Naftogaz gegen Gazprom: Kann die Ukraine den Gaskrieg gewinnen?

Am 31. Mai verkündete das Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer einen vorläufigen Schiedsspruch zwischen Gazprom und Naftogaz. Die ukrainische Partei betrachtet diese Entscheidung bereits als Sieg des Jahres, während Russland keine Niederlage darin sehen will. Außerdem behauptet Russland, durch diese Entscheidung profitieren zu können. Hat Gazprom in diesem Streit mit Naftogaz wirklich verloren?

Das Ukraine Crisis Media Center sammelte Kernaussagen zu diesem Fall auf Basis von Artikeln in der Ukrainska Prawda und LB.ua

Wie alles begann

Ende 2008 beschuldigte Russland die Ukraine, Gazprom Milliarden für bereits geliefertes Gas zu schulden. Ab Januar 2009 stellte Russland die Gaslieferungen für die Ukraine ein. Am 7. Januar 2009 erhielten auch europäische Länder kein Gas mehr [das durch die Ukraine nach Europa geliefert wurde]. Am 17. Januar 2009 verkündeten die damalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und der russische Präsident Wladimir Putin einen neuen Gasliefervertrag.

Laut den Vertragsbedingungen erhielt die Ukraine russisches Gas zu einem hohen Preis. Der Vertrag verpflichtete Naftogaz, jährlich 52 Milliarden Kubikmeter Gas nach der Formel „Take-or-Pay“ abzunehmen. Die Formel besagte, dass das ukrainische Unternehmen den gesamten Gasumfang bezahlt, unabhängig davon, ob sie die gesamten 52 Milliarden Kubikmeter Gas aus der Russischen Föderation abnimmt.

Wie viel russisches Gas verbrauchte die Ukraine?

Die Ukraine konnte den gesamten im Vertrag genannten Gasumfang nicht abnehmen, da es für diese Menge gar keinen Bedarf gab. 2010 betrug der Gasverbrauch laut Angaben von Naftogaz zirka 57,6 Milliarden Kubikmeter, wovon 36,47 Milliarden Kubikmeter importiert wurden. 2011 nahm die Ukraine von Gazprom zirka 40 Milliarden Kubikmeter Gas ab. 2012 importierte die Ukraine zirka 33 Milliarden Kubikmeter, einschließlich Gas, das von dem Unternehmen Ostchem von Dmitij Firtasch stammte. Bereits 2013 verringerte die Ukraine den russischen Gasimport auf 28 Milliarden Kubikmeter.

2014 begann die Ukraine, nach weiteren Lieferquellen für Gas zu suchen, wodurch sich 2014 der Import von russischem Gas auf 14,5 Milliarden Kubikmeter und 2015 auf 6,1 Milliarden Kubikmeter verringerte. Mit Stand vom 9. Juni 2017 importierte die Ukraine bereits seit 560 Tagen kein russisches Gas mehr.

Alles nur Politik?

Noch unter dem ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch wurde das skandalöse Charkiwer Abkommen unterzeichnet, laut dem die Ukraine von 2017 bis 2042 der russischen Flotte die Krim verpachtete. Dafür hätte sie 30 Prozent Rabatt auf russisches Gas erhalten. Aber ab 2014, nach der Revolution der Würde, setzte Gazprom den Gaspreis für die Ukraine auf 485 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter fest (für Europa betrug der durchschnittliche Gaspreis 349 US-Dollar).

*grün markiert – der durchschnittliche Preis für Europa, schwarz markiert – Preis für die Ukraine

Nach der Revolution 2013/2014 schrieb Wladimir Putin einen Brief an die europäischen Staats- und Regierungschefs, in dem er erklärte, dass Russland die Ukraine im Rahmen des Charkiwer und anderer Abkommen unterstützt hätte. Der Pressesprecher von Putin erklärte später, dass es dabei um zirka 35,4 Milliarden US-Dollar ging. Gleichzeitig forderte Russland von der Ukraine, Gas zu den Preisen und in den Umfängen abzunehmen, wie es im Vertrag von 2009 festgelegt wurde.

Der Beginn des Gerichtsprozesses von Naftogaz gegen Gazprom

Im Juni 2014 wandte sich Naftogaz mit der Bitte an das Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer, den Gasliefervertrag, den Timoschenko unterzeichnete, zu revidieren.

Naftogaz bestand bei der Revision auf einen Gaspreis, wie er ab 20. Mai 2011 galt. Außerdem forderte Naftogaz, eine Passage im Liefervertrag zu ändern, und zwar im Abschnitt, der die Gasumfänge nach dem Prinzip „Take-or-Pay“ betrifft. Die Staatsholding wollte das Recht auf einen einseitigen Lieferstopp und die Änderung der Bestimmung im Bereich des Reexportverbots für Gas. In diesem Zusammenhang forderte Naftogaz von Gazprom eine Straf- und Zinszahlung in Höhe von 30,3 Milliarden US-Dollar.

