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Das weibliche Antlitz des Krieges: Die Geschichte der Soldatin Olja

Vor fast einem Jahr verlor die ukrainische Soldatin Olja Benda in der Zone der Anti-Terror-Operation (ATO) im Osten der Ukraine ein Bein. Heute kann sie dank einer Prothese wieder gehen und für das Militär arbeiten. Vor kurzem gab Olja ukrainischen Medien einige Interviews, in denen sie berichtet, wie man im Krieg den Glauben an das Leben nicht verliert und trotz einer schweren Behinderung optimistisch bleibt. Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hat ihre Schilderungen zusammengefasst.

Der Beginn des Krieges

Als im Donbass die Kampfhandlungen begannen, lebte die gelernte Postangestellte Olja in Winnyzja und arbeitete als Köchin in einer Pizzeria. Kurz vor Beginn des Krieges im Jahr 2014 ließ sich die junge Frau von ihrem ersten Ehemann scheiden, mit dem sie einen kleinen Sohn hat.

Anfang 2016 unterschrieb sie einen Vertrag mit den Streitkräften der Ukraine. Sie absolvierte eine militärische Ausbildung am Internationalen Zentrum für Friedenssicherung und Sicherheit der Nationalen Akademie der Landstreitkräfte der Ukraine, besser bekannt als “Truppenübungsplatz Jaworiw”, der sich 30 Kilometer nordwestlich von Lwiw befindet. Zum ersten Mal fuhr Olja im Herbst 2016 an die Front, als mehrere Einheiten nach Awdijiwka verlegt wurden.

“Zu diesem Zeitpunkt war mein Sohn schon ein Jahr und sieben Monate alt. Ich überließ ihn der Obhut meiner Mutter. Ich muss zugeben, dass die Trennung von meinem Sohn für mich eine Qual war. Aber ich wollte ihn schützen, damit er in einem unabhängigen europäischen Staat aufwachsen kann. Dazu wollte ich meinen persönlichen Beitrag leisten”, so Olja im Gespräch mit der Internetzeitung “censor.net”. Olja ist eine von Zehntausenden ukrainischen Frauen, die in die ukrainische Armee gegangen sind.

Wie viele Frauen dienen in der ukrainischen Armee?

Jedes Jahr treten in der Ukraine mehr und mehr Frauen in den Militärdienst ein. Im Zeitraum 2014-2017 nahmen mehr als 6000 Frauen direkt an der Anti-Terror-Operation teil. 107 Frauen erhielten staatliche Auszeichnungen, darunter drei posthum. Mit dem Stand von November 2017 waren 55.629 Frauen im Militärdienst – 24.298 als Soldatinnen (etwa 8,5 Prozent aller Militärangehörigen). Im Juni 2016 erlaubte das Verteidigungsministerium der Ukraine weiblichen Militärs, auch Positionen zu besetzen, die mit größeren Risiken und mehr Verantwortung verbunden sind. Das ermöglichte Frauen, in der ukrainischen Armee unter anderem als Aufklärerin und Scharfschützin zu dienen. Zuvor wurden Frauen in der ATO-Zone meist als Köchinnen eingesetzt, so auch Olja. “Was ich an der Front gemacht habe? Das, was ich im zivilen Leben schon immer gut konnte, eben kochen”, berichtet Olja. Sie kochte dreimal am Tag für etwa 70 Personen.

Oljas schwere Verwundung

Am 14. Mai 2017 wurde Olja bei einem Beschuss schwer verletzt. “Ich war in einem Zimmer in einem Privathaus und wurde von einer Explosion geweckt. Ein Geschoss war direkt vor dem Haus explodiert. Anfangs war mir überhaupt nicht klar, was passiert war. Durch die Druckwelle war ich taub und bin fast bis an die Decke geflogen. Als ich zu mir kam und wieder sehen konnte, begriff ich, dass ich auf dem Boden saß. Das mit Ziegeln zugemauerte Fenster war verschwunden und in der Wand klaffte ein Loch bis zum Boden”, erinnert sich Olja. Sie habe nach Hilfe rufen wollen, sei aber dann bewusstlos geworden.

Gefunden wurde sie von einem Kameraden. Ihr linkes Bein konnte nicht mehr gerettet werden. Der größte Teil musste amputiert werden. Drei Tage nach der Amputation wurde Olja zunächst in die Stadt Dnipro und dann in das Militärkrankenhaus nach Kiew verlegt. Dort wurde sie mehrfach operiert. Einen Monat nach ihrer Verwundung kam sie zur Reha ins Militärhospital nach Irpin nahe Kiew. Dort lernte sie innerhalb weniger Wochen, mit einer Prothese zu laufen. Eine große Rolle spielte dabei, dass Olja früher in der Leichtathletik aktiv war.

