Unterschiedliche Wege: Wie die Ukraine und Russland an den Zweiten Weltkrieg erinnern

Die Revolution der Würde in der Ukraine hat dem Land nicht nur neue Hoffnung für die Zukunft geschenkt, sondern auch zu einem neuen Verständnis der eigenen Vergangenheit geführt. So hat die Dekommunisierung die Tradition verändert, wie an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird. Seit drei bis vier Jahren tut sich diesbezüglich eine immer tiefere Kluft zwischen der Ukraine und Russland auf. Einzelheiten von Ukraine Crisis Media Center:

Vom Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg zum Tag des Gedenkens und der Versöhnung. Seit 2015 begeht die Ukraine nicht nur den Tag des Sieges am 9. Mai, sondern auch den 8. Mai als Tag des Gedenkens und der Versöhnung. Symbol des 8. Mai ist die rote Mohnblume. Dies führt die Ukraine näher an die europäische Tradition heran. Zugleich entfernt dies die Ukraine von der sowjetischen, postsowjetischen und heutigen Tradition in Russland. In diesem Jahr hob der ukrainische Präsident Petro Poroschenko die Unterschiede zwischen den Gedenkfeiern in Russland und der Ukraine deutlich hervor: “Sie sagen, Stalin habe den Krieg gewonnen, doch wir sagen, dass es das Volk war. Wir sagen: Nie wieder. Und sie sagen: Das können wir wieder machen.”

Die Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Millionen von Ukrainern kämpften und starben in den Reihen der Roten Armee, andere kämpften gegen den sowjetischen Totalitarismus in den Reihen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). “Die Ukrainer fanden sich auf gegenüberstehenden Barrikaden wieder, sie stießen aufeinander und litten unter einer doppelten oder gar dreifachen Besetzung. Zweifellos war der Sieg über den Nationalsozialismus eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Jedoch darf nicht vergessen werden, wie schrecklich das Stalin-Regime für die Ukraine war: Allein der Holodomor nahm etwa vier Millionen Menschen das Leben. Der Sieg eines totalitären Systems über ein anderes konnte für die Ukraine wohl kaum einen ‘eigenen’ Sieg bedeuten”, meint der ukrainische Philosoph Wolodymyr Jermolenko.

Siegeskult in Russland. In den 2000er Jahren hat sich Russland klar für eine Verstärkung des Mythos des “Großen Sieges” entschieden. Der Kreml machte die Ereignisse von vor über 70 Jahren zum Fundament der heutigen Staatsideologie. “Der Sieg ist die Grundlage der gegenwärtigen russischen Staatsideologie, ihr Imperativ. In den späten 2000er Jahren war das Sankt-Georgs-Band, obwohl es eine künstliche Erfindung ist, nur eine rein ‘persönliche Angelegenheit’. Heute müssen die Mitarbeiter staatlicher Unternehmen oder des Staatsfernsehens das Band an den Feiertagen tragen”, schreibt der Journalist Andrij Archanhelskyj. Weiter betont er, dass früher das “Unsterbliche Regiment” nur eine Initiative von Bürgern gewesen sei. Aber im letzten Jahr sei in Moskau in Wohnhäusern auf Plakaten dazu aufgerufen worden, am 9. Mai zum Marsch zu kommen. Das “Unsterbliche Regiment” ist eine ursprünglich in der russischen Stadt Tomsk im Jahr 2011 erfundene Aktion, bei der die Teilnehmer des Marsches Fotos von Angehörigen und Vorfahren hochhalten, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben. “Das Hauptziel der Märsche ist, Bilder fürs Fernsehen zu bekommen. Sie sollen dazu dienen, Einheit zwischen der Staatsmacht und den Menschen zu demonstrieren”, so Archanhelskyj. Die russische Zeitung Wsgljad schrieb im Mai 2018: “Die Aktion ‘Unsterbliche Regiment’, die zum vierten Mal in ganz Russland stattfand, gewinnt jedes Jahr an Fahrt. In diesem Jahr wurde ein neuer Rekord aufgestellt: eine Million Teilnehmer allein in Moskau.” Wsgljad zufolge ist das “Unsterbliche Regiment” nicht nur einfach eine “Gedenkaktion anlässlich des großen Sieg von 1945, sondern auch eine neue Form der Selbstorganisation des russischen Volkes”.

