Menu

Regiment ohne Spuren – militärische Verluste der Russischen Föderation im Donbass

Cargo 200

Das Ukraine Crisis Media Center veröffentlicht eine gekürzte Version eines Artikels der Ukrainska Prawda.

Russen reagierten im Februar dieses Jahres erschrocken über eine Meldung des russischen Verteidigungsministeriums: das Amt plante, 50.000 Flaggen als Abdeckung für Särge zu kaufen. Diese Ankündigung fand sich auf der Website des russischen Informationssystems über Einkäufe. Doch der Kauf fand dann doch nicht statt. Der einzige Lieferant konnte die Lieferbedingungen nicht wie gefordert erfüllen.

Trotzdem blieb die Frage im Raum: für was braucht das Verteidigungsministerium so viele Flaggen zu Beerdigungszwecken? Eine Antwort gab es nicht.

Auch die Frage, wie viele russische Bürger während des nunmehr dreijährigen Kriegs in der Ukraine ums Leben kamen, blieb unbeantwortet.

Schätzungen der Gefallenen: von ein paar hundert bis zu ein paar tausend Tote

In den drei Kriegsjahren starben 2.652 ukrainische Soldaten. Das ist die offizielle Zahl unserer Verluste. Darin enthalten sind Soldaten, aber auch Mitglieder der Nationalgarde, des ukrainischen Geheimdiensts (SBU), des Innenministeriums und Grenzsoldaten.

Um an diese Informationen zu kommen, müssen Journalisten keine Mammutaufgabe vollbringen. Es reicht, das tägliche Briefing des Sprechers aus dem ukrainischen Verteidigungsministeriums zu besuchen.

In Russland ist alles anders. Offizielle Zahlen über getötete Russen in der Ukraine gibt es nicht. Diese Daten werden von Aktivisten, Menschenrechtlern und Journalisten recherchiert.

Die „Liste von Wasiljewa“: 3.298

Eines der bekanntesten Zählprojekte über militärische Verluste der Russischen Föderation ist „Fracht 200 aus der Ukraine nach Russland“ („Fracht 200“ ist ein Begriff des Militärs in den ehemaligen Sowjetrepubliken und bezeichnet die Beförderung von Gefallenen). Seit dem Sommer 2014 versuchen Freiwillige des Projekts unter Leitung von Elena Wasiljewa eine Liste mit Namen der Gefallenen zusammenzustellen.

„Im August/September 2014 hatte ich gute Kontakte zu den Leichenhallen in Donezk und Luhansk“, berichtet Wasiljewa. „Ich bekam sogar die Daten von den Ausweisen. Unsere Statistik basiert direkt auf Berechnungen. Sie nach Namen zu bilden, war unmöglich.“

Mit Stand vom 1. Mai 2017 stehen auf der „Liste von Wasiljewa“ 3.298 Personen. Darunter sind neben Soldaten auch „freiwillige Söldner“. Die Verlustliste ist in sechs Bereiche gegliedert:

1 Bürger der Russischen Föderation – Soldaten und Söldner aus Russland 1094
2 Ohne vollständige Daten 398
3 Vermisste 821
4 Separatisten und Söldner ohne bestimmte Staatsangehörigkeit 945
5 Medizinisches Personal 28
6 Getötete Journalisten 12

Nur in einer Kategorie, nämlich der ersten, sind alle Informationen über jeden einzelnen gefallenen Russen, der in der Ukraine kämpfte, enthalten. Im Verlauf der Suche nach weiteren Informationen können die Daten über die Gefallenen von einer Kategorie in die erste übertragen werden.

„Die Namen „tauchen“ nach und nach auf“, berichtet Wasiljewa. „Zum Beispiel gibt es den Rufnamen und das Todesdatum. Nach ein paar Monaten kommt eine Meldung, wie der Vor- und Nachname war, oder aus welcher russischen Stadt er stammte. Das wird ergänzt und so werden alle Daten eingetragen.“

Die Informationen werden von den Freiwilligen des Projekts in offen zugänglichen Quellen gesucht. Fündig werden sie in Medienberichten oder Meldungen in Sozialen Netzen.

Aber bei weitem nicht alle Todesfälle und Beerdigungen werden in offenen Quellen erwähnt.

„Soldaten bestätigen, dass normalerweise die Namen von nur jedem zehnten Gefallenen bekannt werden. Wir haben bis Mitte 2015 gezählt und danach aufgehört. Es wurde enorm schwierig, zu definieren, wer Russe oder Separatist war. Ohne Dokumente oder entsprechende Kleidung. Oft wurde geschrieben, der Gefallene stamme aus Horliwka/Makejewka. Und wenn man sucht, stammt er aus dem Gebiet von Murmansk in der Region Chabarowsk“, sagt Wasiljewa.

Im Herbst 2014 trennten sich ein paar Mitglieder des Projekts und gründeten die neue Gruppe: „Fracht 200“. Oxana Horelowa, die Koordinatorin dieser Gruppe, erklärte, dass sie mit Wasiljewa gebrochen hatten, weil sie entschied, Gefallene ohne Verifizierung in die Liste aufzunehmen.

Die alternative „Fracht 200“: 500 auf der Liste, geschätzt – 5.000

Seit Ende November 2014 führt die Gruppe von Horelowa eine parallele Zählung. Sie meint, dass man zur Schätzung der Gesamtverluste an Russen in der Ukraine die Anzahl der bestätigten Toten mit 10 multiplizieren muss.

