Kontaktlinie im Kampfgebiet in der Ostukraine sollte von Blauhelmen garantiert werden – Rebecca Harms

Die Abgeordnete des Europaparlaments, Rebecca Harms, hat vor kurzem Awdijiwka besucht. Sie besichtigte die Stadt und Bereiche, die am stärksten durch Artilleriebeschuss zerstört wurden. Sie war ebenfalls bei Frontstellungen der ukrainischen Streitkräfte, sowie in zerstörten Häusern von Zivilisten. Sie betonte, dass das Europaparlament alles unternehmen wird, damit die Ukraine nicht gegen die russische Aggression alleine bleibt.

Das Ukraine Crisis Media Center veröffentlicht eine Übersetzung des Interviews von Hromadske mit Rebecca Harms.

Frau Harms, haben Sie früher Donbass besucht? 

Ich war seit Beginn des Krieges zum 5.Mal an der Frontlinie. Ich kenne einige Städte und Dörfer aber schon seit vielen Jahren und das Leben dort war für die Leute nie einfach oder gut. Als Zivilistin, die aus dem Frieden Westeuropas kommt, bin ich aber jedes Mal neu erschrocken über die Wucht des Krieges und die Zerstörung.

An vielen Orten sind die Lebensbedingungen unerträglich. Wenn man durch einen Wald geht und kein Baum ist mehr heil, wie jetzt bei Awdijiwka, dann versteht man die Wucht des Beschusses. Und dann trifft man dort auf die so jungen Männer, die in diesem Feuer ihren Kopf hingehalten haben. Keiner der jungen ukrainischen Soldaten, die ich gesprochen habe, wollte diesen Krieg. Aber zurückweichen vor der weiteren Besatzung der Ukraine wollte auch keiner.

Wie können Sie die Lage im Gebiet beschreiben? Hat sich etwas nach Ihrem letzten Besuch verändert?

In Awdijiwka ist es unter der Zivilbevölkerung so wie ich es schon bei meinem ersten Besuch in Slavjansk erlebt habe: Die Menschen wollen den Krieg nicht. Sie wünschen sich ein normales Leben zurück. Inzwischen heißt das an vielen Orten in der Nähe der Front ganz bescheiden nur noch: das Schießen soll aufhören. Aber die Leute jetzt in Awdijiwka glauben noch nicht mal an einen Waffenstillstand. Wer ist schuld? Darüber gehen die Meinungen im Osten der Ukraine auseinander. Die Verbitterung über das immer schlechtere Leben ist groß. Ich kann das verstehen. Aber ich weiß auch, dass es nicht die ukrainische Regierung gewesen ist, die diesen Krieg angefangen hat.

Was denken Sie zur Eskalation in Awdijiwka?

Ich denke, dass es an diesem Ort darum geht, Einfluss- und Kontrolle für die prorussischen Separatisten über ukrainisches Territorium und Infrastruktur zu erweitern. Nach dem ersten Minsker Abkommen wäre die Kontaktlinie ca. 2 km von der jetzigen Front entfernt. In Awdijiwka ist sichtbar, dass trotz Minsk die von Russland betriebene Besetzung weiter gegangen ist.

Haben Sie mit den Einwohnern aus Awdijwka gesprochen? Hatten die Einwohner irgendwelche Hilfsersuche an Sie, ein Mitglied des Europäischen Parlaments, übergeben?

Ich habe mit den Leuten aus der Verwaltung geredet, die versuchen so gut es geht, die Schäden des schweren Beschusses in den Griff zu bekommen, die Versorgung mit Strom, Wärme und Wasser sicherzustellen. Ich habe Feuerwehrleute gesehen, die einsturzgefährdete Häuser sichern.

Die Situation wird erst wirklich besser werden, wenn es keinen Beschuss mehr gibt. Ich habe dieses Mal keine Hilfsersuche bekommen. Aber es war für mich offenkundig, dass mehr Hilfe nötig ist. Ich denke, dass die EU viel offensiver humanitäre Hilfe leisten muss. Ich habe während meines Besuches auch Kommissar Stylianides getroffen und werde jetzt mit ihm über neue Schwerpunkte für Hilfe aus der EU reden.

Wie kann und soll Europa der Ukraine generell und Awdijiwka speziell helfen?

Ich war schon während der ersten Verhandlungen in Minsk skeptisch. Ich bin inzwischen sehr sicher, dass wir keinen Waffenstillstand bekommen, wenn die Kontaktlinie nicht zum Beispiel von Blauhelmen garantiert wird. Nur ausgehend von einem Waffenstillstand und dem Abzug der russischen Waffen und Soldaten aus der Ukraine kann Frieden entstehen.

Bessere Verhältnisse und wirklicher Wiederaufbau sind erst damit möglich. Die humanitäre Hilfe für die Menschen im Osten muss viel stärker und sichtbarer werden. Und wir müssen weiter mit den Ukrainern die Ziele des Euromaidan verwirklichen. Putin wird durch die Erfolge der Reformen geschlagen.

Welche Stimmen gibt es im Europäischen Parlament zur Lage in der Ukraine? 

Die Mehrheit des Europäischen Parlamentes steht zur Ukraine. Die meisten von uns wissen, dass es im Krieg, den Putin gegen die Ukraine führen lässt, nicht nur um die Ukraine sondern um die Ukraine und um uns geht. Um Fundamente der Europäischen Idee von Freiheit und Souveränität.

Genauso wie meine Freunde in der Ukraine verzweifele auch ich manchmal an den Schwächen und Fehlern der EU. Es dauert zu lange mit der Visafreiheit. Es müsste doch jede Woche ein großer blauer Hilfskonvoi mit dem Sternenbanner nach Mariinka, Awdijiwka oder anderswo rollen.