Zurück in die 1970er Jahre. In den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende war der 9. Mai in der Sowjetunion kein Feiertag. Erst Mitte der 1960er Jahre wurde er zu einem arbeitsfreien Tag und Militärparaden wurden zur Tradition. Je länger der Krieg zurücklag, umso größer wurde der 9. Mai gefeiert. Der Höhepunkt wurde in den 1970er Jahren erreicht. Gerade zu dieser Art der Feierlichkeiten kehrt das heutige Russland zurück. “Die offizielle ‘Sprache des Sieges’ ist stilistisch und ideologisch gesehen die Sprache der Breschnew-Zeit in den 1970er Jahren. Die Fülle sowjetischer Plakate für die Feierlichkeiten, die Nachdrucke und Kopien von Vorlagen aus den 1970er Jahren, all das ist die Stilistik eines längst nicht mehr existierenden Staates. Der wahnsinnige Wunsch, den Sieg so zu feiern, wie in den 1970er Jahren, ist frappierend”, schreibt Andrij Archanhelskyj.

Stillstand der Geschichte oder Sinnkrise? Von außen ist es sehr seltsam zu beobachten, wie in Russland im Laufe der Zeit die Feierlichkeiten anlässlich von Ereignissen von vor über 70 Jahren immer weiter verstärkt werden. Archanhelskyj meint, die Tatsache, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg in Russland heute so stark gefeiert wird wie seit 30 Jahren nicht mehr, ist ein Symptom für eine andere Krankheit. “Das ist das allgemeine Konzept der Staatspropaganda, um die jüngste Vergangenheit, die Perestroika und die 1990er Jahre vollständig aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Den Massen soll suggeriert werden, dass in den vergangenen Jahrzehnten in Russland nicht viel passiert ist”, so Archanhelskyj. Ihm zufolge ist gerade dies ein Beweis dafür, dass in Russland eine Sinnkrise herrscht.

Die Krim und die sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk”. Die russische Propaganda bezeichnete in der Zeit des Maidan die neue ukrainische Führung als “faschistisch” und zog Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus in Deutschland und den aktuellen Ereignissen in der Ukraine. Daher ist es kein Zufall, dass die Verherrlichung des “Großen Sieges” zu einem Instrument wurde, um eine anti-ukrainische Stimmung auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim sowie in den selbsternannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” im Osten der Ukraine zu verbreiten. Jedes Jahr am 9. Mai finden in diesen Gebieten Paraden mit Militärtechnik sowie Märsche des “Unsterblichen Regiments” statt, die mit jedem Jahr größer werden. Solche Märsche gibt es auch in anderen Städten der Ukraine, auch in Kiew, doch dort sind sie deutlich kleiner.

Was sagen Umfragen? Soziologen stellen fest: Insgesamt nimmt in den Augen der Ukrainer die Bedeutung des 9. Mai als ein wichtiger Feiertag allmählich ab. Im Jahr 2010 sagten 58 Prozent, der Tag des Sieges sei ihr beliebtester Feiertag, im Jahr 2018 waren es nur noch 31 Prozent. Die Zahlen sind von Region zu Region unterschiedlich. Die meisten Menschen, für die der Tags des Sieges ihr Lieblings-Feiertag ist, finden sich im Osten und Süden der Ukraine. Im Zentrum und Westen des Landes ist der 9. Mai nur noch bei einer Minderheit ein beliebter Feiertag. Auch das Alter der Befragten spielt eine Rolle. So sind die meisten Anhänger dieses Feiertags über 60 Jahre alt. Unter den jungen Menschen im Alter von 18 bis 39 Jahren halten nur 25 Prozent den 9. Mai für einen wichtigen Feiertag.

Fazit: Der wichtigste Unterschied zwischen der Ukraine und Russland. Obwohl der 9. Mai als Tag des Sieges nach wie vor einem großen Teil der Ukrainer wichtig ist, ist in den letzten Jahren eine ganz klare Veränderung zu beobachten. “Die Ukraine und Russland gehen heute verschiedene Wege, sie entscheiden sich für eine unterschiedliche Optik und kultivieren bei sich unterschiedliche Emotionen. Russland versucht, sich in einer expansiven und aggressiven ‘Religion des Sieges’ wiederzufinden, und die Ukraine findet sich eher in einem ‘Opfer-Thema’ wieder, in dem es um Gedenken und Erinnerung geht”, meint der Philosoph Wolodymyr Jermolenko.