Was die aus Russland freigelassenen Gefangenen über ihre Haft berichten

Am 7. August 2019 sind 35 ukrainische politische Gefangene in die Ukraine zurückgekehrt. Viele von ihnen haben danach Pressekonferenzen und Interviews gegeben, darunter Oleh Senzow und Oleksandr Koltschenko, aber auch Wolodymyr Baluch, Roman Suschtschenko und die freigelassenen Seeleute. Wie haben die Männer die Haft in Russland erlebt? Was mussten die ukrainischen politischen Gefangenen durchmachen? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center (UCMC):

Senzow: “Wie Vieh verladen und abtransportiert”

Nach Schätzungen von Journalisten haben Oleh Senzow und Oleksandr Koltschenko insgesamt rund 20.000 Kilometer zu verschiedenen Gefängnissen in Russland zurückgelegt. In seinem ersten Interview nach seiner Freilassung sagte Senzow auf die Frage von Journalisten, ob man ihm mitgeteilt habe, warum er so oft verlegt und immer weiter von Moskau weggebracht worden sei: “Niemand hat mir etwas erklärt. Niemand spricht dort mit einem. Man wird gar nicht als Mensch betrachtet. Man wird wie Vieh verladen und abtransportiert.”

Baluch:”Folterung als Rache”

Der Aktivist Wolodymyr Baluch, der von der Krim stammt, war von Anfang an in russischer Haft wiederholt körperlicher Gewalt ausgesetzt. Besonders brutal misshandelt worden sei er, als er in der Strafkolonie Torschok “aufgenommen” worden sei, berichtete Baluch auf seiner ersten Pressekonferenz im UCMC. Dabei wurde ein Video gezeigt, in dem Baluch noch während seiner Haft von Gewaltanwendung berichtet, zu der es am 15. März 2019 gekommen war. “Das waren Folterungen. Es wurde mit sexueller Gewalt gedroht, es gab Schläge auf Füße und Beine, ein Kopfkissen über den Kopf und Folter mit Wasser und Elektroschockern. Es wurde ein Kissenbezug mit Wasser getränkt und damit die Ohren geschlagen. Wenn soetwas passiert, verliert man das Zeitgefühl. Ich denke, das hat mindestens 20 Minuten, vielleicht eine halbe Stunde gedauert. Mit dem Elektroschocker habe ich 150 Schläge bekommen, meist von hinten auf den Rücken und die Beine”, sagte Baluch.

In dem Raum befanden sich er und ein weiterer Häftling sowie fünf bis zehn Sicherheitsbeamte. Die ganze Zeit stand er mit gespreizten Beinen vor einer Wand. Daher konnte er nicht sehen, wer ihn schlug. Vor und nach der Folter betrat ein Arzt den Raum, der den Blutdruck und die Körpertemperatur maß. “Weil all dies mit seiner stillschweigenden Zustimmung stattfand, habe ich jegliche medizinische Hilfe und Untersuchung abgelehnt”, berichtete Baluch.

Olha Skrypnyk, Koordinatorin der Krim-Menschenrechtsgruppe, sagte auf der Pressekonferenz: “Ich möchte betonen, dass diese Folterungen nicht während der Ermittlungen stattfanden, wo man versucht, bei Menschen Geständnisse für Taten zu erzwingen, die sie nicht begangen haben. Wahrscheinlich wurde einfach aus Sadismus heraus gefoltert, aus der Gier nach Rache an einem Menschen, der sich dem ganzen System widersetzt hat. All dies geschah, nachdem das rechtswidrige Urteil in Kraft getreten war.”

Senzow über seine Familie und das russische Fernsehen

Auf die Frage von Journalisten, ob die russischen Ermittler seine Familienangehörigen auf der Krim als Druckmittel gegen ihn eingesetzt hätten, sagte Senzow: “Nein, Gott sei Dank, damit hat man mich nicht unter Druck gesetzt. Zumindest hat man hier irgendeinen Kodex eingehalten, in dem Sinne, dass man gegen mich Krieg führt, und nicht gegen meine Kinder.”

