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Tschernobyl, 30 Jahre später: Radioaktiver Zugzwang?

Dieses Jahr begeht die Welt den 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe, die weltweit die Vorstellung vom “sicheren Atom” verändert und kommenden Generationen eine Menge von Problemen hinterlassen hat. Wie ging die Bewältigung der Katastrophe vonstatten? Ist es gelungen, die Folgen der Katastrophe zu minimieren? Steht die Ukraine mit ihrer Tragödie allein da?

Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hat versucht, diesen schwierigen Fragen in einem Gespräch mit Jurij Kostenko nachzugehen, der persönlich an der Bewältigung des Tschernobyl-Problems beteiligt war. Der ehemalige ukrainische Minister für Umwelt und Reaktorsicherheit (1992-1998) und stellvertretende Vorsitzender des einstigen parlamentarischen Ausschusses zur Untersuchung der Ursachen der Tschernobyl-Katastrophe war an Gesprächen zur Bewältigung der Katastrophe beteiligt. Er war es, der im Jahr 1995 ein Memorandum über Verständigung unterzeichnete, das zur kompletten Stilllegung des Kernkraftwerks Tschernobyl im Jahr 2000 führte.

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Konstruktionsmängel oder Fehler der Mitarbeiter: Was geschah wirklich in Tschernobyl?

Nach 1986 versuchte die sowjetische Propaganda die ganze Welt davon zu überzeugen, dass die Katastrophe in Tschernobyl durch Fehler des Betriebspersonals ausgelöst wurde, das im AKW einen Versuch durchführte. Aber die Nachforschungen des Untersuchungsausschuss, die sich sowohl auf den Angaben von Wissenschaftlern der ehemaligen Sowjetunion als auch ukrainischer Experten gründeten, haben gezeigt, dass die Katastrophe auf Konstruktionsfehler bei Hochleistungsreaktoren vom Typ RBMK zurückzuführen ist. Dieser Fehler bestand gerade darin, dass beim Betätigen des Schalters “Stop” – falls der Reaktor, laut Betriebsanleitung, außer Kontrolle gerät – dieser nicht heruntergefahren, sondern im Gegenteil, beschleunigt wird.

Ist eine Wiederholung ähnlicher Katastrophen heute möglich?

Heute sind RBMK-Reaktoren nur noch in Russland in Betrieb (Atomkraftwerke von Belojarsk, Kursk, und Leningrad). Neben Mängeln bei der Notabschaltung des Reaktors fehlt ihm zum Beispiel ein Sicherheitsbehälter (Containment), der den Reaktordruckbehälter umschließt, um die Umwelt im Falle eines Störfalls vor radioaktiver Kontamination zu schützen. Ein solcher Sicherheitsbehälter hält einer Atombombe oder einem Flugzeugabsturz stand. Reaktoren dieses Typs ohne einen Sicherheitsbehälter sind die gefährlichsten in der Welt. Trotz der Modernisierung solcher Kraftwerke sind die Gefahren nicht ganz beseitigt. Szenarien einer Katastrophe wie in Tschernobyl können sich wiederholen, solange auch nur ein Reaktor des Typs RBMK in Betrieb ist.

Die sowjetische Propaganda

Trotz der sowjetischen Propaganda war es der Öffentlichkeit durchaus bewusst, dass das AKW Tschernobyl und RBMK-Reaktoren gefährlich sind. Sogar zu Sowjetzeiten hatte es viele Publikationen gegeben, in denen vor einer Explosion dieses Reaktortyps gewarnt wurde. Schon vor 1986 hatte es Fälle gegeben, wo es wegen der Konstruktionsfehler bei RBMK-Reaktoren zu einer teilweisen Schmelze gekommen war, so zum Beispiel auch im AKW Tschernobyl und im AKW Leningrad. Wissenschaftler hatten versucht, den Behörden klarzumachen, dass der Betrieb dieser Reaktoren unsicher ist.

Aber in der UdSSR wurde “große Politik” gemacht. Die Reaktoren waren von der Akademie der Wissenschaften und deren Präsidenten Anatolij Aleksandrow konstruiert worden, der auch Leiter des Projekts war. Chefkonstrukteur war Nikolaj Dolljeschal. Die Kommunistische Partei hatte für den Reaktor “grünes Licht” gegeben.

