„In Donezk bewege ich mich in einem ukrainischen Trikot. Und mir zeigt man den Weg ins Schwimmbad“

„Wenn Du keine Angst hast, wird alles gut!“ Der armlose Gewinner der Paralympischen Spiele berichtete, wie er sich auf seinen Sieg in Rio in der umkämpften Stadt vorbereitete.

Die Hundertschaft der ukrainischen Paralympischen Teilnehmer steht am Flughafen „Borispil“. Alle tragen einen gelb-blauen Sportanzug und haben ein glückliches Lächeln im Gesicht. Manche sehen, andere hören die Fans, die ihnen bei nächtlichem Regen vor ihren Häusern begegnen. Der Schwimmer Jaroslaw Semeneko kann hören und sehen. Nur die Ärmel seiner Jacke hängen herunter; dem Sportler fehlen die Arme. Semeneko gewann in Rio Bronze, wobei für den armlosen Mann diese Bronze Gold bedeutet.

Wir trinken in einem georgischen Restaurant im Zentrum von Kiew Tee. Semeneko neigt die Tasse mit den Lippen und nimmt einen Schluck. Vor einer halben Stunde sah ich, wie er im Pressezentrum mit seinen Zehen das Mikrofon vom Tisch nahm. Er kocht, kleidet und isst mit seinen Füßen – und das seit 20 Jahren.

Mit neun Jahren spielten sie als Kinder in der Nähe von Krasnohoriwka bei Donezk Verstecken. Semeneko versteckte sich in einem Umspannhäuschen. 6.000 Volt zogen seine Arme an, sein Körper wurde gelähmt, aber sein Gehirn funktionierte noch. Seine Freunde wollten ihm helfen, doch sie wurden zurückgeschleudert. Sie konnten den Trafo nicht einfach abschalten, weil der Schalthebel festgeschweißt war. Um den Jungen zu retten, musste der Strom für die gesamte Stadt abgeschaltet werden. Semeneko verlor beide Arme. Ein Wunder, dass er überhaupt überlebte.

Das Leben in der relativ armen Familie war inmitten des kleinen Städtchens im Donbass schwierig. Der Unterricht fand zu Hause statt. Altersgenossen spotteten. Ein zweifelhaftes Umfeld. Es war einfach besser, nicht nach draußen zu gehen. Aber mit 19 entdeckte Semeneko den Sport.

„Ein Freund machte mich mit dem Trainer für Basketball im Rollstuhl bekannt. Er war sein Fahrer. Zwar konnte er mir nichts in meiner Kategorie anbieten, doch durch ihn lernte ich meinen zukünftigen Trainer kennen. Er begann mit Leichtathletik, mit Laufen. Der Trainer meinte, dass mit meiner Behinderung sehr viel Arbeit notwendig sei. Wir entschieden, es mit Schwimmen zu versuchen. Wir gingen nach Makijiwka. Der Trainer schaute mich an und zeigte mir die verschiedenen Schwimmstile. Dann sagte er, dass man damit arbeiten kann“, erinnerte sich Semeneko.

Mit 20 arbeitete er hart. Zwei Trainings pro Tag, sechs Tage die Woche. Das Ziel: die Paralympischen Spiele in Peking. Aber dort hatte der junge Sportler kein Glück.

„Das warf mich stark zurück. Ich schwamm drei Monate nicht. Ich wollte einfach nicht“, sagte Semeneko.

Aber später erschien Nastja. Semeneko verstand, dass man zur Gründung einer Familie arbeiten muss.

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„Ich bereitete mich intensiv auf die Paralympischen Spiele 2012 in London vor. Ich hatte Chancen, eine Medaille zu gewinnen. Ich trainierte wie ein Wahnsinniger! Aber es war vergebens…“

Semeneko muss, da er keine Arme hat, am Ziel mit dem Kopf abschlagen. Damit es nicht zu sehr weh tut, bremst er zuvor ab. Seine Konkurrenten können bis zum Ziel durchhalten.

„Wenn man die Köpfe anschaut, sieht man, dass Jaroslaw vorne lag. Der Unterschied betrug drei Hundertstel Sekunden und so kam er auf den vierten Platz“, sagte Nastja.

„Ich kam nach Hause und hatte kein Geld. Überhaupt kein Geld mehr. Ich hatte vier Jahre trainiert und stand vor dem Nichts. Man muss sich etwas zu essen kaufen, aber selbst für Kartoffeln reichte es nicht“, sagte Semeneko.

„Es gibt Europa- und Weltmeisterschaften, wo man Preise gewinnen kann. Es gibt ein Stipendium des Präsidenten, was einen unterstützt. Ob man von 3.000 oder von 10.000 Hryvna leben muss, macht einen sehr großen Unterschied. Gibt es nichts, ist es sehr schwierig. Geld für Essen und Wohnung, dann wird es einfach. Aber wenn es keine Unterstützung gibt, ist es doppelt so schwer. Vor allem, wenn man krank wird, oder wenn auch die Frau zusätzlich erkrankt…“, seufzte Semeneko.

