Blutbeflecktes Papier: Die Entkommunisierung und die Öffnung der KGB-Archive in der Ukraine

Einer Analyse des Razumkow-Forschungszentrums zufolge, die am 10. April 2017 veröffentlicht wurde, meinen 69 Prozent der ukrainischen Politik-Experten, dass die Entkommunisierung in der Ukraine sich positiv auf die Entwicklung der nationalen Identität auswirkt. 21 Prozent meinen das Gegenteil. Befragt wurden Wissenschaftler, Fachleute öffentlicher und privater Forschungseinrichtungen, Politiker, Experten und Journalisten. Insgesamt 105 Fragebögen gingen ein. Doch was sind die Gründe für eine positive Bewertung der Entkommunisierung in der Ukraine? Das Ukraine Crisis Media Center ist dieser Frage nachgegangen. Dabei zog es eine Studie hinzu, die sich mit der Entkommunisierung in anderen europäischen Ländern befasst. Die Studie wurde vom ukrainischen “Zentrum zur Erforschung der Befreiungsbewegung” vorgelegt, einer unabhängigen gesellschaftlichen Organisation, die verschiedene Aspekte der ukrainischen Befreiungsbewegung im 20. Jahrhundert untersucht.

Die Entkommunisierung im osteuropäischen Kontext

In den Ländern Mittel- und Osteuropas begann die Entkommunisierung nach dem Fall der kommunistischen Regimes. Im Unterschied zum Nazismus gab es nach den Verbrechen des Kommunismus keinen internationalen Prozess, mit dem diese verurteilt worden wären. Somit wurden auch keine allgemein geltenden Prinzipien für eine Entkommunisierung festgelegt. Gegenwärtig gibt es nur einige allgemeine Grundsätze für eine Entkommunisierung, die aus Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europäischen Parlaments hervorgehen. Aber sie sind meist sehr allgemein gehalten und haben nur empfehlenden Charakter.

Wenn man sich die Entkommunisierungs-Gesetze in Mittel- und Osteuropa und auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion anschaut, dann kann man diese Länder in drei Gruppen einteilen.

Die erste Gruppe bilden die Tschechische Republik, Polen und die baltischen Staaten. In diesen Ländern erfasste die Entkommunisierung alle oder die meisten Bereiche des öffentlichen Lebens. Dort wurde in irgendeiner Form das kommunistische Regime verurteilt. Vorgesehen wurde ein mögliches Verbot kommunistischer Symbole, eine Lustration ehemaliger Staatsdiener, eine Öffnung der Archive der kommunistischen Sicherheitsdienste sowie ein besonderer Status für Personen, die gegen das kommunistische Regime gekämpft haben.

Die zweite Gruppe sind Länder, in denen die Entkommunisierung nur bestimmte Lebensbereiche betraf und sich zum Beispiel auf die Lustration, die Öffnung der Archive der kommunistischen Geheimdienste oder auf ein Verbot kommunistischer Symbole beschränkte. Zu diesen Ländern zählen zum Beispiel Deutschland und Albanien. In Deutschland ist das kommunistische Regime oder die kommunistische Ideologie vom Gesetzgeber nicht als verbrecherisch eingestuft worden. Die Entkommunisierung hat sich in Deutschland nur auf die Öffnung der Archive der Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, auf die Lustration ihrer ehemaligen Mitarbeiter und auf das Verbot von Symbolen nur einer Partei kommunistischer Ausrichtung beschränkt.

In der dritten Gruppe von Ländern hat eine Entkommunisierung überhaupt nicht stattgefunden, oder sie hatte nur formalen Charakter. Das sind Länder wie Belarus und andere ehemalige Sowjetrepubliken. Zu dieser Gruppe gehörte auch die Ukraine, bis im Jahr 2015 Gesetze zur Entkommunisierung erlassen wurden.

Die Entkommunisierungs-Gesetze in der Ukraine

Am 21. Mai 2015 ist in der Ukraine ein Gesetzespaket zur Entkommunisierung in Kraft getreten. Es enthält folgende Gesetze: “Über die Verewigung des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945”, “Über den rechtlichen Status und die Verehrung der Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert”,  “Über den Zugang zu Archiven der repressiven Organe des kommunistischen totalitären Regimes zwischen 1917 und 1991” und “Über die Verurteilung des kommunistischen und nationalsozialistischen (nazistischen) totalitären Regimes in der Ukraine und das Verbot der Propagierung ihrer Symbole”.  Mit diesen Gesetzen unternahm die Ukraine einen entschiedenen Schritt, um mit der totalitären Vergangenheit und dem verbrecherischen Umgang mit der Gesellschaft zu brechen.

Die Öffnung der KGB-Archive in der Ukraine

Während die Umbenennung von Straßen und der Abriss von Monumenten der Sowjetära sowie die Verehrung von Kämpfern für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert in der ukrainischen Gesellschaft und im Ausland manchmal kritisiert wird, so wird doch die Öffnung der KGB-Archive klar als Revolution bei der angemessenen Beurteilung der Vergangenheit betrachtet. Die Ukraine gehört zu den postsowjetischen Ländern, in denen der Zugang zu KGB-Archiven am einfachsten ist. Zu diesem Ergebnis kommen die Experten der Studie des ukrainischen “Zentrums zur Erforschung der Befreiungsbewegung”. In der Studie untersuchen die Experten den Umgang mit der Entkommunisierung in der Tschechischen Republik, in der Slowakei, in Ungarn, in den baltischen Staaten, in Albanien, Bulgarien, in der Republik Moldau, in Georgien und Rumänien.

