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Die Deportation der Krimtataren

Dieser Artikel basiert auf Material von BBC

Zwischen dem 18. und 20. Mai 1944 hat per Befehl aus Moskau der sowjetische Geheimdienst NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der UdSSR) fast die gesamte krimtatarische Bevölkerung der Krim zusammengetrieben und in 70 Eisenbahnzügen Richtung Usbekistan geschickt.

Wie haben die Krimtataren vor der Deportation gelebt?

Nach der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 hat Moskau die Krimtataren als autochthones Volk der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Krim im Rahmen der Korenisazija-Politik (Indigenisierungspolitik) anerkannt.

In den 20er Jahren wurde den Krimtataren erlaubt, ihre eigene Kultur zu leben und zu fördern. Auf der Krim erschienen krimtatarische Zeitungen und Magazine. Es gab krimtatarische Bildungseinrichtungen, Museen, Bibliotheken und Theater.

Krimtatarisch war neben Russisch Amtssprache der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Krim. Zwischen 1920 und 1939 hatten die Krimtataren einen Anteil von 25 bis 30 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Halbinsel.

Wann fand die Deportation statt?

Die Hauptphase der Zwangsumsiedlung dauerte drei Tage: Sie begann im Morgengrauen des 18. Mai 1944 und endete zwei Tage später am 20. Mai um 16 Uhr. Insgesamt wurden 238.500 Menschen von der Krim deportiert, fast alles Krimtataren. Dafür wurden vom NKWD über 32.000 Mann eingesetzt.

Was waren die Gründe für die Deportation?

Offizieller Grund für die Zwangsumsiedlung war der Vorwurf des “Landesverrats” gegen das gesamte Volk der Krimtataren. Sie wurden “der Vernichtung von Sowjetmenschen” und der “Kollaboration” mit den nationalsozialistischen Besatzern bezichtigt.

Doch Historiker sehen andere Gründe für die Deportation. Einer soll der Umstand gewesen sein, dass die Krimtataren historisch enge Beziehungen zur Türkei unterhielten, die die UdSSR zu jener Zeit als potentiellen Feind betrachtete. Für die Sowjetunion war die Krim strategisch gesehen ein Aufmarschgebiet bei einem möglichen Konflikt mit der Türkei. Stalin wollte sich gegen die möglichen “Saboteure und Verräter” absichern, die die Krimtataren in seinen Augen waren.

Für diese Theorie spricht die Tatsache, dass aus Gebieten im Kaukasus, die an die Türkei grenzen, andere muslimische ethnische Gruppen umgesiedelt wurden: Tschetschenen, Inguschen, Karatschaier und Balkaren.

Haben die Krimtataren die Nazis unterstützt?

Laut dem Historiker Jonathan Otto Pohl haben in den Kampfeinheiten gegen die Sowjets, die von den deutschen Behörden gebildet wurden, 9000 bis 20.000 Krimtataren gedient. Einige von ihnen wollten ihre Dörfer vor sowjetischen Partisanen schützen. Wie die Krimtataren damals berichteten, wurden sie von den Partisanen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft verfolgt.

Andere Krimtataren haben sich den deutschen Truppen angeschlossen, da sie in Gefangenschaft der Nazis geraten waren und den schlechten Bedingungen in den Kriegsgefangenenlagern in Simferopol und Nikolajew entkommen wollten. Gleichzeitig kämpften 15 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung der Krimtataren aufseiten der Roten Armee. Während der Deportation wurden sie demobilisiert und nach Sibirien und in den Ural in Arbeitslager geschickt.

Wie wurde die Zwangsumsiedlung durchgeführt?

Angehörige des NKWD kamen in die Häuser und Wohnungen der Krimtataren und erklärten ihnen, dass sie wegen Landesverrats von der Krim umgesiedelt würden.

Die Menschen hatten 15 bis 20 Minuten Zeit, um ihre Sachen zu packen. Offiziell hatte jede Familie das Recht, bis zu 500 Kilogramm Gepäck mitzunehmen, doch tatsächlich wurde viel weniger erlaubt, manchmal sogar gar nichts.

Mit Lastwagen wurden die Menschen zu Bahnhöfen gebracht. Von dort aus wurden sie in fast 70 fest verschlossenen und mit Menschen völlig überfüllten Güterzügen gen Osten geschickt.

Während der Fahrt kamen rund 8000 Menschen ums Leben. Die häufigsten Todesursachen waren Verdurstung und Typhus. Einige Menschen konnten das Leid nicht ertragen und verloren den Verstand. Der zurückgelassene Besitz der Krimtataren wurde verstaatlicht.

Wohin wurden die Krimtataren deportiert?

Die meisten Tataren wurden nach Usbekistan oder in Gebiete in Kasachstan und Tadschikistan gebracht, die an Usbekistan grenzen. Kleine Gruppen kamen in den Ural, in die russische Region Kostroma oder in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Mari.

Welche Folgen hatte die Deportation für die Krimtataren?

