Studie: Trotz aller Probleme glaubt die ukrainische Gesellschaft an die Demokratie

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Soziologen haben anlässlich des 25. Jahrestags der Unabhängigkeit der Ukraine die politische Stimmung im Land, die Wirtschaftslage sowie die Außenpolitik untersucht. Fazit: Die positiven Tendenzen überwiegen.

Kiew, 22. August 2016 – Wenn im August 2016 ein Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine stattfinden würde, dann würden 87 Prozent mit Ja stimmen. Dies ist ein deutlich besseres Ergebnis als bei Umfragen aus den Jahren 2006 (70 Prozent) und 2011 (67 Prozent). Dies erklärten während einer Pressekonferenz im Ukraine Crisis Media Center in Kiew Iryna Bekeschkina, Leiterin der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen”, sowie Natalija Chartschenko, Geschäftsführerin des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie.

Ihnen zufolge sind die meisten ukrainischen Bürger der Ansicht, dass es in den vergangenen 25 Jahren nur in drei Bereichen positive Veränderungen gab: bei der ukrainischen Nationsbildung, bei der Gleichstellung von Männern und Frauen und bei der Gleichbehandlung ethnischer Minderheiten. Gescheitert sind nach Ansicht von 90 Prozent der Befragten der Aufbau einer fairen Justiz, die Korruptionsbekämpfung, die Sicherung von sozialer Gerechtigkeit, die wirtschaftliche Entwicklung, der Gesundheitsschutz, die Kriminalitätsbekämpfung und der Schutz sozialschwacher Gruppen.

Die landesweite Umfrage wurde in der Ukraine von der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” gemeinsam mit dem Kiewer Internationalen Institut für Soziologie vom 4. bis 19. August 2016 durchgeführt.

Tendenzen seit der staatlichen Unabhängigkeit

Den Experten zufolge hat sich in den vergangenen 25 Jahren in der Öffentlichkeit die “pro-ukrainische Einstellung” verstärkt, aber auch der Glaube an die eigenen Fähigkeiten des Landes. So waren im Jahr 1991 37 Prozent der Meinung, die Ukraine könne nur mit wirtschaftlicher Hilfe des Westens überleben. Im Jahr 2016 sind lediglich 19 Prozent dieser Ansicht. Auf Hilfe seitens Russland setzen heute nur 11 Prozent.

Zurückgegangen ist auch die Furcht vor einem “drohenden Untergang” des Landes. 1991 waren 46 Prozent der Menschen der Meinung, dass von ihnen wenig abhängt. 2016 sind noch 34 Prozent dieser Ansicht. Gleichzeitig herrscht nach wie vor Furcht vor Korruption und Bestechung. Auch die Intoleranz gegenüber Menschen anderer sexueller Orientierung ist weiter hoch.

Dennoch glauben die Experten, dass es in den zurückliegenden 25 Jahren mehr positive als negative Entwicklungen gab. Laut Ruslan Kermatsch von der Stiftung “Demokratische Initiativen” hat sich vor allem eine Zivilgesellschaft herausgebildet. Auch seien die Rechte und Freiheiten der Menschen gefestigt worden. Die Demokratie werde von den Menschen auf einer Skala von 10 Punkten mit 6,5 bewertet. Als “Rezepte” würden die Menschen die Korruptionsbekämpfung sowie Justiz- und Wirtschaftsreformen nennen, was auch ausländische Investitionen und die Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen fördern würde.

Ukraine und Russland: Politische Systeme im Vergleich

Oleksij Haran, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung “Demokratische Initiativen”, meint, die Ukraine könne stolz darauf sein, dass im Lande zwischen den ethnischen Gruppen Frieden herrsche, und dass es gelungen sei, die Unabhängigkeit des Landes friedlich zu erlangen. Ihm zufolge wurde auch die Verfassung der Ukraine von 1996, die ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Zweigen der Staatsmacht festschreibt, als Folge eines Kompromisses zwischen den damaligen politischen Kräften in der Ukraine friedlich angenommen, und nicht wie in Russland, wo 1993 eine neue Verfassung mit Hilfe militärischer Gewalt durchgesetzt wurde.

