Halbzeit im Parlament

Im Februar 2014 ist der damalige Präsident der Ukraine, Viktor Janukowytsch, nach langen friedlichen proeuropäischen Demonstrationen und blutigen Auseinandersetzungen im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach Russland geflohen. Die daraufhin vom Parlament eingesetzte Übergangsregierung kündigte vorgezogene Wahlen an. Sie mussten vor dem Hintergrund der Annexion der Krim durch Russland und dem sogenannten “hybriden Krieg” des Kremls im Osten der Ukraine vorbereitet werden. Aufgrund der russischen Besatzung konnten die Wahlen auf der Krim und in einigen Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk nicht abgehalten werden. Die Hauptforderung der ukrainischen Öffentlichkeit an das neue Parlament war die von Janukowytsch abgelehnte Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union. Erwartet wurden Reformen im Lande, darunter des Regierungssystems. Verlangt wurde zudem eine transparente Aufklärung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Revolution der Würde. Darüberhinaus erwartete die ukrainische Gesellschaft vom Parlament eine Dekommunisierung des Landes.

Junges Parlament

Das neue Parlament ist nicht nur aufgrund der Situation, in der es gewählt wurde, ein besonderes. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten sind neue Gesichter. Die Wähler wollten “frisches Blut“ und sie bekamen es. Im Parlament sitzen Helden vom Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, wo sich das Zentrum der Revolution der Würde befand. Aber auch Soldaten, Freiwillige und Journalisten zogen ins Parlament ein. Unter den neuen Abgeordneten ist beispielsweise Mychajlo Hawryljuk. Er war während der Maidan-Ereignisse durch ein Video bekannt geworden, in dem zu sehen ist, wie er von Angehörigen der Spezialeinheit “Berkut” misshandelt wurde. Im Parlament sitzt ferner Jurij Beresa, der Kommandeur des Freiwilligen-Bataillons “Dnipro”, das als eines der ersten auf die Aggression aus dem Osten reagiert hatte. Abgeordneter ist auch der Oberst der ukrainischen Armee von der Krim, Julij Mamtschur. Bekannt wurde er durch seinen mutigen Einsatz, als er sich ohne Waffen einem russischen Panzer entgegengestellt hatte. Im Parlament sitzen ferner Tatjana Tschornowol, eine kompromisslose Journalistin, Dmytro Tymtschuk, der ein Freiwilligen-Projekt gegründet hatte, das die Öffentlichkeit über die militärische und politische Lage im Land informiert, sowie viele andere Persönlichkeiten.

Dem Parlament gehören insgesamt 422 Abgeordnete an. Ein Drittel von ihnen sind Mitglieder der Präsidenten-Partei “Block Petro Poroschenko”. Die zweitgrößte Partei “Volksfront”, gegründet von Arsenij Jazenjuk und Oleksandr Turtschynow, ist mit der Präsidenten-Partei eine Koalition eingegangen. Die Partei “Selbsthilfe”, gegründet vom Bürgermeister der Stadt Lwiw, Andrij Sadowyj, die “Radikale Partei” von Oleh Ljaschko und Julija Tymoschenkos Partei “Vaterland” schlossen sich zunächst dem Koalitionsvertrag an. Ins Parlament zogen auch Abgeordnete der prorussischen Partei “Oppositionsblock”, der Partei “Wiedergeburt” und der Gruppe “Volkswille” sowie 47 parteilose Abgeordnete ein.

Großes Theater oder Spiel der Throne

Von Anfang an gab es innerhalb der Bevölkerung die Befürchtung, dieses Parlament werde nicht mehr als ein bis zwei Jahre halten, da ihm viele alte und berüchtigte Politiker angehören. Hohe Erwartungen mischten sich mit dem schon traditionellen Misstrauen gegenüber der Regierung. Mehrere Ereignisse im Parlament sorgten für besonders großes Aufsehen in der Öffentlichkeit.

Im Februar 2016 kam es zu einer Krise im Parlament und es stand kurz vor seiner Auflösung. Um einen Rücktritt des damaligen Premierministers Arsenij Jazenjuk zu erreichen, verkündeten die Parteien “Selbsthilfe”, “Vaterland” und “Radikale Partei” ihren Austritt aus der Koalition. Die Krise endete schließlich mit dem Rücktritt des Premiers. Zu Jazenjuks Nachfolger wurde der damalige Parlamentsvorsitzende Wolodymyr Hrojsman  bestimmt.

