Historiker Andrij Portnov über die Schwierigkeiten im ukrainisch-polnischen Verhältnis

Wodurch sind die Komplikationen in den ukrainisch-polnischen Beziehungen entstanden? Sind es politische Spielchen oder handelt es sich um eine grundlegend verschiedene Auslegung historischer Ereignisse in der Ukraine und in Polen? Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hat mit dem ukrainischen Historiker Andrij Portnov gesprochen, der die polnisch-ukrainisch-russischen Beziehungen erforscht. Er ist Gastprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin.

UCMC: Herr Portnov, wie kann man Ihrer Meinung nach beschreiben, was gerade zwischen der Ukraine und Polen passiert? Gibt es dafür objektive Gründe oder werden historische Themen manipuliert?

Andrij Portnov: Ich würde sagen, dass wir eine sehr schlechte Phase gegenseitigen Missverständnisses haben. Dieses Missverständnis ist nicht wirklich ein Problem von Mangel an historischem Wissen. Dazu ist es gekommen, weil die Geschichte zum Gegenstand politischer Manipulation gemacht wurde, sowohl in der Ukraine als auch in Polen. Leider muss sich die Ukraine darauf einstellen, dass sich ihre Beziehungen zu ihren unmittelbaren westlichen Nachbarn verschlechtern werden. An dieser Verschlechterung der Beziehungen sind meiner Meinung nach beide Seiten, Polen wie Ukrainer, schuld, weil sie eine Reihe von unklugen Schritten zugelassen haben, ohne auf die Reaktion der anderen Seite zu achten.

UCMC: Meinen Sie die Welle von Straßenumbenennungen?

Andrij Portnov: Unter anderem. In der Ukraine wird diese Umbenennung in der Regel im Zusammenhang mit der russischen Aggression und dem Maidan betrachtet, im Zusammenhang mit der Suche nach historischen Symbolen, die klar eine unabhängige, anti-russische Konnotation haben. Aus ukrainischer Sicht, übrigens auch aus Sicht derer, die Anhänger oder Gegner von Bandera und Schuchewytsch sind, ist dies in der Regel kein anti-polnischer Schritt. Doch aus polnischer Sicht, und darüber haben alle polnische Medien auf ihren Titelseiten wochenlang geschrieben, sind die Umbenennungen von Straßen in Kiew in Bandera- oder Schuchewytsch-Prospekt vor allem eine anti-polnische Aktion. Genauso fehlt es auf polnischer Seite an Verständnis dafür, dass in der ukrainischen Diskussion über die Geschichte des nationalistischen Untergrunds dessen anti-polnische Aktionen nicht an erster Stelle stehen, sondern die anti-sowjetischen Aktivitäten und die Frage der Kollaboration mit den Deutschen.

Darüber hinaus dient auf polnischer Seite das Thema Wolhynien-Massaker 1943 als Völkermord gegen die Polen als wichtige symbolische und ideologische Bestätigung eines starken historischen Klischees für ein polnisches Martyrium und Opfer. In den letzten Jahren wurde in Polen sehr viel über Jedwabne gesprochen (Stadt in Ostpolen, wo im Jahre 1941 Polen ihre jüdischen Nachbarn am lebendigen Leibe verbrannten), aber auch darüber, dass die Polen für dieses Verbrechen verantwortlich sind. Nun wird die Ansicht verbreitet, wonach in erster Linie Polen zu Hunderttausenden in Wolhynien und Galizien zu unschuldigen Opfern geworden seien. Ich denke, am bittersten und alarmierendsten ist, dass eine solche Herangehensweise oft als Rechtfertigung dient, zum Beispiel für eine arrogante Haltung Ukrainern gegenüber, die in Polen studieren oder arbeiten. Eigentlich betrifft das Thema Wolhynien in Polen nicht nur die polnisch-ukrainischen Beziehungen, sondern es ist auch eine Frage der inner-polnischen Politik.

UCMC: Kann man sagen, dass die polnische Regierungspartei “Recht und Gerechtigkeit” (PiS) dabei eine wichtige Rolle spielt?