Ein weiterer fataler Fehler des sowjetischen totalitären Systems war die Tatsache, dass beim Bau aller Atomkraftwerke keine Maßnahmen geplant wurden, um die Folgen möglicher Unfälle zu minimieren. Deshalb wurden gleich nach der Katastrophe viele Fehler gemacht, die zusätzliche Probleme schufen.

Ist eine “Liquidierung” unmöglich?

Seit 1986 spricht man in der Regel von einer “Liquidierung” der Havarie in Tschernobyl. Aber es war von Anfang an klar, dass das Vorgehen des totalitären sowjetischen Systems absurd war. Es versuchte Folgen zu beseitigen, die man nicht “liquidieren” kann. Zum Beispiel beträgt die Halbwertszeit einiger Radionuklide, wie bei Uran 239, 4,5 Milliarden Jahre. Kann ein Staat so etwas “liquidieren”? Das totalitäre sowjetische System traf politische Entscheidungen, ohne dabei die Wissenschaft  und die Sicherheit zu beachten.

Der “Sarkophag-1”

In einer Rekordzeit von neun Monaten wurde über dem explodierten vierten Reaktorblock des Kraftwerks der “Sarkophag” errichtet. Schon zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1992 hatte er Risse, die insgesamt eine Fläche von 1000 Quadratmetern ausmachten. Gebaut wurde er in Eile. Einer der tragenden Balken hing buchstäblich durch und verfehlte eine Stütze um 15 cm. Das Bauwerk war von Anfang an instabil und undicht.

Zunächst hieß es, der Sarkophag werde garantiert 50 Jahre halten, später hieß es 30 Jahre. Aber schon am 20. Jahrestag der Tragödie war er in einem kritischen Zustand. So war ein Entlüftungsrohr bereits zusammengebrochen und in den löchrigen Sarkophag drang Wasser ein, was eine Kettenreaktion und thermische Explosion hätte verursachen können.

Tschernobyl und die Wirtschaft

Im Jahre 1991 betrug das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine 71 Milliarden US-Dollar. Allein die direkten Ausgaben, um die Folgen der Katastrophe zu minimieren, beliefen sich auf sieben Milliarden. Aber es wurden nicht nur Gelder aus dem eigens geschaffenen Tschernobyl-Etat herangezogen, sondern auch von Unternehmen. Im Jahr 1992 waren 15 Prozent des ukrainischen Staatshaushalts für Tschernobyl bestimmt.

Von Anfang an lag der Lösung des Problems ein falsches Wirtschaftsmodell zugrunde. Der Staat stockte proportional zur Strahlendosis die Löhne und Renten der Menschen auf, die in den kontaminierten Gebieten blieben. Je höher die Dosis, desto höher die Zuschläge. Im Ergebnis brauchten immer mehr Menschen medizinische Hilfe. Die Gesundheitsausgaben stiegen Jahr für Jahr. Im Ausland hingegen ist man bestrebt, dass Menschen, die in solchen Gebieten leben, saubere Milch, Nahrung und Wasser bekommen. Dafür werden im Staatsetat wirtschaftliche Anreize geschaffen.

Warum blieb das AKW Tschernobyl bis zum Jahr 2000 in Betrieb?

Die wichtigste Frage in den ersten Jahren nach der Katastrophe war, warum das AKW Tschernobyl nicht unmittelbar nach der Katastrophe stillgelegt wurde. Bereits sechs Monate nach der Havarie, im Oktober 1986, wurde der erste und zweite Block wieder hochgefahren, im Dezember 1987 auch der dritte. Antworten auf diese Frage fehlen. Diese Entscheidung war völlig absurd und ungerechtfertigt. Der Betrieb des Kraftwerks hatte weder wirtschaftlichen, noch wissenschaftlich-technischen Nutzen.

Mehr noch, die Sicherheitslage in Tschernobyl war beunruhigend. Im Jahr 1991 hätte sich die Tragödie im Block 2 fast wiederholt, wo es in der Steuerzentrale einen Brand gab. Es handelte sich damals um Sekunden. Wäre der Reaktor außer Kontrolle geraten, wäre es zu einer Havarie gekommen. Informationen darüber wurden seinerzeit zunächst sogar der Staatsführung vorenthalten. Gerade nach diesen Vorfällen wurde entschieden, alle Reaktorblöcke in Tschernobyl stillzulegen.