Gleichzeitig betonte Senzow, der ebenfalls von der Krim stammt, in einem Gespräch mit dem ukrainischen Sender “Hromadske”, dass für Angehörige politischer Gefangener durchaus reale Risiken bestünden: “Es ist klar, dass Menschen, die Verwandte auf der Krim haben, einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Eine Sache ist die offizielle Staatsmacht, die sich mit so etwas nicht befassen wird. Aber niemand ist vor irgendeinem Verrückten sicher, der fernsieht und beschließt, sich an deiner Familie zu rächen. Das ist gefährlich. Daher kann das russische Fernsehen wirklich töten.”

Senzow über Russland: “Ein Land der Gleichgültigen”

“Mein Erwachen als Bürger begann nicht bei Geburt, nicht einmal mit 18 Jahren, auch nicht mit 20, sondern viel später, als ich reif war und mitten im Leben stand. Ich begann mich als Bürger zu fühlen, der für sein Land verantwortlich ist”, sagte Senzow.

Er fügte hinzu: “Es ist nicht nur so, dass das Land allein für sich lebt und ich für mich allein lebe. Viele Menschen leben heute so. Ich weiß nicht, wie viel Prozent in der Ukraine so leben, aber in Russland tun das 80 Prozent: Jeder für sich allein und der Staat auch für sich allein. Wir in der Ukraine führen mit dem Staat schon längst ein gemeinsames Leben. Wir haben irgendein Verhältnis zueinander, wenn auch nicht ein gutes, aber wir versuchen diesen Staat zu verbessern.”

Wie die Russen den “Bruder-Krieg” gegen die Ukraine sehen

Darüber hinaus sprach Senzow über die Frage, wie russische Bürger den Krieg ihres Landes gegen die Ukraine wahrnehmen. “Die meisten sehen ihn so, wie ihn die Propaganda ihnen präsentiert. Sie glauben das alles. Vielleicht nicht 80 Prozent der Menschen, aber bestimmt 70 Prozent”, sagte Senzow dem Sender “Hromadske”.

Ferner sagte er: “Die Menschen glauben Putin nicht sehr, was die Innenpolitik anbelangt. Sie wissen, dass viel geklaut wird, und dass er grob gesagt an der Spitze dieser ganzen Mafia steht. Aber sie unterstützen die Außenpolitik. Der Hass, ja die Verachtung für die Ukraine, für Europa, für Amerika, die ist sehr stark. Sie wird den Menschen jede Minute eingeimpft, über jeden TV-Kanal, seit fünf Jahren. Die Menschen sind damit durchtränkt.”

Suschtschenko über Angst vor Folter und psychischen Druck

Der Journalist der staatlichen ukrainischen Nachrichtenagentur “Ukrinform”, Roman Suschtschenko, verbrachte fast drei Jahre in russischer Haft. Er wurde bei einem Verwandtenbesuch in Moskau festgenommen. “Ja, das waren 1070 Tage. Davon waren mehrere sehr schwierig. Natürlich war das auch der erste Tag, an dem alles so plötzlich passierte. Dieser Stress war verrückt, als mir klar wurde, dass nun alles vorbei ist und sie mich abholen gekommen sind. Ich hatte Angst, weil ich eine sehr geringe Schmerzschwelle habe. Meine größte Angst war, dass ich es nicht aushalten, wenn die körperlichen Auswirkungen beginnen”, erzählte Suschtschenko auf seiner Pressekonferenz bei der Nachrichtenagentur “Ukrinform”.

