Wie Putin die Ukraine verlor: Des Kremls Hochmut, der Russland in einen selbstzerstörerischen hybriden Ukraine-Krieg führte

Russian President Vladimir Putin had hoped to seize large parts of mainland Ukraine with his 2014 hybrid invasion - instead, the campaign has served to consolidate Ukrainian national identity while dealing a historical blow to Russia influence in Ukraine

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte sich erhofft, 2014 mit seiner hybriden Invasion weite Teile der Ukraine an sich zu reißen. Doch stattdessen festigte die Invasion die nationale ukrainische Identität und versetzte dem russischen Einfluss in der Ukraine einen historischen Schlag.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Business Ukraine Magazine.

Das Business Ukraine Magazin hat einen Artikel von Peter Dickinson über den hybriden Krieg Russland gegen die Ukraine veröffentlicht. Dickinson gestattete freundlicherweise dem Ukraine Crisis Media Center (UCMC), den gesamten Text zu übernehmen. Darin wird ausführlich erklärt, was in den letzten drei Jahren in der Ukraine geschah. Hier eine vom UCMC angefertigte deutsche Übersetzung des Artikels:

Russlands hybrider Krieg gegen die Ukraine ist jetzt in seinem vierten Jahr. Es gab aber eine Zeit, als viele dachten, er werde nicht einmal vier Wochen dauern. Die nahezu unblutige Eroberung der Krim, die Anfang 2014 kampflos russischen Truppen anheimfiel, verführte die meisten Beobachter zu denken, die Ukraine sei praktisch wehrlos und Moskau auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Im Frühjahr 2014 war dies sicherlich auch Konsens in der russischen Hauptstadt. Dort begannen schon viele kühne Geister davon zu sprechen, die traditionellen Mai-Feiertage in Kiew selbst zu feiern. Eine solche Prahlerei schien durchaus angebracht zu sein. Nach Monaten der Proteste gegen die Regierung taumelte die Ukraine noch. Die Proteste hatten zu Chaos im ganzen Land geführt und gipfelten in der Flucht von Präsident Viktor Janukowytsch und im Zusammenbruch seiner gesamten Administration.

Die ukrainische Übergangsregierung, die in aller Eile Janukowytsch ersetzte, galt weithin als verfassungsrechtlich nicht völlig legitimiert. Gewiss war sie nicht in der Position, eine militärische Konfrontation mit der Russischen Föderation zu riskieren. Es öffnete sich für Moskau ein klares Fenster für die Gelegenheit, sich in der Ukraine selbst wieder zu behaupten und so zu verhindern, dass das Land sich geopolitisch der euro-atlantischen Gemeinschaft zuwendet. Putin entschied, ermutigt durch den beeindruckenden Erfolg seines anfänglichen Spiels auf der Krim, den Einsatz zu erhöhen. Damit ging er das bis dahin wahrscheinlich größte Risiko seiner politischen Laufbahn ein.

Der Traum von Neurussland

Die anschließende Operation, die sich im März und April 2014 entfaltete, sah die Eroberung der Hälfte der Ukraine vor – durch eine Reihe lokaler Aufstände, angeführt von Kreml-Agenten, unterstützt von irregulären russischen Truppen und lokalen Kollaborateuren. Diese neu akquirierten Gebiete sollten zu “Novorossia” oder “Neurussland” werden. Wäre Putins dreiste Offensive erfolgreich gewesen, wäre die unabhängige Ukraine von der Landkarte ausradiert worden. Das gesamte europäische Gleichgewicht der Kräfte wäre radikal verändert.

Es war eine gut geplante und zentral koordinierte Kampagne. Abgefangene Telefongespräche und gehackte Emails hochrangiger Kreml-Berater, darunter von Wladislaw Surkow und Sergej Glasjew, lieferten wesentliche Einblicke in Russlands Bestreben, die Kontrolle über die Regionalverwaltungen in den wichtigsten Städten des gesamten Südens und Ostens der Ukraine zu erlangen. Einschließlich Charkiw, Dnipro, Odessa und Cherson. Jene durchgesickerten Informationen stimmten mit den Ereignissen in der Ukraine vor Ort überein, als die Operation des Kremls ihren Lauf nahm. Das Muster war immer gleich: Russland versuchte die Kontrolle über die Regionalverwaltungen durch lokale Stellvertreter zu übernehmen. Diese sollten dann nach einer direkten Intervention des Kremls rufen. Indes zog Moskau komplette russische Armeen an der ukrainischen Grenze zusammen, um Kiew zu entmutigen, zurückzuschlagen.

