Tag der Würde und Freiheit: 6 Jahre seit Beginn der Proteste in Kiew

Am 21. November hat die Ukraine den 6. Jahrestag des Euromaidan begangen. Am Abend des Tags der Würde und Freiheit, wie er in der Ukraine genannt wird, versammelten sich mehrere tausend Menschen auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Hat die damalige Bewegung ihre Ziele erreicht? Wie laufen die Ermittlungen zu den Erschießungen auf dem Maidan und was ist über sie bekannt? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Der Euromaidan war eine Protestbewegung für demokratische Werte, für eine proeuropäische Entwicklung des Landes und gegen Korruption. Insgesamt kann man von einem Sieg des Maidans sprechen, doch einige seiner Ziele wurden nicht erreicht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Expertenumfrage der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen”, die auf einer Pressekonferenz im Ukraine Crisis Media Center (UCMC) vorgestellt wurde. Die Umfrage wurde zwischen dem 7. und 19. November 2019 unter 80 Experten durchgeführt.

Die wichtigsten Errungenschaften. Zum sechsten Mal in Folge kommen Experten zum Schluss, dass der Maidan gewonnen hat. Doch die meisten von ihnen sprechen von einem relativen Sieg. Erreicht worden sei ein Machtwechsel, die politischen Eliten seien teilweise erneuert worden und die Zivilgesellschaft habe an Einfluss gewonnen. Die Ukraine habe ihre prowestliche Ausrichtung verfestigt, das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet und die Zusammenarbeit mit der NATO vertieft.

Was noch nicht erreicht wurde.Die zentralen Forderungen des Maidans wurden nur teilweise erfüllt, vor allem bei der systematischen Bekämpfung der Korruption, aber auch was einen Neustart der Staatsmacht und die Erneuerung der politischen Eliten sowie die De-Oligarchisierung des politischen und wirtschaftlichen Lebens des Landes angeht.

Was läuft bei den Ermittlungen zu den Verbrechen auf dem Maidan schief?

Die Verbrechen, die im Laufe der Revolution der Würde verübt wurden, sind alle in einer “Strafsache Maidan” zusammengefasst. Dieser Sache droht nun Gefahr. Aufgrund von Änderungen in der Generalstaatsanwaltschaft, insbesondere durch die Auflösung der Speziellen Ermittlungsabteilung, werden die Untersuchungen wahrscheinlich neu aufgerollt. Am 20. November 2019 verlor die Staatsanwaltschaft ihre Funktion bei den vorgerichtlichen Ermittlungen. Sie wird das Ermittlungsverfahren nur noch organisieren und kontrollieren, also die “Verfahrensführung” innehaben.

Anstelle der Speziellen Ermittlungsabteilung wurde die Abteilung für Verfahrensführung in der Maidan-Sache eingerichtet. Die neue Einheit leitet Viktor Mysjak, ehemaliger stellvertretender Leiter einer Abteilung, die für Verfahrensführung in Strafverfahren in speziellen Fällen zuständig war. Die Anwälte der Familien der Opfer der “Himmlischen Hundertschaft”, der Menschen, die auf dem Maidan erschossen wurden, sind gegen die Ernennung von Mysjak.

Für die Ermittlunge selbst ist nun das Staatliche Ermittlungs-Büro zuständig. Das Problem ist jedoch, dass es nicht so einfach ist, die Sache dem Büro zu übergeben, da es nicht über genügend Ermittler für eine Arbeit in dieser Größenordnung verfügt.

Wolodymyr Bondartschuk, ehemaliger Leiter der gesellschaftlichen Organisation “Familien der Helden der Himmlischen Hundertschaft”, sagte im Gespräch mit dem ukrainischen Sender “Hromadske”, dass die Einrichtung der Speziellen Ermittlungsabteilung im Jahr 2014 eine Errungenschaft der Familien der Opfer gewesen sei. Über die aktuelle Situation sagte er, Serhij Horbatjuk, ehemaliger Leiter der Speziellen Ermittlungsabteilung, hätte die Maidan-Sache gerade dem Staatlichen Ermittlungsbüro übergeben sollen. Doch die Behörde habe dafür keine zuständige Person gehabt.

Bondartschuk sagte: “Um die Sache an jemanden zu übertragen, muss es dafür eine Abteilung geben, die sich damit weiter befassen wird. Das Staatliche Ermittlungsbüro hat keine solche Abteilung. Und nach Horbatjuks Entlassung gibt es nicht einmal jemanden, an den man das übertragen kann. Daher kann die Sache in jedem Stadium untergehen, bei der Generalstaatsanwaltschaft oder beim Staatlichen Ermittlungsbüro. Und dies ist angesichts einiger Nuancen, bezüglich Roman Truba, dem Chef des Staatlichen Ermittlungsbüros, der seinerzeit an der Bekämpfung des Maidans beteiligt war, durchaus möglich.”