Er sagte weiter: “Für einen Menschen, der aus einem geisteswissenschaftlichen Bereich kommt, insbesondere für einen Journalisten, war das ein gewaltiger Schock – die Festnahme, der stinkende Sack über dem Kopf und alles weitere. Die Handschellen wurden so fest angelegt, dass man sich nicht bewegen konnte. Die Sehnen der Hände wurden überdehnt, als mich einer am Kehlkopf festhielt, während andere mich durchsuchten und sich den Kragen des Hemdes vornahmen. Sie sagten: ‘Wo ist deine Kapsel mit Gift? Hast du Waffen oder nicht?’ Ich war geschockt: Welches Gift, welche Waffe? Ich habe noch in deren Bus gefragt: Ist das Einschüchterung oder Demütigung? Eine Antwort gab es nicht.”

Suschtschenko erinnerte sich und sagte: “In dem Moment lief vor meinen Augen mein ganzes Leben ab. Doch ich wusste ja, dass Krieg herrscht, dass Menschen sterben, und ich wusste auch, wie man mit jedem umgeht, der in Gefangenschaft gerät. Entsprechend habe ich mich eingestellt: Jetzt kommt ein ‘Keller’, Folter und dann ein ‘Geständnis’ vor laufender Kamera, Stromkabel und andere schreckliche Dinge… Mir wurde klar, was auf mich zukommt. Ich bekam natürlich Angst, wie jeder normale Mensch.”

Suschtschenko über den Umgang mit Häftlingen in Russland

Der Journalist erinnerte sich während seiner Pressekonferenz auch an Situationen, die ihn während seiner Gefangenschaft am härtesten getroffen haben. Sie sagen viel über den Umgang mit Häftlingen in Russland. “Im Moskauer Lefortowo-Gefängnis gab es einen Selbstmord. Wegen eines Drogenvergehens saß ein Gefangener in Einzelhaft direkt gegenüber meiner Zelle. Am Abend, als die Aufseher den Müll einsammelten und wir die Türluke für das Essen geöffnet hatten, hörten wir einen Schrei: Der Mann hatte sich erhängt. Und was mich am meisten geschockt hatte, war nicht die Tatsache des Todes selbst, sondern dass sein Körper auf demselben Karren weggebracht wurde, von dem wir Essen erhielten”, sagte Suschtschenko.

Ferner berichtete er über den Transport zur Strafkolonie. “Wir wurden wie Heringe in einen Wagen gestopft, 28 Stunden lang”, so Suschtschenko. Vorher seien Häftlinge angekommen, die sich für viele verschiedene Verbrechen zu verantworten hatten. Sie hätten besonders strenge Haft bekommen. “Sie nahm man sich zuerst vor. Sie wurden gezielt ausgepresst und angeschrien, als wären sie keine Menschen, sondern sonst was. So ein Umgang war das. Das alles geschah vor unseren Augen und war eine Art psychische Druck. Aber am meisten erschreckte mich, wie diese Menschen aussahen”, betonte Suschtschenko. Sie seien blass gewesen, die Augen voller Entsetzen. Suschtschenko sagte, er habe deutlich gespürt, unter welchen Bedingungen sie zu leiden hätten, aber ohne zu wissen, welche Straftaten sie begangen hätten.

Suschtschenko: “Trauer und Leere”

Suschtschenko sprach auch über seine Erfahrungen in den ersten Tage nach seiner Freilassung. “Mir ist noch nicht ganz klar, was passiert ist. Durch Gewohnheit wache ich um 5 Uhr morgens auf, wie in der Einzelzelle in Utrobino. Der Körper und die innere Uhr laufen immer noch wie dort”, sagte der Journalist. Seine Augen würden ihm schon um 21 Uhr zufallen.

“Ehrlich gesagt habe ich versucht zu lächeln und Menschen zu umarmen. Aber ich merke, das dies noch nicht so aufrichtig ist, es irgendeine Art von Müdigkeit, als wäre ich von Arbeit ausgebrannt. Ich schaue auf Menschen, auf Bekannte, erinnere mich an deren Namen, aber ich verspüre eine gewisse Trauer, eine gewisse Leere”, so Suschtschenko.