändern sich

Nach Ansicht von Wolodymyr Paniotto, dem Leiter des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie, ist die Lage in der  Ukraine zunehmend angespannt. So sinke das Vertrauen in die Regierung und ihre Arbeit werde zunehmend als ineffektiv bewertet. Dementsprechend haben sich die Umfragewerte der verschiedenen politischen Kräfte in den vergangenen sechs Monaten verändert. Die größten Verluste müssen die “Volksfront ” und der “Block Petro Poroschenko” hinnehmen. Bessere Werte erzielen die politischen Kräfte, die sich als Opposition positionieren – vor allem die “Vaterlandspartei” von Julia Tymoschenko, die geschickt mit den Tariferhöhungen spiele.

Relativ mittelmäßig stufen die Experten die Leistungen des Präsidenten und des Parlaments ein. So bekommt Präsidenten Poroschenko für seine Arbeit 4,8 von 10 möglichen Punkten (im ersten Halbjahr 2015 waren es 5,2 Punkte). Das Parlament bekommt noch weniger: 3,7 Punkte (im ersten Halbjahr 2015 waren es vier Punkte).

Da es im April 2016 zu einem Regierungswechsel kam, bewerteten die Experten sowohl die Arbeit des Kabinetts unter Premier Arsenij Jazenjuk als auch unter dem jetzigen Regierungschef Wolodymyr Hrojsman. So bekommt Jazenjuks Kabinett 3,7 Punkte und Hrojsmans Kabinett 4,7 Punkte. Zum Vergleich: im ersten Halbjahr 2015 erhielt Jazenjuks Regierung 4,1 Punkte.

 

Wird es vorgezogene Wahlen geben?

Vorgezogene Wahlen gelten nach Ansicht von Kostjantyn Matwijenko, Politikexperte der Beratungsgesellschaft “Gardarika”, als unerwünscht. “Man weiß, dass vorgezogene Wahlen nach dem jetzt geltenden Gesetz die Zusammensetzung des Parlaments nicht wesentlich verändern würden”, unterstrich er.

 

Positive Veränderungen in der Gesellschaft

Eine positive gesellschaftspolitische Entwicklung ist nach Ansicht der Experten die Aktivität der Zivilgesellschaft. Sie sei im Vergleich zu der Zeit nach der Orangenen Revolution vor über zehn Jahren heute viel stärker. Am deutlichsten sei dies an den vielen Freiwilligen-Bewegungen zu erkennen.

Dem Politologen und Leiter des Koordinationszentrums “Donbass”, Oleh Saakjan, zufolge ist auch das politische Leben auf regionaler und lokaler Ebene deutlich aktiver geworden. Hinzukomme, dass die Ukrainer seit 2014 ein “politisches Gedächtnis” hätten. Die Menschen würden sich an die Fehler der Staatsmacht erinnern und seien nicht mehr bereit, noch einmal für die politische Kräfte zu stimmen, die für Misserfolge verantwortlich seien.