„Es gibt Leute, die jede Arbeit machen. Sie gehen nach dem Training zu einem Laden und fahren Schubkarren. Dafür bekommen sie 200 Hryvna. Es macht keinen Unterschied, Lastträger und Sportler zu sein. Die beste Möglichkeit für Paralympic-Teilnehmer ist, Sponsoren zu finden. Eine Firma, ein Betrieb, ein Unternehmen, das in Dich investiert. Aber nicht deshalb, weil Du als Sportler eine Medaillenchancen hast, sondern weil sie es wollen.“

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Jaroslaw Semeneko fand einen Sponsor. Ein bekannter Donezker Geschäftsmann half ihm mit Geld für Medikamente und Nahrungsmittel. So konnte er sich auf die Paralymischen Spiele in Rio vorbereiten.

„Ich stellte meine Lebensweise um. Ich wechselte den Trainer und zog in eine andere Stadt. Das Leben wurde anders und ich konnte freier atmen. Ich fing an, spazieren zu gehen. Nicht mehr nur Schwimmbecken, zu Hause, Schwimmbecken, zu Hause, wie es vier Jahre zuvor war“, berichtete Semeneko.

Aber zwischenzeitlich kam der Krieg im Donbass bis zu seinem Haus im Gebiet von Donezk.

„Dort fasste mich niemand an. Ich ging im ukrainischen Trikot und hängte es draußen zum trocknen auf. Niemand sagte etwas. Weder die Leute mit den Maschinengewehren, noch die einfachen Nachbarn. Alle respektierten meine Entscheidung. In Donezk, als ich dort ankam und dort für eine Woche bleiben sollte, brauchte ich ein Schwimmbad. Das wurde mir kostenlos gewährt. Ich spürte keine Probleme. Das wichtigste ist, keine Angst zu haben. Wenn Du keine Angst hast, wird alles gut. Die Schwimmbadbetreiber waren neu, aber sie verstanden, worauf ich mich vorbereite und weshalb ich das Schwimmbad brauchte. Und sie gaben mir eine Bahn. Ich hatte ein ukrainisches Trikot, das ich mir umlegte und trainierte. Die Leute glotzten. Aber ich hatte keine Angst“, erzählte Semeneko.

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Der Sportler war Ende Frühling zum letzten Mal zu Hause. Danach fuhr er nicht mehr, damit er den Trainingszyklus nicht unterbrechen musste.

Semeneko bereitete sich in Dniprodzerschynsk und Odessa auf die Paralympischen Spiele in Rio vor. Die gesamten Sachen von ihm und Nastja wurden in einem Auto gelagert, das von Stadt zu Stadt fuhr, wo er trainierte.

„Ich verstand, dass ich einen Weltrekord schwimmen muss, um einen Preis zu gewinnen. Letztlich war es sehr schwierig. Aber mir war bewusst, dass wenn ich mich nicht jetzt anstrenge, werde ich nicht wissen, was weiter wird“, erzählte Semeneko.

Er schwamm einen Weltrekord auf 100 Meter mit 01:15:41 Minuten. Der armlose Schwimmer aus einem gottvergessenen Städtchen im Donbass stand erstmals auf dem Siegertreppchen der Paralympics.

„Es ist schwierig zu sagen, ob es eine Rolle spielte, dass keine Russen teilnahmen. Russische Sportler sind sehr stark. Vielleicht spielte es bei dem Wettbewerb eine Rolle. Beim Medaillenspiegel machte es bestimmt etwas aus, denn wir schnitten nicht schlecht ab. Aber ich denke nicht, dass wir einen sehr großen Abstand gehabt hätten“, meinte Semeneko.

Der „Preis“ blieb bis zur Rückkehr der Nationalmannschaft in die Ukraine erhalten. Aber Semeneko denkt auch an diejenigen, die keine Medaillen gewannen.

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„Ohne Sieg und ohne Unterstützung ist es moralisch sehr schwierig. Das System sollte anders sein: wenn jemand die Hürde zur Teilnahme schafft, sollte man ihm dafür dankbar sein, überhaupt so weit gekommen zu sein. Damit bekommt er das Gefühl, nicht Abseits zu stehen, sondern unter jenen zu sein, die ausgezeichnet wurden. Es wäre nichts dabei und die Preisträger würden kein bisschen verlieren. Es gäbe trotzdem viele Medaillen, aber weniger „Nichtgewinner“. Niemand würde benachteiligt, sondern es wäre für alle angenehm. Aber prinzipiell wäre dieses Almosen, selbst wenn es vom Staat kommt, besser. 1.000 Hryvna für Finalisten, die unter die ersten acht gekommen sind. Ich war bei zwei Paralympics. Und diese Hilfe hätte mich motiviert. Ich hätte härter trainiert.“

Semeneko und Nastja, die ihn fast überallhin begleitet, machen jetzt erst einmal für einen Monat Urlaub. Und danach bereitet er sich auf die Weltmeisterschaft vor.

„Im Leben entstehen manchmal Schwierigkeiten. Aber es sind nur Hürden, die man überwinden muss.“

Artikel von Walerija Iwaschkina für StranaUA

Bilder von StranaUA (c)