„Innerhalb von zwei Jahren standen auf unserer Liste 500 Namen. Das heißt, realistisch könnten es 5.000 Tote sein“, rechnet Horelowa.

Die Russin erklärt, wie sie auf den Koeffizienten „Zehn“ zur Berechnung der realen Anzahl Gefallener kommt. Freiwillige erhielten Informationen über ganze Gruppen und Einheiten gefallener russischer Soldaten oder Söldner. Es gelang ihnen nicht immer, alle zu identifizieren.

„Es kam öfter vor, dass nur ein einziger Gefallener einer Einheit identifiziert wurde, aber über den Rest nichts bekannt war. Das heißt nicht, dass nicht alle aus der Einheit gefallen sind. Es gab in den Sozialen Netzen einfach nur Informationen über einen Gefallenen. Wir hatten auch Probleme damit, nach Informationen über Gefallene zu suchen, die aus nicht-russischsprachigen Regionen stammten. Ich weiß, dass es sehr viele Tote aus Tschetschenien, Dagestan, Tatarstan oder Baschkirien gab. Aber, was bei uns ankommt, ist sporadisch. Nicht alle Verwandten schreiben in den russischen sozialen Netzen Trauerbekundungen. Dadurch verlieren wir mehrere Prozent der „Zweihunderter“, meint Horelowa.

Das Komitee der Soldatenmütter: es gibt keine Informationen über die Anzahl der Gefallenen

Valentina Melnikowa, die verantwortliche Sekretärin der Union des Komitees der Soldatenmütter, meint, dass sich während des Kriegs in Tschetschenien viele Verwandte von Soldaten an Menschenrechtler wandten.

Bei der Aggression gegen die Ukraine ist dies nicht der Fall.

Ein Grund dafür könnten die Maßnahmen der Behörden sein. Hierbei wird das Konzept „Zuckerbrot und Peitsche“ angewandt. Für einen gefallenen russischen Soldaten kann die Familie offiziell bis zu fünf Millionen Rubel (zum aktuellen Kurs, zirka 88.000 US-Dollar) bekommen. Zudem führt der russische Inlandsgeheimdienst FSB die Gespräche mit den Verwandten, damit sich die Informationen über einen toten Soldaten in der Ukraine nicht verbreiten.

Russen und Ukrainer haben ähnlich viele Verluste zu verzeichnen

Der einzige gesamtrussische TV-Sender, der offen über Verluste der Russen in der Ukraine spricht, ist der Kanal „Doschd“.

Im Sommer/Herbst 2014 versuchten Journalisten von „Doschd“ eine eigene Datenbasis der Gefallenen aufzubauen. Sie baten darum, Informationen über Gefallene, Vermisste oder gefangengenommene Soldaten zu schicken. Insgesamt erhielten sie Daten von 17 Gefallenen.

Der Autor dieses Artikels unterhielt sich mit den Journalisten von „Doschd“, die sich 2014 mit dem Thema beschäftigten. Heute arbeiten sie in Prag beim TV-Sender „Nastojaschtscheje Wremja“. Sie erinnerten sich, dass sie sehr wenig Briefe über gefallene russische Soldaten erhielten und suchten deshalb weiter.

„Direkte Verlustzahlen gibt es nicht, aber wir kennen sie indirekt“, meint der Journalist Timur Olewskij. „Es gibt Armeeverluste: von Berufssoldaten und bei regulären Truppen. Das ist ein Verlust. Es gibt Söldnerverluste. Es gibt Verluste unter der Zivilbevölkerung in der Region. Die Verluste der Kriegsparteien sind vergleichbar. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Aber wenn wir wissen, wie viele ukrainische Soldaten fielen, wissen wir auch ungefähr, wie viele auf der anderen Seite starben.“

Eine ähnliche Meinung vertritt der Russe Kyrill Michajlow aus dem Forscherteam „Conflict Intelligence Team“. Diese Gruppe beschäftigt sich mit militärischen Konflikten aus offen zugänglichen Quellen.

„Fast die Hälfte der Gefallenen auf Seiten der „DVR/LVR“ sind Russen“, meint Michajlow. „Wie viele Verluste hatte die ukrainische Armee? Zweitausend oder mehr. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die andere Seite ebenso viele Verluste hatte. Deshalb kann man sagen, dass mindestens 1.000 Russen in der Ukraine gefallen sind.

Die Schätzung der russischen Berufssoldaten liegt bei Hunderten. Das ist das Minimum. Sehr wahrscheinlich sind es mehr, aber eine Obergrenze werden wir nie erfahren. Sie würde „Freiwillige“, Berufssoldaten und Söldner umfassen.“

Michajlow fordert auch, sich bei den Zahlen über die in der Ukraine gefallenen Russen auf verifizierte Daten zu stützen. Als Informationsquellen nennt er Bellingcat, InformNapalm und eine Reihe von Bloggern, darunter „askai707“.

In den Artikeln von Bellingcat sind keine Anageben über Gefallene in der Ukraine.

Der Blogger „askai707“ veröffentlichte am 8. Mai eine Liste mit 80 russischen Soldaten bei Twitter, die nach seinen Angaben in der Ukraine gefallen waren.

Dazu schrieb er: „Die Liste ist nicht vollständig. Einige Daten, wie die Zugehörigkeit zu einer Einheit, müssen präzisiert werden… Es sind bei weitem nicht alle Gefallenen in offenen Informationsquellen „aufgeführt“. Vielleicht ist einer der Erwähnten nur vermisst.“