Während der hitzigen Debatten im Parlament gab es auch körperliche Gewaltanwendung. So kam es im Dezember 2014 zu einer Schlägerei, an der Abgeordnete beteiligt waren, die Freiwilligen-Bataillonen angehören. Die Lage war eskaliert, nachdem ein Abgeordneter einen anderen mit den Worten “Hier ist kein Maidan” zurechtgewiesen hatte. Im November 2016 gab es eine Schlägerei zwischen Oleh Ljaschko und dem Chef des “Oppositionsblocks” Jurij Bojko. Ljaschko hatte Bojko “Konsultationen mit Moskau” vorgeworfen.

Angeblich bereitet der Präsident der Ukraine ein Gesetz vor, mit dem allen Abgeordneten die Immunität entzogen werden soll. Schon im Juli 2017 prüfte das Parlament Anträge der Staatsanwaltschaft auf Entzug der Immunität von gleich sechs Abgeordneten. Sie werden der Korruption und des Amtsmissbrauchs verdächtigt. Doch nur drei von ihnen verloren ihre Immunität. Es gab aber auch vorher schon Fälle, wo Abgeordnete ihre Immunität per Parlamentsbeschluss verloren, zum Beispiel Ihor Mosijtschuk. Er reagierte auf seine darauffolgende Inhaftierung mit einem Hungerstreik. Die Abstimmung des Parlaments über den Entzug von Mosijtschuks Immunität wurde später für ungültig erklärt und er konnte ins Parlament zurückkehren. Seitdem ist es in den Medien still um ihn geworden. Im Juni 2015 wurde die Immunität des aus Donezk stammenden Politikers und Geschäftsmannes Serhij Kljujew aufgehoben. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm Amtsmissbrauch und Unterschlagung vor. Nach Kljujew wird derzeit über Interpol gefahndet.

Die Abgeordneten im Dickicht der Reformen.

Das Bild: Meriadoc Brandybuck & Pippin Took von AinarielPalantir

Außenpolitik: Der wichtigste außenpolitische Erfolg des Parlaments ist das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union. Es trägt der Regierung die Verantwortung für weitere Reformen im Lande auf. Die von der EU ukrainischen Staatsbürgern gewährte Visafreiheit, sowie die Freihandelsabkommen der Ukraine mit der EU und Kanada helfen, die ukrainische Gesellschaft zu de-sowjetisieren, die Wirtschaft zu modernisieren und Investitionen anzuwerben. Das Memorandum “Über die Zusammenarbeit zwischen dem ukrainischen Parlament und dem US-Kongress“ stärkt die Beziehungen der Ukraine zu den westlichen Demokratien.

Nationale Sicherheit: Die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) verabschiedete eine Resolution, mit der die Tatsache der russischen Aggression auf der Krim und im Donbass anerkannt wird. Eine wachsende Zahl von Russen und russischen Organisationen unterliegen Wirtschaftssanktionen. Vor dem Hintergrund der militärischen und hybriden Bedrohung aus dem Osten spielen mehrere Gesetze eine wichtige Rolle, die noch 2015 angenommen wurden. Beschlossen wurde ein neues Ausbildungssystem für die ukrainische Armee gemäß den NATO-Standards. Geschaffen wurde eine Nationalgarde, ein Militärkabinett des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, ein Staatliches Cyberschutz-Zentrum und vieles mehr.

Energiesicherheit: Die Ukraine gewann ein Verfahren vor dem Stockholmer Schiedsgericht, das einer Klage des ukrainischen Öl- und Gaskonzerns “Naftogas” gegen den russischen Konzern “Gazprom” stattgegeben hatte. Kiew hatte gegen einen Vertrag über Gaslieferungen an die Ukraine aus dem Jahr 2009 geklagt. Jetzt zahlt die Ukraine für russisches Gas einen in Europa üblichen Preis.

Das Parlament stimmte einem Vertrag über die Lieferung von Anthrazitkohle aus den USA zu. Die Reform des Energiewesens jedoch verzögert sich, weil 96 Prozent des Stromnetzes immer noch Teil eines gemeinsamen Raumes mit Russland ist und die Abgeordneten eine Neubesetzung der ukrainischen Regulierungsbehörde für Energie blockieren.

Justiz und Exekutive: Das Parlament verabschiedete ein Gesetz über das Verfassungsgericht, das wichtige Aufgaben bei der Kontrolle der Legislative zu erfüllen hat.

