Stumme Krim. Das Schweigen des Journalismus auf der Krim

Derzeit herrscht auf der Krim eine Situation, in der Journalisten, die nicht mit der Position der Okkupationsbehörden einverstanden sind, von der Halbinsel verdrängt, eingeschüchtert oder in Untersuchungshaft gesteckt werden. Außerdem teilen sich Journalisten in zwei Lager: ein bedeutender Teil an Journalisten trat dem russischen Journalistenverband bei. Zeitungen auf der Krim begannen damit, die Rhetorik der Okkupationsbehörden zu wiederholen, dass mit einem starken Russland alles gut sei, aber dass alles in den letzten 23 Jahren mit der Ukraine schlecht gewesen wäre.

Das Ukraine Crisis Media Center veröffentlicht ein gekürztes Interview von Radio Swoboda mit dem Journalisten Mykola Semena, der des Extremismus beschuldigt wird. Wie steht es um die Meinungsfreiheit auf der Krim?

Was haben die Krimbewohner durch das Fehlen der Meinungsfreiheit auf der Halbinsel verloren?

Eine kleine Gruppe von Journalisten verließ die Krim sofort. Und es gab Journalisten wie mich, die zum Arbeiten dort blieben. Durch diese Veränderung in der Informationsumgebung verlor die Krim sehr viel. Die Krimbewohner haben keine Möglichkeit mehr, die Ereignisse objektiv zu bewerten. Ihnen wird die Meinung aufgedrängt, dass Russland groß und stark sei, und dass jemand mit Russland Krieg will. „Wir haben hier deshalb Nuklearwaffen und alle sind große Patrioten, die der ganzen Welt ihren Willen aufzwängen wollen“. Dieser Gedanke wird ständig aufgedrängt. Man verliert eine adäquate Orientierung im Informationsraum und in der Welt. Zudem sind alle Medien nur dazu da, das zu rechtfertigen und zu erklären, was die Okkupationsbehörden tun und dass all ihr Handeln richtig ist.

Es gibt keine kritische Herangehensweise. Auf der Krim gab es keine aufrichtige Kritik an dem stattgefundenen Referendum. Die Kritik und Analyse steht noch bevor, und dann wird die Wahrheit über das Referendum zu Tage kommen. Es gibt keine richtigen Berichte darüber, wie die Krim tatsächlich an Russland angeschlossen wurde. Auf der Krim werden die Ereignisse jener Operation totgeschwiegen, die Russland am 20. Februar 2014 durchführte. Auf den Medaillen, mit denen die Rückkehrer von der Krim geehrt wurden, steht der 20. Februar als Datum der Operation. Aber am 20. Februar saß Wiktor Janukowitsch in Kiew und war noch Präsident. Damals versuchte Russland, zu verhandeln, aber gleichzeitig begann am 20. Februar die Operation zur Annexion der Krim.

Die Russen meinten, dass auf der Krim 20.000 russische Soldaten wegen der Schwarzmeerflotte stationiert wären. Im Februar 2014 waren es 13.000. In diesen Tagen, ab dem 20. Februar, wurden weitere 9.000 Spezialkräfte auf die Krim verlegt, die in der Nacht die Gebäude des Ministerrats und der Werchowna Rada auf der Krim besetzten, sowie den Flughafen und Straßen. Außerdem blockierten sie die militärischen Einrichtungen der Ukraine… Diese Ereignisse waren der Grundstein für den Beitrittsprozess der Krim zu Russland, und nicht dieses sagenumwobene Referendum mit einer „Willensäußerung der Bürger“. Die Gespräche mit den russischen Verhandlungsführern im „Krim-Frühling“ wurden veröffentlicht. Das war alles geplant.

Sollen die Krimbewohner insgesamt kritischer sein und mehr analysieren?

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach objektiver Wahrheit. Wenn ein Mensch an und für sich begreift, dass er in einem Klima der Lüge lebt, führt ihn dies zu einer riesigen Enttäuschung. Er muss sich selbständig bemühen, die Wahrheit und den realen Verlauf der Ereignisse (unter den Bedingungen der Lüge) zu begreifen.

Früher wurden in den Medien der Krim alle Veränderungen thematisiert. Sagen wir so, es wurden Änderungen an der Verfassung oder neue Gesetze diskutiert. Jetzt wurde die Verfassung faktisch ohne Diskussion übernommen. Niemand hat sie gesehen. Die Wahrnehmung von Politik und Politikern durch die Gesellschaft auf der Krim hat sich geändert. Wenn die Leute früher gegenüber den Behörden kritisch eingestellt waren und etwas von ihnen forderten, rechtfertigen die Medien heute nur noch, was die Okkupationsbehörden tun. Sie erfüllen nicht mehr die Rolle von Medien in einer Zivilgesellschaft.