Den ukrainischen Entkommunisierungs-Gesetzen liegt die Formel “alles ist für alle offen” zugrunde. Es spielt keine Rolle, ob man ukrainischer Staatsbürger ist oder nicht, ob man Angehöriger ist oder in einem anderen Verhältnis zu der Person steht, die in den archivierten Dokumenten erwähnt wird. Für alle gilt dasselbe Zugangsrecht.

Im Jahr 2016 sind im Vergleich zu 2014 die Anfragen an die Archive um 138 Prozent gestiegen. Die Anzahl ausländischer Forscher, die in den KGB-Archiven arbeiten wollen, hat sich im Jahr 2016 im Vergleich zu 2015 verdoppelt. Die Hälfte der mehr als 3000 Menschen, die im Jahr 2016 eine Anfrage gestellt haben, suchten nach Informationen über Angehörige.

Um Zugang zu einem KGB-Archiv zu bekommen, muss man nur wenige Bedingungen erfüllen. Es genügt in der Anfrage anzugeben, über welche Person Informationen gesucht werden. Bezahlen muss man nichts, nicht einmal das Kopieren von Dokumenten. Ausländer müssen einer Anfrage die Kopie ihres Reisepasses beifügen. Wenn dies eine Woche im Voraus geschieht, reicht dies aus, damit der ausländische Staatsbürger sich Dokumente anschauen kann. Das, was in Russland immer noch als “top secret” gilt, also Akten von Opfern sowjetischer Repressionen, ist in der Ukraine allgemein zugänglich.

Recht auf Wissen versus Recht auf Privatsphäre

Während der Ausarbeitung der Entkommunisierungs-Gesetze wurde vor allem darüber diskutiert, was wichtiger ist und was Vorrang hat: das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf persönliche Daten, oder das Recht der Gesellschaft zu wissen, was wirklich in der Zeit des kommunistischen totalitären Regimes in der Ukraine geschah.

Der Gesetzgeber kam zu folgendem Schluss: Ausgehend von den Risiken im Zusammenhang mit dem hybriden Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist es wichtig, dass jeder die Möglichkeit hat, nachzusehen, was tatsächlich in den Archiven liegt, damit jeder für sich selbst eigene Schlüsse ziehen kann. Einer der wichtigsten Punkte der Entkommunisierungs-Gesetze ist daher, dass der von anderen Gesetzen vorgesehene Schutz persönlicher Daten nicht für die Dokumente der repressiven sowjetischen Staatsorgane gilt. Daher kann man sagen, dass die Entkommunisierungs-Gesetze in der Ukraine zu den offensten in Europa zählen.

Aber die Gesetze sehen auch die Möglichkeit vor, dass diejenigen, die Informationen über sich selbst unter Verschluss halten wollen, dies tun können, aber nicht länger als 25 Jahre. Dies gilt insbesondere für die Opfer von Repressionen. Diejenigen, die Repressionen vollstreckt haben oder an ihnen beteiligt waren, beispielsweise Denunzianten, können keine Dokumente über sich unter Verschluss halten. “Wir hatten einen Fall, wo die Tochter eines ehemaligen Mitarbeiters des NKWD (sowjetischer Geheimdienst und Vorläufer des KGB) uns geschrieben hat, sie wolle Informationen über sich selbst unter Verschluss halten. Wenn wir also Dokumente über ihren Vater herausgeben, dann werden wir Kopien von den Seiten machen, auf denen die Tochter erwähnt wird. Diese Kopien werden anonymisieren und erst dann herausgeben”, sagte Andrij Kohut, Direktor eines Archivs.

“Einmal KGB, immer KGB”

Seit 2014 läuft die Lustration. Ihr zufolge dürfen all diejenigen, die für den KGB gearbeitet haben, nicht in staatlichen Einrichtungen der Ukraine tätig sein. Die Archive bearbeiten Lustrations-Anfragen von staatlichen Institutionen. Gemäß dem ukrainischen Lustrationsgesetz stellt jede Einrichtung selbst eine Anfrage. In jeder Behörde gibt es eine Abteilung, die sich mit der Lustration befasst. Sie fragt bei Archiven an, ob bestimmte Personen Mitarbeiter des KGB waren. Falls ja, ist dies ein Kündigungsgrund.

“Einmal hat uns ein Mann geschrieben, der beweisen wollte, dass der KGB der Udmurtischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik nichts mit dem KGB der Sowjetunion zu tun gehabt habe. Er betonte, in den Entkommunisierungs-Gesetzen würde nur der KGB der Sowjetunion erwähnt, aber Udmurtien sei eine autonome Republik gewesen“, berichtete der Archivdirektor Kohut. “Es gab Fälle, wo man beweisen wollte, dass Personen nur als Offiziere in einiger Grenzwache gearbeitet haben. Aber alle sowjetischen Grenzsoldaten gehörten zum KGB. Sorry, das Gesetz gilt für alle gleich. Wenn man meint, das Gesetz gelte für einen nicht, dann muss man vor Gericht ziehen”, fügte er hinzu. Kohut zufolge gab es aber auch Fälle, wo Menschen um Auskunft gebeten haben, ob es über sie im Archiv Material als KGB-Mitarbeiter gibt. “Sie fragten an, weil sie sich um Posten in staatlichen Einrichtungen bewerben wollten”, so der Archivdirektor.