Aufgrund des allgemeinen Mangels an Vertrauen der Bürger in die Sicherheitsorgane, war eine Polizeireform nötig. Separat wurde ein unabhängiges Staatliches Ermittlungsbüro geschaffen, das schwere Verbrechen untersuchen soll, darunter gesetzwidriges Vorgehen der Polizei. Nicht umgesetzt ist die Reform des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU).

Bienen gegen Honig: Im April 2016 nahm das Nationale Anti-Korruptions-Büro der Ukraine (NABU) seine Arbeit auf. Es ist eine Strafverfolgungsbehörde, die Fälle von Korruption von Beamten untersucht.

Im Internet sind offen zugängliche Register staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen erschienen. Auf der Webseite “ProZorro” werden Informationen über alle öffentliche Beschaffungen, Aufträge und Ausschreibungen veröffentlicht. Auf diese Weise können die Bürger nun die Staatsmacht kontrollieren.

Dekommunisierung: Im Januar 2015 holte das ukrainische Ministerium für Kultur den “Leninopad” (Leninsturz) ein, der in der Zeit der Revolution der Würde einsetzte. Nun begann der Staat organisiert Denkmäler aus der Sowjetzeit abzubauen.

Ein Lustrationsgesetz verbietet Personen, die hohe Positionen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatten oder für den KGB gearbeitet haben, öffentliche Ämter zu bekleiden. Nicht ohne Druck der Öffentlichkeit wurden rund 1000 Menschen entlassen.

Im Mai 2015 verabschiedete das Parlament ein Paket von Gesetzen über die Dekommunisierung, darunter ein Gesetz über die Öffnung der KGB-Archive und die Verurteilung des kommunistischen Regimes. Im Dezember desselben Jahres wurde die Kommunistische Partei der Ukraine verboten. Im Rahmen der Dekommunisierungs-Gesetze wurden mit Hilfe freiwilliger Ethnologen zahlreiche Städte, Dörfer und Straßen umbenannt.

Einige gesellschaftlich wichtige Gesetze: Im Frühjahr 2017 stimmte das Parlament für ein Gesetz, mit denen die Menschen unterstützt werden sollen, die unter den Kämpfen im Osten des Landes und unter der Annexion der Krim leiden: Es gibt eine staatliche Finanzierung der Ausbildung für Kinder, die in der Zone der Anti-Terror-Operation (ATO) leben. ATO-Veteranen bekommen Finanzhilfen beim Erwerb von Wohnraum. Bestimmte Ränge der Armee müssen keine elektronische Einkommens- und Vermögenserklärung (E-Declaration) abgeben. Zudem wurde die Registrierung von Binnenflüchtlingen vereinfacht.

Gesetzlich erlaubt wurde ein Gerichtsprozess gegen den geflüchteten Präsidenten Viktor Janukowytsch in dessen Abwesenheit. Das Verfahren soll helfen, die Umstände der blutigen Ereignisse des Winter 2013/2014 zu klären.

Als wichtiger Teil der Re-Ukrainisierung der Ukraine, die im Russischen Reich und danach unter der Sowjetmacht unter einer aggressiven Russifizierung gelitten hatte, wurden für das Fernsehen Quoten für die ukrainische Sprache festgelegt.

Vor allem in großen ukrainischen Städten werden vor wichtigen Ereignissen Straßenhunde vergiftet. Daher ist das Gesetz über die strafrechtliche Verantwortung für die Misshandlung von Tieren von großer Bedeutung.

Vergessene Reformen: Es gibt eine Reihe von Reformen, deren Umsetzung dem Parlament schwer fällt. Das Gesundheitssystem in der Ukraine ist ein Erbe aus der Sowjetzeit, es ist unverändert und funktioniert fast ausschließlich mit Korruption. Die Abstimmung über die Gesundheitsreform wird seit vielen Monaten immer wieder verschoben. Vergessen ist auch die Reform der Agrarpolitik, die die Entwicklung der Landwirtschaft fördern und die willkürliche Landnahme stoppen soll. Auch die Reform des Wahlsystems wird nicht erörtert.

Verbesserungsbedarf bei Abgeordneten.