In den ersten drei Jahren nach der Deportation starben zwischen 20 und 46 Prozent der deportierten Krimtataren an Erschöpfung und Krankheit. Fast die Hälfte der Toten waren Kinder im Alter bis zu 16 Jahren. Wegen Mangels an sauberem Wasser, schlechten Hygienebedingungen und fehlender medizinischer Versorgung brachen Malaria, Gelbfieber, Dysenterie und anderen Krankheiten aus.

Welchen Status hatten die Krimtataren in Usbekistan?

Die überwiegende Mehrheit der Krimtataren wurde in sogenannte Sondersiedlungen gebracht, die von bewaffneten Wachen und Kontrollposten umgeben sowie mit Stacheldraht eingezäunt waren. Sie glichen daher eher Arbeitslagern als Dörfern.

Die Neuankömmlinge wurden in kollektiv bewirtschafteten Kolchosen und staatlichen Sowchosen oder in Industriebetrieben als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Zu den härtesten Arbeitseinsätzen zählte der Bau des usbekischen Farhad-Wasserkraftwerks.

Im Jahr 1948 erklärte Moskau die Krimtataren zu “Umsiedlern auf Lebenszeit”. Wer ohne Genehmigung des NKWD die Sondersiedlungen verließ, um beispielsweise Verwandte zu besuchen, riskierte eine Gefängnisstrafe von bis zu 20 Jahren. Solche Fälle hatte es gegeben.

Noch vor der Deportation wurde mit Propaganda Hass unter der lokalen Bevölkerung gegen die Krimtataren geschürt, um sie als Verräter und Volksfeinde zu brandmarken.

Laut der Historikerin Greta Lynn Uehling wurde den Usbeken erzählt, es kämen “Zyklopen” oder “Kannibalen” zu ihnen und sie sollten sich deswegen von den Fremden fernhalten. Als die Usbeken erfuhren, dass die Krimtataren ihre Glaubensgenossen sind, waren sie überrascht.

Die Kinder der Krimtataren wurden auf Russisch oder Usbekisch unterrichtet, nicht aber auf Krimtatarisch. Ab dem Jahr 1957 waren jegliche Publikationen in krimtatarischer Sprache verboten. Der Eintrag über die Krimtataren wurde aus der Großen Sowjetischen Enzyklopädie entfernt. Außerdem wurde verboten, im Pass krimtatarisch als Nationalität einzutragen.

Wie veränderte sich die Krim ohne die Tataren?

Nach der Deportation der Tataren, Griechen, Bulgaren und Deutschen von der Krim verlor die Halbinsel im Juni 1945 der Status einer Autonomen Sowjetrepublik und wurde als Oblast (Gebiet) in die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik eingegliedert. Die südlichen Regionen der Krim, die früher überwiegend von Krimtataren bewohnt waren, waren menschenleer.

Beispielsweise lebten laut offiziellen Angaben nach der Deportation nur noch 2600 Menschen im Bezirk Aluschta und im Bezirk Balaklawa nur noch 2200. Nach und nach wurden dann Menschen aus Russland und der Ukraine dort angesiedelt.

Die sowjetischen Behörden vernichteten Denkmäler sowie verbrannten historische Handschriften und Bücher der Krimtataren, sogar die ins Krimtatarische übersetzen Werke von Lenin und Marx. Die Moscheen wurden in Kinos und Einkaufsläden umfunktioniert.

Wann durften die Krimtataren zurückkehren?

Das Regime der Sondersiedlungen dauerte bis zur Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow Mitte der 1950er Jahre. Damals erleichterten die sowjetischen Behörden den Krimtataren ihre Lebensbedingungen, doch den Vorwurf des Landesverrats ließen sie aufrecht bestehen.

In den 50er und 60er Jahren kämpften die Krimtataren für ihr Recht, in ihre historische Heimat zurückkehren zu dürfen, unter anderem mit Demonstrationen in usbekischen Städten. Im Jahr 1968 nahmen sie Lenins Geburtstag als Anlass für eine solche Aktion, doch die Behörden schlugen die Demonstration nieder.

Schrittweise gelang es den Krimtataren, ihre Rechte zu erweitern – zumindest inoffiziell. Doch das Verbot auf die Krim zurückzukehren blieb bis 1989 bestehen. In den folgenden vier Jahren kehrten 250.000 Menschen, die Hälfte aller in der Sowjetunion lebenden Krimtataren, in ihre Heimat zurück.

Hat die Deportation Anzeichen eines Völkermords?

Einige Wissenschaftler und Dissidenten sind der Ansicht, dass die Deportation der Krimtataren der Völkermord-Definition der Vereinten Nationen entspricht. Sie argumentieren, dass die sowjetische Führung die Absicht hatte, die Krimtataren als ethnische Gruppe zu vernichten, und sie habe dieses Ziel konsequent verfolgt.

Im Jahr 2006 bat der Kurultai, die Volksversammlung der Krimtataren, das ukrainische Parlament, die Deportation als Völkermord anzuerkennen. Ungeachtet dessen wird in den meisten historischen Werken und diplomatischen Dokumenten die Zwangsumsiedlung der Krimtataren auch heute noch als Deportation und nicht als Völkermord bezeichnet. In der Sowjetunion wurde einfach der Begriff “Umsiedlung” verwendet.