Es ist unerträglich, dass Steinmeier, Ayrault und Mogherini immer wieder von zwei Konfliktparteien reden und vergessen machen, dass der Kreml der Aggressor und der Besatzer ist. Zu oft sieht es so aus, als müssten die Ukrainer auch noch gegen uns kämpfen. Wir in der EU müssen uns bessern. Und die Ukrainer, die sich die Europäische Idee nicht nehmen lassen werden, müssen verstehen, dass die EU auch untereinander in einem Prozess steckt. Zum Beispiel immer noch in einer Findung zwischen dem Osten und dem Westen. Die Ukrainer haben diesen Prozess durch ihre Entscheidung für Europa sichtbar gemacht. Das soll und kann nichts entschuldigen aber unsere Schwierigkeiten erklären.

In Kiew haben Sie sich mit der ukrainischen Abgeordneten Hanna Hopko getroffen und die Blockade des Donbass besprochen. Was denken Sie über diese Blockade? Wie kann sie demokratisch und transparent geregelt werden?

Ich habe ja in meiner letzten Rede von den drei Fronten gesprochen, an der die Ukrainer kämpfen. Die Reformfront haben sie gewählt. In den Krieg wurden sie von Putin gezwungen. Die Front der Zweifels am Westen und der EU müssen wir in der EU auflösen.

Eine vierte Front, eine interne, so wie sie durch die Blockaden sichtbar wird, kann sich das Land nicht leisten. Ich verstehe die Gründe für die Zweifel und die Kritik an dem Geschäft mit der Kohle gut. Aber ich glaube, dass die Konflikte, die sich darin zeigen, besser am Tisch und im Parlament zu lösen sind. Voraussetzung dafür ist unbedingt Transparenz, um die wirtschaftlichen Interessen einerseits und Zwänge andererseits aufzuzeigen. Das ist Aufgabe der Politik in Kiew und insbesondere die Regierung muss dazu besser beitragen. Parteipolitische Machtspiele rund um diese Blockaden nützen aber denen, die wollen, dass die Revolution der Würde scheitert.

Vor kurzem hat Russland Pässe der selbsternannten „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ anerkannt. Scheint es Ihnen nicht, dass sich die Situation mit Abchasien und Transnistrien wiederholt? Wie schätzt das Europarlament Putins Entscheidung ein?

Das war eine kalkulierte und harte Provokation. Während Lawrow in München vor Politikern aus aller Welt über den neuen Waffenstillstand und anderes schwadronierte, unterzeichnete Putin ein Dekret, dass nichts als Missachtung von Minsk bedeutet. Wir werden das in den kommenden Sitzungen bewerten müssen.

Nachdem ein zusätzliches Minsker Protokoll vor 2 Jahren unterschrieben wurde, ist der Konflikt immer noch nicht geregelt. Mehrere ExpertInnen meinen, dass dieses Protokoll in eine Sackgasse geraten ist.

Im letzten Interview mit der DW teilten Sie mit, dass die Minsker Vereinbarungen kritisch bearbeitet werden sollen. Die Ukraine soll die Kontrolle über ihre Grenze erhalten und schwere Waffen und russische Truppen sollen abgezogen werden. Wie können wir Russland und die Separatisten dazu zwingen? Haben Sie irgendwelche Vorschläge, wie wir aus dieser Sackgasse hinauskommen können? 

Ich wäre glücklich, wenn ich eine wirkliche Lösung wüsste. Wichtig ist, dass aus dem Westen und der EU nicht dauernd widersprüchliche Signale kommen. Die Russlandsanktionen dürfen nicht aufgegeben werden. Die Sanktionen sind die Grundlage einer nicht-militärischen Antwort auf die Aggression. Und jetzt ist eine gemeinsame Bewertung der Gründe wichtig, weshalb Minsk nicht funktioniert.

Vor neuen Gesprächen muss eine ehrliche Bilanz seitens der EU gezogen werden. Es darf nicht einfach wieder nur ein Appell an die “beiden Seiten” gerichtet werden. Die Besetzung der Ukraine ist eine Besetzung und die würde es ohne den Einsatz Russlands nicht geben. Und der Besetzer muss seine Waffen aus der Ukraine abziehen. Wenn das nicht passiert und stattdessen weiter immer wieder schwere Kämpfe stattfinden, dann muss gefragt werden: Was nun?

Ich war wie gesagt schon beim ersten Minsk Abkommen der Meinung, dass die Kontaktlinie von Blauhelmen gesichert werden müsste und dass die Beobachtung durch die OSZE gut gemeint, aber allein nicht ausreichend ist. Die politischen Architekten der Abkommen von Minsk müssen erkennen, dass die Ukraine Frieden braucht. Aber dass die russische Seite den Ukrainern diesen Frieden nicht lassen will. Wladimir Putin hat offenkundig ein Interesse daran, den Krieg immer wieder aufflammen zu lassen. Gerade wer für eine diplomatische Lösung gestützt auf Sanktionen eintritt, muss das sehen.

Neue Verhandlungen dürfen diese Erfahrung aus den letzten Jahren nicht ignorieren. Darüber hinaus ist es gegenüber Russland wichtig, Klarheiten zu schaffen. Die EU darf sich nicht in eine Rüstungsspirale drängen lassen, aber muss schnell zu einer vernünftigen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik findet. Genauso ernsthaft muss die EU sich aus der Energieabhängigkeit von Russland herausarbeiten und darf sie mit Nordstream 2 auf keinen Fall vertiefen. Die EU darf nicht durch Energieimporte aus Russland dauerhaft Putins Aufrüstung finanzieren.

Christian Dieter, Olena Shubkina