Bildquelle: argumentua.com

Politische Beobachter bewerten die Arbeit des Parlaments als unbefriedigend. So würden es die Abgeordneten beispielsweise mit der Disziplin nicht so ernst nehmen. Im Jahr 2017 wurden Parlamentariern aufgrund von Fehlzeiten Bezüge in Höhe von insgesamt umgerechnet 55.000 Euro abgezogen. Eine weitere “Krankheit” der ukrainischen Abgeordneten ist das sogenannte “Knopfdrücken”. Den schnellsten Abgeordneten gelingt es bei Abstimmungen, um Gesetze durchzubringen, gleich für “Kollegen” mit abzustimmen. Sie drücken dabei bis zu fünf Wahltasten an den Pulten der Sitze der Volksvertreter. Strafen sind für dieses gesetzwidrige Verhalten immer noch nicht vorgesehen. Das dritte große Problem im Parlament ist die Korruption. Mehr als ein Drittel der heutigen ukrainischen Abgeordneten kommen in Untersuchungen zu Korruptionsfällen vor. Darunter sind viele Fälle, wo es um Betrug bei Ausschreibungen, Stimmenkauf bei Wahlen und unwahre elektronische Einkommens- und Vermögenserklärungen (E-Declaration) geht. Kein einziger Abgeordneter wurde aber bisher schuldig befunden.

Gemessen an der großen Zahl der vom Präsidenten ins Parlament eingebrachten und verabschiedeten Gesetzesinitiativen kommt man zum Schluss, dass das Parlament kein Gegengewicht zum Präsidenten darstellt, sondern in Wirklichkeit den politischen Willen des Staatsoberhauptes erfüllt. Allein von den in den letzten sechs Monaten verabschiedeten 275 Gesetzen gehen 83 Prozent auf die Initiative des Präsidenten zurück, 24 Prozent auf die der Regierung und nur 10 Prozent auf die der Abgeordneten selbst. Die Kommunikation zwischen dem Parlament und den Ministerien lässt derzeit zu wünschen übrig. Experten kritisieren zudem den unter Parlamentariern und Wählern verbreiteten Populismus. Die Abgeordneten versprechen viel, halten aber wenig. Und die Wähler geben immer wieder Populisten ihre Stimme und kontrollieren nicht ihre Arbeit.

Unzufrieden sind Politikexperten auch mit der Qualität der Arbeit der Abgeordneten in den Ausschüssen und Vermittlungsausschüssen, wo sie eigentlich Gesetzentwürfe gründlich erörtern müssten. In jedem Ausschuss sitzen Abgeordnete mit Interessenkonflikten, am meisten im Agrarausschuss, wo geradezu offen korrupte Machenschaften zu beobachten sind.

Positives und Negatives

Erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden in der Ukraine zumindest auf legislativer Ebene so viele wichtige Reformen eingeleitet. Das ist aktiven und bewussten Bürgern zu verdanken, die sich in die Legislative und Exekutive eingebracht haben. Andere Bürger üben eine wirksame Kontrolle aus und berichten über die Arbeit. Nicht zuletzt sind die Reformen auf Druck von Außen seitens des IWF und der EU in Gang gekommen.

Das derzeitige Parlament spiegelt aber auch viel Negatives in der ukrainischen Gesellschaft wider. So hat die Ukraine weder Vetternwirtschaft noch Korruption besiegt. Auch hat sie die grundlegenden Prinzipien der modernen Demokratie noch nicht verinnerlicht – die Teilung der sich gegenseitig kontrollierenden Gewalten sowie ein System von Parteien, von denen jede die Interessen eines bestimmten Teils der Bevölkerung verteidigen muss. Die Parteien dürfen nicht versprechen, alle auf einmal glücklich zu machen. Zugleich scheinen die heutigen Parteien  Geschäftsinteressen ihrer Anführer und Sponsoren als Priorität zu betrachten.

Objektiv kann man zum jetzigen Zeitpunkt die Leistung dieses Parlaments wohl nicht bewerten. Die meisten Ergebnisse werden erst in Jahren oder Jahrzehnten zu spüren sein. Aber auch schon jetzt gibt es in der Ukraine viele positive Beispiele für eine erfolgreiche Dezentralisierung. Die ukrainische Armee hat sich stark entwickelt. Die Wirtschaft wächst. Die Türen der Staatsmacht stehen neuen Kräften offen. Und das sind nur einige Beispiele für die Erneuerung des Landes, die ohne eine legislative Unterstützung durch das Parlament unmöglich gewesen wären.