Faktisch hat die Gesellschaft auf der Krim einen riesigen Teil seiner Analyse- und Informationskomponente verloren. Es gibt sie einfach nicht mehr. Es gibt Werbung, ja, und eine enorme „Augenwischerei“. Das, was auf der Krim veröffentlicht und gezeigt wird, geht übrigens hauptsächlich um die Wahlen der Abgeordneten für die Staatsduma, die am 18. September 2016 stattfinden wird. Es ist unmöglich, die Meldungen darüber zu lesen oder zu hören. Die Kommunistische Partei Russlands erklärt: „10 stalinistische Schläge gegen den Kapitalismus: Nationalisierung der Produktionsmittel, Einführung der Todesstrafe“ – alles im stalinistischen Geist. Und dies ist die offizielle Politik der Partei, die an den Parlamentswahlen im Land teilnimmt. Umberto Eco beschrieb zu seiner Zeit 14 Faktoren, die in einem Staat darauf hindeuten, dass er faschistisch ist. Wenn man seine 14 Thesen analysiert, deutet die Mehrzahl, 9 oder 10 davon, darauf hin, dass im Staatssystem der Russischen Föderation bereits Faschismus existiert.

Gibt es im Informationsraum der Krim unabhängige russische Medien? Haben sie, wenn auch nur zum Teil, die unabhängigen Medien auf der Krim ersetzt?

Wir sind sehr froh, dass es in Russland neben den regierungstreuen Medien mehrere Ressourcen gibt, die die Situation auf der Krim objektiv beleuchten. Ich würde folgende dazu zählen: „Nowaja Gaseta“, „Otkrytaja Rossija“, „Gorisontalnaja Rossija“ und „Doschd“. Sie beschreiben die Ergebnisse und Folgen der Ereignisse auf der Krim wahrheitsgemäß. Aber sehr viele Krimbewohner wissen nichts von diesen Medien. Wenn die „Komsomolskaja Prawda“, „Rossijskaja Gaseta“ oder „Sawtra“ hierher geliefert werden, gibt es wenige, die von „Otkrytaja Rossija“ hörten. Hierher wird keine „Nowaja Gaseta“ geliefert – sie wird auch nicht im Internet gelesen.

Wenn man den gesamten Informationsraum der Krim nimmt, kommen dort sehr wenige objektive russische Medien vor. Ich denke, dass es, wenn überhaupt, nur fünf Prozent Marktanteile sind.

Gehört die Extremismusanschuldigung, die Ihnen vorgeworfen wird, zur neuen Realität auf der Krim?

In der früheren russischen Gesetzgebung gab es sogar keinen solchen Artikel. Aber nach der Krimannexion fügte die russische Staatsduma im März 2015 den Artikel 280.1 in das Strafgesetzbuch ein. Dabei gab es bereits den Artikel 280, in dem es um Terrorismus geht. Aber sie brauchten einen Artikel über Extremismus. Deshalb wurde der Artikel 280.1 eingefügt, laut dem „Aufrufe zur Verletzung der territorialen Integrität der Russischen Föderation“ bestraft werden können. Dabei beinhaltet diese „territoriale Integrität“ aus meiner Sicht illegalerweise auch das Gebiet der Krim. Und alles, was man schreibt oder sagt, dass die Krim zur Ukraine gehört, kann als „Aufruf zur Verletzung der territorialen Integrität der Russischen Föderation“ gewertet werden.

Faktisch wird die Krim weder von den meisten Ländern der Welt, noch von internationalen Organisationen, einschließlich den Vereinten Nationen, die eine entsprechende Resolution verabschiedeten, noch von der OSZE als Teil von Russland gesehen… So kann Moskau diesen Artikel über die Verletzung der territorialen Integrität der Russischen Föderation faktisch auch gegen die ganze Welt benutzen.

Anwälte und Menschenrechtler zeigen anhand russischer und internationaler Gesetze, dass ich in meinem Fall kein Verbrechen begangen habe, da die Krim nicht endgültig in den Bestand der Russischen Föderation kam. Im Gesetz der Russischen Föderation zu den Staatsgrenzen und in weiteren Gesetzen werden die Staatsgrenzen nicht durch einen Staat definiert, sondern durch Vereinbarungen zwischen zwei benachbarten Staaten. All diese Gesetze wurden auf der Welt zwischen Nachbarstaaten ausgehandelt. Und heute zeigt sich, dass Russland ein Staat ist, der gesetzlose Grenzen hat: mit Japan, mit Georgien, und jetzt mit der Ukraine.

Anmerkung: Wenn die Strafsache gegen Semena geschlossen wird, wird er gezwungen sein, die Krim zu verlassen, da er dort keine Möglichkeit hat, seinen Beruf weiter auszuüben.