Andrij Portnov: Es gibt einen wichtigen Punkt. Als der Sejm und der Senat für eine Resolution stimmten, mit der das Wolhynien-Massaker als Völkermord eingestuft und ein Gedenktag für die Opfer festgelegt wurde, wurde diese Entscheidung von allen Parteien unterstützt. Von ausnahmslos allen. Daher ist es zu simpel, zu glauben, dass nur die PiS dieses Thema unterstützt. Wenn wir uns die polnische Presse anschauen, dann schreibt nicht nur die politisch rechte polnische Presse über Wolhynien 1943 als Völkermord. Nahezu alle wichtigen Akteure der polnischen politischen und intellektuellen Szene stimmen darin überein, dass es sich um einen Völkermord gehandelt hat, und sie halten eine “Kanonisierung” von Bandera für unzulässig.

Es gibt wenige Stimmen in der aktuellen polnischen Debatte, die davor warnen, mit einem Opfer-Komplex zu spielen und aus dem Wolhynien-Massaker einen “Holocaust an den Polen” zu machen. In Polen entsteht eine sehr gefährliche Situation, in der die Zunahme von Fremdenfeindlichkeit gefördert werden kann. Mir scheint, dass man in der Ukraine endlich erkannt hat, dass dies ein sehr ernstes Problem ist. Sowohl die polnische als auch die ukrainische Elite haben verpasst, dieses Problem auf politischem Wege mehr oder weniger ruhig zu lösen.

UCMC: Wann hätte man dies machen sollen?

Andrij Portnov: Idealerweise, auch wenn es seltsam klingt, hätte man das während Janukowytschs Präsidentschaft machen sollen. Damals war der Dialog mehr oder weniger ruhig. Und damals hat die damalige ukrainische Führung – von der wir wissen, wie sie war – mehrere Fehler gemacht. Es sei daran erinnert, wie der polnische Präsident Bronislaw Komorowski am Jahrestag des Massakers von Wolhynien in die Ukraine in die Region Wolhynien gekommen war. Das war im Juli 2013. Janukowytsch sollte auch kommen. Doch dann hieß es, “nein, ich mache Urlaub auf der Krim”. Für die polnische Öffentlichkeit war das eine Ohrfeige. Und Janukowytsch, davon bin ich überzeugt, hat überhaupt nicht verstanden, worum es ging.

Die nächste “Ohrfeige” – und das schon nach dem Maidan – war die Verabschiedung der sogenannten Dekommunisierungs-Gesetze, in denen es auch um die Anerkennung der Veteranen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) als Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine geht. Ich erinnere daran, dass das ukrainische Parlament jene Gesetze unmittelbar nach der Rede von Präsident Komorowski verabschiedete. Bei vielen Menschen in Polen entstand der Eindruck, dass die Gesetze über die UPA-Anerkennung bewusst direkt nach der Rede des polnischen Präsidenten angenommen wurden, um ihn und Polen zu demütigen.

Und noch etwas Wichtiges: Leider sind aus einigen polnischen Kreisen in letzter Zeit Äußerungen zu hören, die es vorher nicht (oder kaum) gab und die manchmal mit Putins Propaganda übereinstimmen. Dies ist zum Beispiel bei der rhetorischen Definition des Maidan spürbar. Bestimmte Leute nutzen das Wolhynien-Massaker als Argument dafür, dass Polen der heutigen Ukraine in bestimmten strategischen Fragen nicht unterstützen sollte – unter anderem beim Krieg und bei der Lösung des Problems im Donbass.

UCMC: Schon lange wird darüber gesprochen, dass Russland möglicherweise Information zum Thema polnisch-ukrainische Beziehungen und über die Zerstörung von Denkmälern gezielt verbreitet. Ende Februar ist eine Studie von “Informnapalm” erschienen, mit eindeutigen Beweisen dafür, dass zumindest ein Teil der anti-ukrainischen Aktionen vom Kreml organisiert wurden. Wird in Polen die Gefahr einer russischen Einmischung erst genommen?