Die Tatsache, dass in der Ukraine immer eine Koexistenz zwischen Präsident und Parlament bestanden habe, habe die weitere Demokratisierung des Landes begünstigt, so Haran. Seiner Meinung nach unterscheidet sich daher auch die politische Kultur in der Ukraine von der in Russland. “In der Ukraine wird nicht an einen kommenden “Messias” geglaubt. Dort gibt es eine starke historische Tradition von Privateigentum und lokaler Selbstverwaltung, regionale Unterschiede und eine starke Opposition, was es unmöglich macht, die Schrauben fest anzuziehen”, sagte Haran. Allerdings führe die ständige Kompromisssuche dazu, dass schmerzhafte, aber notwendige Reformen nur schleppend vorankämen.

Haran zufolge unterstützen 54 Prozent der Bevölkerung die demokratische Entwicklung des Landes, 20 Prozent neigen zu einem autoritären System. Gleichzeitig seien 30 Prozent bereit, materielle Not für Freiheit und Demokratie in Kauf zu nehmen. “Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme glaubt die Gesellschaft weiterhin an die Demokratie”, sagte der Experte.

Fortschritte in der Wirtschaft

Ihor Burakowskyj, Leiter des ukrainischen “Instituts für Wirtschaftsforschung und Politikberatung”, betonte, die Ukraine habe in den vergangenen 25 Jahren auch wichtige Errungenschaften im Wirtschaftsbereich vorzuweisen: die Einführung der Landeswährung Hrywnja und der Aufbau eines vollkommen neuen Bankensystems. Auch sei die Ukraine Mitglied der wichtigsten Wirtschaftsorganisationen der Welt geworden.

Ferner, so Burakowskyj, entstehe in der Ukraine eine neue Unternehmerschicht. “Die Schicht der Unternehmer ist noch klein, aber es gibt interessante Vorbilder. Dies sind nicht unbedingt kleine und mittlere Unternehmer. An die Stelle der Oligarchen treten zunehmend große Unternehmen, die nicht auf der Grundlage alter Unternehmen durch Privatisierung entstanden sind, sondern bereits das Ergebnis von Marktwirtschaft sind”, sagte der Experte.

Ihm zufolge sollen die Reformen in der Ukraine auch zu einer neuen Art der öffentlichen Verwaltung führen. Deren Entscheidungen sollten Rücksicht auf kleine und mittlere Unternehmer sowie den Export nehmen, aber auch zur Verbesserung der Steuermoral, des Wettbewerbs und der Korruptionsbekämpfung beitragen.

Erfolge und Misserfolge in der Außenpolitik

Hennadij Maksak, Leiter des Forschungszentrums “Rat für Außenpolitik ‘Prisma'”, beschrieb bei der Pressekonferenz im Ukraine Crisis Media Center die Position der Ukraine in der internationalen Arena wie folgt: “25 Jahre lang wechselten sich Misstrauen und Interesse gegenüber der Ukraine im Zusammenhang mit Reformen mehrere Male ab. Auch jetzt besteht Interesse, das aber allmählich in Misstrauen umschlägt. Wenn es nicht gelingt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, dann werden wir keine erfolgreiche Außenpolitik haben”, so der Experte.

Doch er sieht aus Erfolge der Ukraine: Aufbau eines diplomatischen Dienstes; Verzicht auf Atomwaffen, die Kiew nicht vollständig einsetzen konnte; Aufnahme von Verhandlungen mit der EU und der NATO; Propagierung der Ukraine in der Welt, trotz geringer Mittel. Misserfolge der ukrainischen Außenpolitik sind Masak zufolge fehlende Sicherheitsgarantien sowohl im Budapester Memorandum als auch seitens der NATO. Ferner habe die Ukraine Russlands Druck in vielerlei Hinsicht nicht standgehalten, darunter bezüglich der Schwarzmeerflotte. Letztlich habe die Ukraine ihre territoriale Integrität verloren.

Alle Ergebnisse der Umfrage in ukrainischer Sprache