Eine neue Liebe während des Krieges

Zum Zeitpunkt ihrer Verwundung war Olja bereits mit Oleksij Benda befreundet, der in derselben Einheit als Granatwerfer-Soldat diente. “Wir mochten uns auf den ersten Blick”, sagt Olja und fügt hinzu: “Bevor ich verwundet wurde, haben wir uns nur ein paar Mal gesehen. Über viele Monate waren wir getrennt und wir sprachen miteinander nur am Telefon. Ich wusste, dass Oleksij ein sehr guter Mann ist, aber, ich gestehe, ich hatte meine Zweifel, ob er sein Schicksal mit meinem teilen würde. Wer braucht schon eine behinderte Frau, und dann noch mit einem Kind”, erzählt Olja.

Die erste Zeit nach Oljas Verwundung war Oleksij rund um die Uhr bei ihr. Dann bestand er darauf, dass sie und ihr Sohn zu seiner Mutter nach Kiew ziehen. “Oleksijs Mutter behandelt mich, als wäre ich ihre eigene Tochter. Sie besuchte mich ständig im Krankenhaus. Jetzt, wo ich mit der Prothese gut umgehen kann, begleitet sie mich zum Einkaufen”, so Olja. Erst hatte sie die Befürchtung, Oleksijs Mutter werde gegen sie und ihren Sohn sein. “Doch genau das Gegenteil ist eingetreten. Sie freut über uns”, sagt Olja. Später verließ auch Oleksij die Front. Er wurde in eine Einheit in der Nähe der Hauptstadt verlegt. Nun kann er jedes Wochenende mit seiner Familie verbringen. Olja und Oleksij haben inzwischen geheiratet.

Anders als vielen anderen Veteranen ist es Olja gelungen, nicht nur physisch, sondern auch mental von der Front in ein normales Leben zurückzukehren. Jetzt hat sie eine neue Familie, neue Pläne und Träume. Sie schämt sich nicht für ihre Prothese und versteckt sie nicht unter ihrer Kleidung. Nicht, um zu provozieren, sondern weil es so bequemer ist, sich zu bewegen. Doch Oljas Geschichte ist nicht für alle Veteranen typisch.

Posttraumatisches Syndrom und Selbstmorde

Seit vier Jahren herrscht im Osten der Ukraine Krieg, doch noch immer gibt es kein funktionierendes staatliches Programm zur Behandlung des posttraumatischen Syndroms bei Veteranen. Der Krieg lässt die Soldaten auch dann nicht los, wenn sie zurück zu Hause sind. Manche bringen sich langsam mit Alkohol um, andere begehen gleich Selbstmord. Ungefähr 500 Teilnehmer des Krieges haben sich nach ihrer Heimkehr das Leben genommen.

Experten des ukrainischen Gesundheitsministeriums veröffentlichten 2016 die Ergebnisse einer Studie, bei der 249 Militärangehörige untersucht wurden. Suizidale Tendenzen weisen demnach vorwiegend Personen auf, die älter als 30 Jahre und meist einsam sind. Sie sind verschlossen, haben wenig Kontakt zu Menschen, empfinden oft Angst und Misstrauen, dramatisieren und bewerten Ereignisse negativ. Sie haben zudem Schuldgefühle gegenüber toten Kameraden. Die Forscher analysierten auch 88 Akten von Militärs, die zwischen dem 1. Mai 2015 und 20. Oktober 2016 Selbstmord begangen haben. Den Experten zufolge entfielen 85 Prozent der Selbstmorde auf Kriegsteilnehmer unter 40 Jahre. Die Hälfte davon waren Männer unter 30 Jahre. Die meisten waren unverheiratet, 27 hatten eine Familie, sechs waren geschieden und 26 hatten Kinder.

Ein neues Leben nach dem Krieg

Heute bringt Olja ihren Sohn jeden Tag zum Kindergarten und geht danach zur Arbeit – zum Militärkommissariat im Kiewer Bezirks Swjatoschyn. Die lokale Behörde bereitet unter anderem Mobilisierungen vor, organisiert die Einberufung zum Wehrdienst sowie die Aufnahme von Berufssoldaten. Olja wollte nicht einmal nach ihrer Verwundung die Armee verlassen. Die Arbeit im Militärkommissariat ist aus ihrer Sicht für sie die beste Lösung.

Nun will sie noch einen Führerschein machen und sich dann wieder dem Sport widmen. Nächstes Jahr will sie an den Invictus Games teilnehmen, einer paralympische Sportveranstaltung für kriegsversehrte Soldaten und Soldatinnen. Sie träumt von einem eigenen Heim und wünscht sich ein weiteres Kind.

Olja sagt, sie bereue nichts: “Ich würde wieder in den Dienst der Armee treten, wohl wissend, wie das ausgehen kann. Ohne Zweifel. Zwar habe ich an der Front ein Bein verloren, dafür habe ich aber viel gewonnen: Ich habe eine neue Liebe getroffen, einen zuverlässigen Mann und treue Freunde und Kameraden. Wissen Sie, die Brüderschaft im Militär ist etwas Besonderes, sie ist sehr stark. Im zivilen, friedlichen Leben gibt es wahrscheinlich solche Beziehungen überhaupt nicht.”