Die Überlebenschancen der Ukraine als unabhängiger Staat schienen einige prekäre Wochen lang schnell zu schwinden. Doch der gefürchtete russische Durchmarsch bis zum Dnipro wurde nie ganz Wirklichkeit. Die russischen Aufstände im Südosten der Ukraine wurden erstickt. Der Kreml fand sich in der Ukraine beschränkt auf einen kleinen Brückenkopf, der sich innerhalb der Grenzen der Regionen Donezk und Luhansk im östlichsten Grenzgebiet der Ukraine befindet. Drei Jahre später ist der Kreml immer noch da und steckt in einem Morast fest, den er selbst geschaffen hat. Aber warum blieben Putins kühne Pläne für ein neues Imperium auf dem ukrainischen Festland so dramatisch hinter den Erwartungen zurück?

Die Ukraine wurde unterschätzt

Vielleicht kann man verstehen, dass die russischen Strategen die Fähigkeit der Ukraine zurückzuschlagen, völlig unterschätzt haben. Wegen jahrelanger Unterfinanzierung und Korruption stand dem ukrainischen Militär im Frühjahr 2014 eine Truppe aus nur 6000 kampfbereiten Mann zur Verfügung. Das war eine lächerliche und zerschlissene Truppe, die nicht einmal fähig war, die Grenzen des Landes zu schützen, geschweige denn Städte zu verteidigen. Dies ließ in den Augen des Kremls die bevorstehende Offensive als ausgemachte Sache erscheinen.

Was Moskau aber nicht erwartet hatte, war die Woge patriotischer Gefühle, die im Zuge des russischen hybriden Überfalls durch die gesamte Ukraine ging. Tausende Ukrainer griffen im Frühjahr 2014 zu Waffen und bildeten Freiwilligen-Bataillone. Sie stärkten die äußerst fragile Verteidigung des Landes und stoppten den russischen Vormarsch. Hinter ihnen stand eine Armee ziviler Freiwilliger, die improvisierte logistische Unterstützung lieferte. Buchstäblich alles, von Lebensmitteln und Uniformen bis hin zu Rüstung und Munition. In vielen Städten, die Ziel der russischen hybriden Offensive waren, mobilisierte sich die lokale Bevölkerung, um die Pläne des Kremls zu vereiteln. Die Menschen gingen auf die Straße und füllten die Leere, die durch die korrupten und ineffektiven staatlichen Institutionen entstanden war. Das Wunder dieser Freiwilligen-Bewegung rettete die Ukraine und versetzte den Kreml in seine jetzige Zwangslage.

Russlands Verweigerung

Dass Russland nicht vorhersehen konnte, welchen Gegenschlag sein Angriff in der Ukraine hervorrufen würde, überrascht kaum. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Ukraine-Politik des Kremls von einer giftigen und selbstzerstörerischen Mischung aus Wunschdenken und kolonialer Herablassung getrieben. Dies ist in der Vorstellung verwurzelt, die Ukraine sei Bestandteil des historischen russischen Staates. Jahrelang hat Wladimir Putin immer wieder seine Überzeugung geäußert, Ukrainer und Russen seien “ein Volk”. Deren Schicksal sei, miteinander verbunden zu bleiben. Allerdings spricht wenig dafür, dass er dies als gleichberechtigte Partnerschaft betrachtet. In der Tat hatte im Jahr 2008 der russische Präsident Berichten zufolge dem US-Präsidenten George W. Bush gesagt, die Ukraine sei “nicht einmal ein richtiges Land”.

Diese Überzeugungen sind keineswegs nur auf die oberen Etagen des Kremls beschränkt. Sie sitzen tief in der russischen Gesellschaft, wo viele die postsowjetische Loslösung der Ukraine von Russland als künstlich und vorübergehend betrachten. Sie wehren sich immer noch dagegen, die Realität zu akzeptieren, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat ist. In diesem Kontext gilt die Ukraine nicht als fremdes Land, in der Art und Weise wie Frankreich und Deutschland, nicht einmal wie die postsowjetischen Länder Georgien und die baltischen Staaten.

Die so verstandene Unteilbarkeit geht auf die tiefen historischen Beziehungen zurück, die Russland und die Ukraine verbinden. Sie teilen den orthodoxen Glauben und die slawische ethnische Identität. Beide Nationen führen ihren Ursprung auf den frühmittelalterlichen Staat “Kiewer Rus” zurück und verehren die gleichen slawischen Fürsten aus jener Zeit. Im 20. Jahrhundert verwischten die Trennlinien zwischen Russland und der Ukraine zunehmend aufgrund einer erbarmungslosen Russifizierungspolitik in der sowjetischen Ukraine und eines massiven Bevölkerungstransfers in beiden Richtungen. Im Ergebnis haben Millionen von Familien jetzt Verwandte auf beiden Seiten der Grenze.

Das moderne Russland und die Ukraine stehen sich immer noch kulturell näher wie keine anderen zwei europäischen Nationen. Bis zum Ausbruch des jetzigen Konflikts hatten sie eine gemeinsame Popkultur mit den selben Stars, TV-Shows und Filmen sowie mit der selben Literatur und Musik. Auch die Pointen von Witzen gingen durch Übersetzung nicht verloren. Social Media Memes wurden ohne großen Aufwand zwischen russischen und ukrainischen Usern verbreitet. Ukrainische Popstars waren in Russland bekannt, während russische Seifenopern zur besten Sendezeit im ukrainischen Fernsehen liefen.