Andrij Portnov: Ich denke, kluge Leute tun dies. Es ist doch logisch, dass es für Putin sehr von Vorteil ist, wenn sich die Ukraine und Polen streiten und wenn es keine gemeinsamen regionalen Projekte gibt. Für den Kreml wäre es ideal, wenn Polen aufhören würde, die europäische Integration der Ukraine zu unterstützen. Obwohl sie dies wissen, reden viele Leute in Polen davon, was oben schon erwähnt wurde. Aber abgesehen vom russischen Einfluss gibt es eine sehr starke interne Nachfrage nach diesem Thema. Natürlich arbeiten die russischen Geheimdienste damit, das tun sie ja schon längst. Aber trotz des äußeren russischen Faktors gibt es nach wie vor die Probleme zwischen Ukrainern und Polen, zwischen den beiden Gesellschaften, zwischen den beiden politischen Eliten. In diesem Fall kann man nicht alles auf den FSB abschieben.

UCMC: Kann man dieser Zuspitzung einen konstruktiven Diskurs entgegensetzen?

Andrij Portnov: Wenn wir über die ukrainische Seite sprechen (überlassen wir die polnische den Polen), müssen wir zuerst verstehen, wie die Situation, die wir heute haben, entstanden ist. Wir sind uns dessen nicht ganz bewusst, wie schmerzhaft das Wolhynien-Thema für die polnische Gesellschaft ist. Das Schlimmste, was man tun kann, ist sich an die rein reaktive Logik zu halten: jemand von außen hat etwas gesagt oder getan und wir rechtfertigen uns. Das ist eine Sackgasse. Wir müssen uns eine völlig andere Agenda einfallen lassen, nach kreativen Schritten suchen, insbesondere nach kulturellen Aktionen, die eine ganz einfache Botschaft hätten: Polen ist wichtig für die Ukraine, wir respektieren Polen und wir sagen nicht: “Wir haben hier unsere eigenen Probleme, wir müssen gegen Putin kämpfen”.

Es ist sehr wichtig, über ein positives Programm nachzudenken, in dem es um die prinzipielle These geht, dass Polen für die Ukraine das “Tor zum Westen” ist. Es ist das EU-Land, in das die meisten Ukrainer fahren. Es ist eine eng verwandte Sprache. Es ist weitgehend eine gemeinsame Geschichte, die weder auf Konfrontation noch auf ewige Liebe reduziert werden kann. Der Reichtum der historischen Beziehungen und die politisch-wirtschaftlichen Aussichten sind viel wichtiger als die konfrontative Logik im Stile “Ihr redet von Völkermord und wir werden auch an einen erinnern”. Das führt zu nichts Gutem. Die Ukraine sollte von der Logik ausgehen, dass Polen für sie wichtig, nah und notwendig ist.

UCMC: Sie haben gesagt, dass es gut wäre, über die Ereignisse in Wolhynien in einem internationalen Kontext ethnischer Säuberungen und Völkermorde zu sprechen und Experten wie Timothy Snyder und Balkan-Kenner hinzuzuziehen…

Andrij Portnov: Es ist wichtig, dass nicht der Eindruck entsteht, dass solche Dinge nur hier passiert sind. Es wäre gut, renommierte Experten aus verschiedenen Ländern einzuladen – aus Deutschland, Israel und Kanada, gerne sogar aus Japan und China, wo es auch Fälle von Massenmord gab. Es sollte eine kompetente internationale Kommission geben. Ich glaube, dass so etwas nicht nur Polen braucht, sondern auch die Ukraine, weil auf dem Territorium der heutigen Ukraine das geschehen ist, was sich direkt auf die ukrainische Erfahrung des Krieges bezieht, die sehr verwirrend und widersprüchlich ist. Und politisch ist die Position desjenigen, der beginnt, über sein eigenes historisches Fehlverhalten zu sprechen, immer stärker. Darüber hinaus könnten ukrainische Initiativen zum Wolhynien-Thema der internationalen Gemeinschaft zeigen, dass die Ukraine verantwortungsvoll mit ihrer schwierigen Vergangenheit umgeht. Und das wird übrigens von allen potenziellen EU-Mitgliedern erwartet.