Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Ukraine, Walerij Saluschnyj, der selten lange Interviews gibt, hat scharf auf Aussagen westlicher Vertreter und Beobachter reagiert, die den Streitkräften der Ukraine eine angeblich “schleppende” Gegenoffensive vorwerfen. “Flugzeuge, Granaten und Geduld” sind drei seiner Schlüsselwörter. In einem Gespräch mit der amerikanischen Zeitung “The Washington Post“, die vor einem Jahr ein Büro in Kyjiw eröffnet hat, erinnert Saluschnyj die westlichen Partner der Ukraine daran, dass die Gegenoffensive “keine Show” sei und die Ukraine noch nicht die dringend benötigten Flugzeuge zum Schutz ihrer Truppen erhalten habe.
Ukraine braucht Kampfflugzeuge
General Walerij Saluschnyj sagte, dass er für ein schnelleres Vorankommen der ukrainischen Gegenoffensive mehr benötige – jede Art von Waffen. Saluschnyj äußerte seine Enttäuschung darüber, dass seine größten westlichen Unterstützer ohne Luftüberlegenheit niemals eine Offensive starten würden, die Ukraine jedoch immer noch keine modernen Kampfflugzeuge erhalten habe. Zugleich werde erwartet, dass sie die von Russland besetzten Gebiete schnell zurückerobert. F-16-Kampfflugzeuge aus amerikanischer Produktion, die kürzlich versprochen wurden, werden erst im Herbst eintreffen, und das im besten Fall.
Saluschnyj erinnerte auch an die NATO-Doktrin, die seiner Meinung nach der russischen ähnelt und Luftüberlegenheit erfordert, bevor tiefgreifende Bodenoperationen beginnen können. Saluschnyj hat einen Bildschirm, der ihm alle Flugzeuge anzeigt, die sich derzeit in der Luft befinden – NATO-Flugzeuge an der Westgrenze der Ukraine, seine eigenen Flugzeuge der ukrainischen Streitkräfte im Luftraum über der Ukraine und russische Flugzeuge an der östliche Grenzen. “Sagen wir es so: Die Zahl der Flugzeuge, die unsere Westgrenzen patrouillieren, ist doppelt so hoch wie die Zahl der russischen Flugzeuge, die unsere Stellungen zerstören. Warum können wir nicht mindestens ein Drittel von dort nehmen und hierher bringen?”, fragte Saluschnyj und fügte hinzu: “Niemand sagt, dass wir morgen aufrüsten und 120 Flugzeuge bekommen müssen. Ich brauche keine 120 Flugzeuge. Ich werde nicht die ganze Welt bedrohen. Eine sehr begrenzte Menge würde ausreichen. Aber sie werden gebraucht. Weil es keinen anderen Weg gibt. Denn der Feind nutzt Flugzeuge einer anderen Generation.”
Mehr Geschosse nötig
Saluschnyj sagte ferner, dass seine Truppen auch mindestens so viele Artilleriegeschosse wie der Feind einsetzen sollten, aber aufgrund der begrenzten Ressourcen der ukrainischen Streitkräfte würden sie manchmal zehnmal Mal weniger haben als die Russen. “Ohne eine vollständige Versorgung können diese Pläne überhaupt nicht umgesetzt werden. Aber sie werden durchgeführt. Ja, vielleicht nicht so schnell wie die Teilnehmer der Show, das Publikum es sich wünschen, aber das ist ihr Problem”, fügte er hinzu.
Saluschnyj sagte, dass er mehrmals in der Woche seine Sorgen mit dem amerikanischen General Mark Milley teile, den er zutiefst bewundere und den er als Freund betrachte. “Ich denke, er kann mir helfen, diese Sorgen loszuwerden”, sagte Saluschnyj und fügte hinzu, dass er Milley jüngst gesagt habe, wie viele Artilleriegeschosse er für den Monat noch benötige. In diesen Gesprächen spricht Saluschnyj offen über alle Folgen: “Wir haben vereinbart, dass wir rund um die Uhr in Kontakt sind. Manchmal kann ich also anrufen und sagen: ‘Wenn ich in einer Woche nicht 100.000 Granaten bekomme, werden 1000 Menschen sterben’.
Bitte um größere Geduld
Es mache ihn wütend, sagte Saluschnyj, wenn er höre, dass die lang erwartete Gegenoffensive der Ukraine im Osten und Süden des Landes “langsamer als erwartet” laufe. Ihm zufolge machen seine Truppen jeden Tag einige Vorstöße, auch wenn es manchmal nur 500 Meter sind.
“Unsere Aufgabe ist es, uns auf die schlimmsten und wahrscheinlichsten Szenarien vorzubereiten. Und wir werden versuchen, die möglichen Folgen dessen, was passieren könnte, so gering wie möglich zu halten”, so Saluschnyj. Eines der Worst-Case-Szenarien, mit denen er rechnen muss, ist die Gefahr, dass der russische Diktator Wladimir Putin Atomwaffen einsetzen könnte. Letzte Woche hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gewarnt, dass der ukrainische Geheimdienst Informationen darüber erhalten habe, dass russische Streitkräfte einen “Terroranschlag mit Freisetzung von Strahlung” im besetzten Kernkraftwerk Saporischschja, dem größten Atomkraftwerk Europas, vorbereiteten. “Sowas hält mich nicht auf. Wir machen unseren Job. All diese Signale kommen aus irgendeinem Grund von außen – ‘Fürchtet einen Atomschlag’. Was sollen wir tun, etwa kapitulieren?”, betonte Saluschnyj.
Podcast Explaining Ukraine
Mykola, Vorsteher von Netschwolodiwka, einem Dorf in der Nähe von Kupjansk im Gebiet Charkiw, wurde zweimal von den russischen Besatzern entführt und gefoltert. Die Geschichte von ihm und seiner Familie und die russische Grausamkeit während der Besatzung.
Moderatoren: Volodymyr Yermolenko, ukrainischer Philosoph und Journalist, Chefredakteur von UkraineWorld.org, und Tetyana Ogarkova, ukrainische Wissenschaftlerin und Journalistin, verantwortlich für die internationale Öffentlichkeitsarbeit im Ukraine Crisis Media Centre.