Wegen der ungezwungenen Intimität und generationenübergreifenden Vertrautheit, auf der dieses Verhältnis stützt, fällt es besonders den Russen schwer, die ukrainischen Versuche zu akzeptieren, sich der euro-atlantischen Welt anzunähern. Obwohl diese Entwicklung vielleicht unvermeidbar ist, haben viele sich entschieden, sie als unerklärlichen und verabscheuungswürdigen Verrat anzusehen. Diese Haltung übersieht aber die Unterschiede, die zwischen Russland und der Ukraine immer bestanden. Trotz der kulturellen Nähe der beiden Nationen hat die Ukraine eine lange Geschichte von Versuchen, eine eigene nationale Identität zu behaupten. Dieser Kampf reicht mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und wohl noch viel weiter zurück. Er war immer Teil des Verhältnisses zwischen Russen und Ukrainern, trotz wiederholter und oft brutaler Versuche der zaristischen und sowjetischen Machthaber, ihn zu unterdrücken. In vielerlei Hinsicht sind die Ereignisse der letzten drei Jahre nur das jüngste Kapitel in einer der längsten Epen der europäischen Geschichte.

Unterschiedliche postsowjetische Wege

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion traten die Unterschiede zwischen den beiden Ländern immer stärker zutage. Die ukrainische und russische Gesellschaft bewegten sich in zunehmend unterschiedlichen Bahnen. Aus den chaotischen 1990er Jahren ging die Ukraine gewillt hervor, dem Weg der europäischen Integration zu folgen, während Russland eine Rückkehr zur Stabilität des autoritären Imperiums suchte. Eine ganze Generation von Ukrainern, die die gemeinsame sowjetische Vergangenheit nicht mehr kennt, ist erwachsen geworden und hat dem wachsenden Selbstwertgefühl des Landes eine Stimme gegeben. Überwältigend begeistert sie sich für die Idee der europäischen Identität der Ukraine. Eine Wiedervereinigung mit einem russischen Staat, der sich in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen scheint, lehnt sie ab.

Diese wachsende Kluft zur Ukraine ist für viele in Russland wirklich beunruhigend. Sie kommt zugleich dem Kreml äußerst ungelegen. Anstatt die unterschiedlichen Wege der beiden Länder anzuerkennen, zieht es Moskau vor, die Unabhängigkeit der Ukraine als gemeinsames Werk radikaler Nationalisten und ausländischer Agenten darzustellen. Bekanntlich schreibt der Kreml die beiden postsowjetischen Volksaufstände in der Ukraine fast ausschließlich dieser Mischung aus extremem Nationalismus und heimtückischen westlichen Einfluss zu, obwohl die entscheidende Rolle sowohl bei der Orangenen Revolution 2004 als auch bei der Euromaidan Revolution 2014 Millionen gewöhnliche Ukrainer gespielt haben.

Jene Selbsttäuschungen führten Russland in die katastrophale Fehleinschätzung bei der Novorossia-Kampagne. Basierend auf jenen selbst sorgfältig gepflegten Vorstellungen von der Ukraine gab es allen Grund zu erwarten, dass es ein herzliches Willkommen geben wird, wenn Kreml-Agenten die Kontrolle über ganze Regionen übernehmen und nach russischer militärischer Unterstützung rufen werden. Als dieses Willkommen aber nicht eintrat, gab Russland die Schuld dafür einer bunt gemischten Truppe aus Phantom-Faschisten, CIA-Agenten und anderen internationalen Bösewichten. In Wirklichkeit hat der Kreml einfach dabei versagt, die Stärke des ukrainischen nationalen Geistes richtig einzuschätzen. Vor allem unter den Millionen Menschen, die russischsprachig und nicht ukrainischer ethnischer Abstammung sind. Dieses Versagen war das direkte Ergebnis der jahrzehntelangen Leugnung der Ukraine durch die ganze russische Gesellschaft.

Der daraus resultierende Konflikt hat die Welt in einem neuen Kalten Krieg gestürzt und Millionen von Ukrainern unsägliches Leid gebracht. Aber er hat auch das Nationalgefühl der Ukraine konsolidiert. Zugleich erinnert er sowohl vor Ort als auch weltweit die Öffentlichkeit an die Unterschiede zwischen diesen beiden historisch eng verbundenen Nationen. Das Novorossia-Projekt des Kremls sollte die Unabhängigkeit der Ukraine beenden, die viele in Russland als Irrweg betrachten. Stattdessen hat es die Stellung des Landes auf der europäischen Landkarte zementiert und Putin den unerfreulichen Ruf als Mann beschert, der die Ukraine verlor.