Es gab zwei Auswege aus dieser Situation: entweder eine Modernisierung oder Stilllegung. Der Chefkonstrukteur des Kraftwerks meinte, man sollte die Reaktoren bis zum Jahr 2000 modernisieren und den Betrieb fortsetzen. Dafür wären etwa eine Milliarde Dollar erforderlich gewesen, die die Ukraine aber nicht hatte. Gerade weil die Ukraine nicht in der Lage war, das AKW sicher zu betreiben, wurde eine Stilllegung beschlossen. Im Gegenzug erhielt die Ukraine Finanzhilfen, weil sie die Stilllegung allein nicht bewältigen konnte.

Wie die Ukraine gezwungen wurde, das AKW Tschernobyl zu schließen. Die Rolle der internationalen Gemeinschaft

Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1992 beschloss die G7 bei ihrem Gipfel in Neapel im Juli 1994, dass das AKW Tschernobyl stillgelegt werden muss. Die Menschheit fürchtete sich vor den Folgen der Katastrophe, denn vom Fallout waren auch Länder wie Polen und Norwegen betroffen gewesen. Im Jahr 1995 führte eine ukrainische Delegation Verhandlungen mit den G7-Staaten durch. Das Hauptproblem war die Finanzierung.

Die G7 war bereit, der Ukraine finanziell zu helfen, sofern sie zustimmen würde, Tschernobyl zu schließen. Damals, 1995, ging es um Finanzhilfen zur sicheren Entsorgung von Restbrennstoff aus dem AKW Tschernobyl, was in einem Aktionsplan festgeschrieben wurde. Am 20. Dezember 1995 wurde zwischen der Ukraine und der G7 ein Memorandum unterzeichnet, das einen detaillierten Plan zur Bewältigung des Tschernobyl-Problems vorsah. Es wurde im Namen der Ukraine vom Gesprächspartner des UCMC, Jurij Kostenko, unterzeichnet.

1998: Eine “Schutzhülle” nur für die Probleme?

Bei den Verhandlungen wollte die Ukraine den Westen von der Notwendigkeit überzeugen, den Brennstoff zu bergen und endzulagern, anstatt nur eine Schutzhülle zu errichten. Aber die Ukraine verfügte nicht über die notwendige Infrastruktur, um eine solche Aufgabe zu bewältigen. Zudem würde eine Endlagerung Hunderte von Milliarden Dollar kosten.

Nach 1998 hatten die westlichen Partner der Ukraine allmählich verstanden, dass es schwierig ist, finanzielle Verpflichtungen für ein solches Non-Profit-Projekt zu übernehmen. Die Idee, den Kernbrennstoff zu bergen und sicher zu entsorgen, führte letztlich zum Plan, eine Schutzhülle zu bauen, also einen neuen Sarkophag: den Sarkophag-2.

Der Sarkophag-2 sollte als neue Schutzhülle die Welt vor den bestehenden Gefahren in Tschernobyl bewahren. Man wollte sie so für 100 Jahre, so die Bestandsgarantie des Bauwerks, vergessen können. Die Lasten des künftigen Betriebs der Schutzhülle wird die Ukraine selbst tragen müssen. Doch niemand weiß, was mit der Schutzhülle in den nächsten Jahren passieren kann. Wie schnell wird das Baumaterial ermüden? Wird es Naturkatastrophen geben, die das Bauwerk beschädigen und Radioaktivität freisetzen? Jedenfalls kann man klar sagen, dass dieses Projekt in Zukunft für weitere Probleme sorgen wird.

Die Kosten des Projekts belaufen sich auf 2,5 Milliarden Euro, die ein Konsortium aus französischen und anderen europäischen Unternehmen übernommen hat.

Was sind die Probleme des Projekts “Schutzhülle”?

Unter Bedingungen einer starken radioaktiven Strahlung hält kein Bauwerk so lange, wie ursprünglich geplant. Dieses Schicksal ereilte schon den ersten Sarkophag und es gibt keine Garantie, dass es auch dem Sarkophag-2 so ergehen wird. Die Strahlung schädigt die Baukonstruktionen, was künftigen Generationen weitere Probleme bereiten wird: und zwar die Entsorgung der Baumaterialien selbst, und das sind Tausende von Tonnen.

Die internationale Gemeinschaft hat immer noch nicht entschieden, was in Zukunft mit dem ersten Sarkophag geschehen soll. Die einzig richtige Lösung wäre, den radioaktiven Schutt zu bergen und zu entsorgen. Auch der Sarkophag-2 ist nur eine vorübergehende Lösung. In Zukunft könnte ein dritter Sarkophag nötig werden.