Warum es falsch ist, von der Ukraine “schmerzvolle Kompromisse” zu verlangen

Dieser Text ist Teil einer Initiative der Gruppe UkraineWorld, der zahlreiche Experten der ukrainischen Außenpolitik sowie Journalisten angehören. Der Artikel spiegelt Ansichten wieder, die bei vielen ukrainischen Experten vorherrschen. Die Autoren sind Wolodymyr Jermolenko, Direktor der Europa-Projekte bei Internews-Ukraine, und Alja Schandra, Chefredakteurin von Euromaidan Press.

Seit Ende 2016 ist in ukrainischen und ausländischen Medien eine Kampagne zu beobachten, mit der offenbar ein radikaler geopolitischer Kurswechsel der Ukraine vorbereitet werden soll. In einem Artikel für The Wall Street Journal fordert Wiktor Pintschuk, einer der reichsten ukrainischen Oligarchen, “schmerzvolle Kompromisse” auf dem Weg zu einem Frieden mit Russland. Er fordert, das Ziel eines NATO- und EU-Beitritts der Ukraine aufzugeben sowie die Krim-Frage für Jahrzehnte einzufrieren. Ähnlich äußerte sich der ukrainische ehemalige Diplomat und heutige Politikexperte Wasyl Filiptschuk in einem Artikel für Apostroph. Auch der bekannte ukrainische Blogger Juri Romanenko vertritt auf seiner Webseite ähnliche Positionen, was eine “Neutralität” der Ukraine angeht. Die oben genannten Beiträge führten dazu, dass in zahlreichen ukrainischen Medien zu einer Versöhnung mit Russland aufgerufen wurde. All dies legt nahe, dass es sich dabei um eine Medienkampagne handelt, mit der die öffentliche Meinung sowohl in der Ukraine als auch im Westen verändert und die Ukraine in die Zeit vor dem Euromaidan zurückversetzt werden soll – als neutraler Satellit Russlands, aber diesmal ohne die Krim und den Donbass.

Wir glauben, dass dieses Szenario schmerzvolle Folgen sowohl für die Ukraine als auch westliche Länder haben wird, aus folgenden Gründen:

  1. Eine Neutralität der Ukraine wird die Aggression Russlands nicht stoppen, sondern sie wahrscheinlich noch anheizen. Die oben erwähnten Befürworter einer radikalen Kurswechsels der Ukraine treten für eine Rückkehr zum neutralen (blockfreien) Status des Landes ein und meinen, dass so das gestörte geopolitische Gleichgewicht wiederhergestellt werden kann. Aber Neutralität hat noch nie Schutz vor einer Aggression geboten, erst recht nicht, wenn ein neutraler Staat Objekt geopolitischer Interessen seines Nachbarn ist. Im Jahr 2014, als die Ukraine Opfer der russischen Aggression auf der Krim und im Donbass wurde, war sie ein blockfreies Land. Die Neutralität der Republik Moldau, die Russland verlangt hatte und in der Verfassung von 1994 verankert ist, sollte den Transnistrien-Konflikt lösen. Doch auch das half nicht, Transnistrien wieder in die Republik Moldau zu integrieren. Die “rote Ampel” für Georgiens NATO-Mitgliedschaft im April 2008 (beim NATO-Gipfel in Bukarest) hat das Land nicht vor der russischen Aggression im August 2008 bewahrt, sondern sie eher sogar noch provoziert. Neutralität hatte auch schon in der Vergangenheit weder Belgien, Dänemark, den Niederlanden noch Norwegen geholfen, von der Nazi-Aggression im Zweiten Weltkrieg verschont zu bleiben. Wenn ein Angreifer sein Ziel erreichen will, dann hilft dem Opfer auch keine Neutralität. Sie macht ein potenzielles Opfer eher schutzlos.
  1. Eine Akzeptanz der Annexion der Krim könnte weiteres aggressives Vorgehen in der ganzen Welt auslösen. Eine Akzeptanz der Annexion der Krim, einer eklatanten Verletzung des internationalen Rechts unter dem Vorwand falscher demokratischen Verfahren, könnte eine Büchse der Pandora öffnen. Die Folge könnten gesetzwidrige Annexionen und Interventionen in vielen anderen Teilen der Welt werden. Dies würde die Weltordnung in ein Kartenhaus verwandeln. Ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn man einen Aggressor beschwichtigt, ist das Münchner Abkommen und die Annexion des Sudetenlandes 1938.
  1. “Schmerzvolle Kompromisse” können zu weiteren Spannungen und zu Instabilität in der Region führen. Wenn es zu dem Szenario “schmerzvoller Kompromisse” kommt, wird es in der Ukraine eine massive Protestwelle geben. Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung einen NATO-Beitritt unterstützt. 44 Prozent halten ihn für eine “Grundvoraussetzung” für Sicherheit. 26 Prozent unterstützen einen blockfreien Status ihres Landes. Lediglich 22,5 Prozent der Befragten sind bereit, Frieden um jeden Preis zu akzeptieren. Es ist davon auszugehen, dass sehr viele Menschen in der Ukraine “schmerzvolle Kompromisse” als “weiche Kapitulation” auffassen werden. Dies wird die Position der jetzigen ukrainischen Regierung deutlich schwächen sowie die extremen rechten Kräfte und Nationalisten stärken. Das kann zu schweren Spannungen im ganzen Land führen und die innere Instabilität erhöhen. Sollte ein Nachbarland auf eine wachsende Instabilität in der Ukraine mit einer militärischen Intervention reagieren, könnte dies einen großen Krieg in Europa auslösen.
  1. Eine NATO-Mitgliedschaft würde die Fähigkeit der Ukraine stärken, selbst die russische Aggression zu bekämpfen. Unabhängig von einer NATO-Mitgliedschaft bringt selbst die einfache Zusammenarbeit mit der Allianz der Ukraine echte Vorteile. Ihre Armee wird modernisiert und besser auf die Bekämpfung der russischen Aggression im Donbass vorbereitet. Das ermöglicht der Ukraine, die Aggression mit eigenen Kräften zu überwinden, ohne fremde militärische Hilfe.
  1. Ohne den Anreiz einer EU-Mitgliedschaft werden die ukrainischen Reformen nicht vorankommen. Die Apologeten der “schmerzvollen Kompromisse” behaupten, die Ukraine müsse ihre Ambitionen aufgeben, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Doch bisher war gerade die Aussicht auf ein EU-Beitritt die wichtigste treibende Kraft für Reformen in der Ukraine. Die Aufgabe des Europäischen Traums wird die Reformen stoppen und diese wichtige Ausrichtung des Landes zunichtemachen. Ohne den Druck, europäischen Standards und Verfahren zu entsprechen, wird die Ukraine ein feudales oligarchisches Land unter russischem Einfluss bleiben. Stattdessen würde eine demokratische und prosperierende Ukraine die Demokratisierung Russlands fördern und die autoritäre Führung eindämmen.
  1. Beschwichtigung hat schon früher Russland zu Aggressionen ermuntert. Die Aufrufe zu Kompromissen mit Russland ziehen die jetzigen Spielregeln des Kremls nicht in Betracht. Er spielt nach den Regeln einer “Zoo-Politik”. Danach betrachtet der Kreml Staaten als wären sie Tiere, die untereinander kämpfen, wobei der Stärkere gewinnt. Die Tatsache, dass die westlichen Staaten die eklatante Verletzung des Völkerrechts durch Russland in Georgien ignoriert haben, ermunterte den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu einer Aggression gegen die Ukraine. Würde die Ukraine heute fallen gelassen werden, würde dies wahrscheinlich Russland dazu ermuntern, seine Okkupationspolitik gegen andere Länder fortzusetzen.
  1. Vereinbarungen mit Russland funktionieren nicht. Die Befürworter von Zugeständnissen seitens der Ukraine betonen, die Ukraine müsse ein neues Abkommen mit Russland schließen, das ihr Sicherheit garantieren würde. Doch es gibt keine Garantie dafür, dass Russland sein Wort in Zukunft halten wird. Es hat bereits das Budapester Memorandum (Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach ihrem Verzicht auf Nuklearwaffen), die Schlussakte von Helsinki und die UN-Charta missachtet.
  1. Die “Kompromisse” schließen eine Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine aus. Das Mantra des Westens nach der russischen Aggression im Jahr 2014 betont immer wieder die absolute Achtung der “Souveränität und territorialen Integrität” der Ukraine. Doch die Anhänger “schmerzvoller Kompromisse” verwerfen sowohl die territoriale Integrität der Ukraine (die Krim wird als russisch akzeptiert) und die Souveränität des Landes (Kiew kommt völlig unter russischen Einfluss).
  1. Zu einem Kurswechsel muss nicht das Opfer, sondern der Aggressor gezwungen werden. Die Befürworter eines radikalen Kurswechsels der Ukraine versuchen mit aller Kraft zu erläutern, warum Kiew seine Haltung ändern muss. Aber sie sagen nichts dazu, welche Veränderungen und Zugeständnisse sie von Russland erwarten, als dem Land, das an der Destabilisierung der Ukraine schuld ist. Russland seinerseits bestreitet, überhaupt eine Konfliktpartei in der Ukraine zu sein, und bezeichnet sich selbst als “dritte Partei”. Das Paradoxe an dieser Situation ist, dass diese “dritte Partei” von der Ukraine Zugeständnisse verlangt, als wäre sie eine vollwertige Konfliktpartei.
  1. Jeglicher Friedensplan muss Entschädigungen vorsehen. Die ganze Welt erkennt an, dass Russland ein Land ist, das die Krim illegal annektiert hat und Separatisten im Donbass unterstützt. In diesem Fall muss Russland für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gemacht werden – nämlich für die finanziellen Verluste, die durch den Krieg entstanden sind. Doch die Befürworter eines radikalen Kurswechsels der Ukraine schweigen zu dieser Frage.