Das Staatliche Ermittlungsbüro wartet unterdessen auf Gesetzesänderungen, die eine Erhöhung der Mitarbeiterzahl ermöglichen würden.

Anwältin der Familien der “Himmlischen Hundertschaft” im Hungerstreik

Am 21. November 2019 ist die Anwältin der Familien der “Himmlischen Hundertschaft”,Jewhenija Sakrewska, in einen Hungerstreik getreten. Sie will so lange hungern, bis die Maidan-Fälle untersucht werden.

Sie erklärte: “Das Parlamenthat die Änderung zum Gesetz über das Staatliche Ermittlungsbüro nicht verabschiedet, die es Ermittlern der Generalstaatsanwaltschaft, die an den Untersuchungen der Maidan-Fällen beteiligt sind, ermöglichen würde, ins Staatliche Ermittlungsbürozu wechseln und die Untersuchungen dort fortzusetzen. Deswegen finden seit heute keine Ermittlungen mehr statt.” Am 20. November hatte die Staatsanwaltschaft ihre Funktion bei den vorgerichtlichen Ermittlungen verloren undnun ist das Staatliche Ermittlungsbürodamit beschäftigt. “Das heißt, solange das Parlament die Änderungen nicht billigt, werden keine Ermittler versetzt”, betonte Sakrewska und fügte hinzu, dass der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei “Diener des Volkes”, David Arachamia, ihr versprochen habe, dass die Gesetzesänderungen am 3. Dezember verabschiedet würden.

Die Gruppe der Anwälte, die die Familien der “Himmlischen Hundertschaft”vertritt, forderte unterdessen Präsident Wolodymyr Selenskyj auf, eine Sondersitzung des Parlaments anzusetzen. Auf ihr sollten die Abgeordneten den Gesetzesentwurf bezüglich der Überstellung der Maidan-Fällen billigen.

Was ist über die Maidan-Verbrechen bekannt und wer wurde bestraft?

Generalstaatsanwaltschaft: Die meisten Verbrechen sind geklärt.Seitens der Generalstaatsanwaltschaft heißt es, dass die meisten Verbrechen geklärt und die Auftraggeber und Vollstrecker identifiziert sind. 66 Personen stehen der Behörde zufolge unter Verdacht, an den Erschießungen auf dem Maidan beteiligt gewesen zu sein. Noch immer ungeklärt ist, wer die konkreten Vollstrecker waren, berichtet “Hromadske”.

Angehörige von Ex-Spezialeinheit “Berkut” im Staatsdienst.Ferner sind 36 Verdächtige weiterhin in den Rechtsschutzorganen tätig – zehn davon in leitenden Positionen. Das sind Personen, die beschuldigt werden, Morde organisiert zu haben. Allein in der Kiewer Polizei arbeiten 30 Prozent der ehemaligen “Berkut”-Angehörigen. Einige von ihnen tauchen in Strafsachen auf.

Einige Verdächtige in Russland und auf der Krim. 26 ehemalige “Berkut”-Angehörige von der sogenannten “Schwarzen Kompanie” stehen im Verdacht, Menschen auf dem Maidan erschossen zu haben. 21 von ihnen sind untergetaucht. Der Chef der Spezialeinheit, Dmytro Sadownyk, und weitere 20 “Berkut”-Angehörige sind nach Russland geflohen. 16 von ihnen sind auf dem Territorium Russlands, vier auf der annektierten Halbinsel Krim. Einige von ihnen haben die russische Staatsbürgerschaft erhalten, andere Asyl. Russland weigert sich, sie auf Ersuchen der ukrainischen Staatsanwaltschaft auszuliefern. Daher sitzen nur fünf Männer auf der Anklagebank eines Kiewer Bezirksgerichts, wo die Anhörungen stattfinden.

Janukowytsch in Abwesenheit zu 13 Jahren Haft verurteilt. Im Januar 2019 wurde der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch in Abwesenheit zu 13 Jahren Gefängnis wegen Hochverrats und wegen Beihilfe zum Krieg gegen die Ukraine verurteilt. Ihm konnte aber kein Separatismus nachgewiesen werden, auch nicht, dass er die Staatsgrenzen ändern wollte. Janukowytsch floh 2014 nach Russland, wo er sich auch heute befindet und sich somit einer Haft entzieht. Seine Anwälte haben fünf Beschwerden gegen das Urteil eingelegt. Die Anhörungen dauern noch an.