Gazprom stellte ebenfalls Forderungen an Naftogaz

Im Juni 2014 wandte sich auch Gazprom an das Schiedsgericht in Stockholm, um von Naftogaz vermeintliche Schulden in Höhe von 47,1 Milliarden US-Dollar einzufordern. In der Summe sind Strafen und Zinsen für geliefertes Gas enthalten, sowie 34,5 Milliarden US-Dollar als Sanktion für die Regelung „Take-or-Pay“ von 2012 bis 2014, sowie für das dritte Quartal 2015 und das zweite bis vierte Quartal 2016. 2,2 Milliarden US-Dollar beziehen sich auf den strittigen Gaspreis im vierten Quartal 2013 und das zweite Quartal 2014.

Das ist nicht die erste Klage gegen Gazprom: Europäische Erfahrungen

2009 beschloss die Europäische Union das Dritte Energiepaket, worin gefordert wird, die Konkurrenz auf dem Energiemarkt zu erhöhen. Die neuen Regeln verpflichten dazu, dass Unternehmen, die Energieträger fördern und befördern, getrennt werden und dass Dritten der Zugang auf Leitungssysteme und andere Infrastruktur gewährt wird. Das Dritte Energiepaket durchkreuzte die Pläne von Gazprom, sich in die Infrastruktur des europäischen Gasmarkts einzukaufen.

Die Preise auf dem Gasmarkt fielen, während die Preise bei langfristigen Verträgen für europäische Länder auf hohem Niveau bestehen blieben. Unternehmen in Europa versuchten deshalb, die Verträge mit Gazprom neu zu verhandeln oder vor Gericht eine Revision einzuklagen.

Zwischen 2009 und 2015 war Gazprom insgesamt 65 Mal gezwungen, die Verträge mit 30 europäischen Unternehmen zu revidieren, heißt es in einer Untersuchung eines führenden russischen Instituts für Energie (siehe Abbildung und Bericht). Gazprom musste unter anderem Rabatte an Verbraucher vergeben und die Formel „Take-or-Pay“ verringern. Mit Stand von 2015 wurden vier Klagen gegen Gazprom bei internationale Schiedsgerichten eingereicht; acht Unternehmen stellten die Forderung, die Vertragspreise zu revidieren.

Vorläufiger Schiedsspruch im Fall der Ukraine

Am 31. Mai 2017 fällte das Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer eine Sonderentscheidung bei der Klage Naftogaz gegen Gazprom.

Laut offiziellen Meldungen der Vertreter von Naftogaz und des ukrainischen Außenministeriums berührte der Schiedsspruch drei Kernfragen.

Erstens wurde die Bedingung „Take-or-Pay“ von Gazprom komplett aufgehoben. Diese Vertragsbedingung sieht vor, dass der Käufer mindestens den definierten Gasumfang bezahlen muss, unabhängig von der tatsächlich abgenommenen Menge in der vereinbarten Zeit (52 Milliarden Kubikmeter pro Jahr).

Zweitens ging das Schiedsgericht auf die Forderung der ukrainischen Staatsholding ein, den Gaspreis im Liefervertrag von Gasprom unter Berücksichtigung der Bedingungen auf dem europäischen Markt zu revidieren. Laut der Entscheidung des Stockholmer Schiedsgerichts wurde der Gaspreis ab 2014 gesenkt. Dabei bat Naftogaz, den Preis für Gas, das vom 20. Mai 2011 bis Oktober 2015 gekauft wurde, zu revidieren. Damit ändert sich der Gaspreis von 2011 bis 2013 nicht.

Allerdings sind die Chancen darauf, dass Gazprom den Unterschied für den überhöhten Preis kompensiert, relativ gering.

Drittens wurde die Forderung der Ukrainer befriedigt, das Reexportverbot von Gazprom für Gas von anderen Gesellschaften aufzuheben. Anfang März verpflichtete sich Gazprom vor der Europäischen Kommission, alle Barrieren aus den Verträgen zu nehmen, die eine freie Weiterleitung von Gas auf die Märkte von Zentral- und Osteuropa behindern. Gazprom versprach unter anderen, alle direkten und indirekten Vertragsbeschränkungen herauszunehmen, die seinen Kunden eine Weiterleitung von Gas ins Ausland untersagen oder es wirtschaftlich uninteressant machen.

Warum so viel Aufregung um eine vorläufige Entscheidung?

Gazprom bewertet die vorläufige Entscheidung des Schiedsgerichts der Stockholmer Handelskammer über die Bedingungen der Gaslieferverträge mit der ukrainischen Naftogaz für sich positiv, teilte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende von Gazprom, Alexander Medwedew, mit. Er wiedersprach auch der Erklärung der ukrainischen Seite, dass das Gericht die Vertragsregelung „Take-or-Pay“ aufgehoben hätte.

Nach Meinung von ukrainischen Experten wird die endgültige Entscheidung, die von den Prozessbeobachtern im Juni erwartet wird, keine prinzipiellen Änderungen enthalten.

Was die Gasverträge betrifft, die zwischen Gazprom und Naftogaz unterzeichnet wurden, ist die Entscheidung des Stockholmer Schiedsgerichts endgültig und man kann sich nicht darüber beschweren.