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Die neue Staatsmacht und die Medien: Ist ein “direkter Dialog” mit der Gesellschaft gefährlich?

In der Ukraine befinden sich die Medien wie in der ganzen Welt in einer tiefgreifenden Transformation. Soziale Netzwerke übernehmen eine Informationsfunktion (manchmal auch Desinformation) und die traditionellen Medien verteidigen mit unterschiedlichem Erfolg ihre Unabhängigkeit gegenüber den Oligarchen. Und die neue Staatsmacht unter der Führung des neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj stellt die Notwendigkeit einer “vierten Gewalt” im Zeitalter der neuen Technologien in Frage. Der neue Präsident und seine politische Kraft sagen, dass sie ohne Vermittlung direkt mit der Gesellschaft kommunizieren können. Was verändert sich, was sind die wichtigsten Trends und Risiken dieser Haltung. Dazu Einzelheiten vom UCMC.

Die Beziehungen zwischen dem ukrainischen Journalismus und den Behörden waren nie optimistisch. Die jüngste Geschichte der Ukraine begann mit der Ermordung des unabhängigen Journalisten Heorhij Gongadse. Die meisten Fernsehsender werden immer noch von oligarchischen Gruppen kontrolliert. Gleichzeitig hat sich in den letzten 15 Jahren die Medienlandschaft weiterentwickelt: Nachrichtenredaktionen bemühen sich um redaktionelle Unabhängigkeit von den Medieninhabern und deren Interessen, es entstehen unabhängige Medien, und ein neues Gesetz schreibt die Veröffentlichung der Namen der Medieninhaber vor. Unterdessen haben die Veränderungen der politischen Landschaft nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 auch das Verhältnis zwischen der Staatsmacht und den Medien verändert. Worin besteht es?

Videos und soziale Netzwerke

Der sich ändernden politischen Situation in der Ukraine ging ein langer Wahlkampf voraus, in dessen Verlauf der künftige Präsident Wolodymyr Selenskyj auf eine Strategie der “direkten” Kommunikation mit dem Wähler setzte. Er gab ukrainischen Medien fast keine Interviews, sondern kommunizierte mit der Öffentlichkeit über soziale Netzwerke: Facebook und Instagram. Am beliebtesten waren Videos.

Diese Strategie erwies sich als Wahlerfolg: Gerade das Fehlen scharfer und unbequemer Fragen von Journalisten und Experten ermöglichten es dem damals unerfahrenen Politiker, seine Botschaften in einem für ihn bequemen Monolog und nicht im Dialog zu formulieren.

Kampagne “ohne Fernsehen”?

Das neue politische Team hat wiederholt darauf bestanden, dass es bei seiner Kampagne “praktisch kein Fernsehen genutzt” habe. Das ist nur zum Teil richtig, denn das Selenskyj-Phänomen ist durchaus ein TV-Phänomen, und dank seiner langfristigen Präsenz im Fernsehen hat Selenskyj einen Bekanntheitsgrad von 100 Prozent und daher ist er auch so populär. Gleichzeitig ist auch bekannt, dass während des Wahlkampfes viele Unterhaltungssendungen mit Selenskyj beim Sender “1+1” gelaufen sind, sogar am Tag vor der Wahl, wo Wahlwerbung verboten ist. Die Geschichte der Beziehung des Kandidaten Selenskyj zum TV-Sender “1+1” zeigt, dass er das Fernsehen nutzt und ganz offensichtlich die Unterstützung des Inhabers des Senders, des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, genießt.

Beispielsweise hat der Nationale Rundfunkrat am 17. April 2019 die Zentrale Wahlkommission über Verstöße informiert, wonach Selenskyj innerhalb von drei Monaten 14 Prozent der gesamten Sendezeit von “1+1” belegt hatte. Die Mediengruppe “1+1” bestritt jedoch diese Informationen.

Interview beim Tennis gewonnen

Eine weitere Veränderung im Verhältnis zwischen der Staatsmacht und den Medien ist, dass die Medien nicht mit Stellungnahmen rechnen können, und nur mit etwas Glück welche bekommen. Es gibt den bekannten Fall, wo Selenskyj ukrainischen Journalisten zwischen den beiden Runden der Präsidentschaftswahlen ein erstes Exklusivinterview gab, und zwar nicht auf eine Anfrage von Journalisten hin, sondern einfach nur, weil er in der Nacht der ersten Wahlrunde eine Partie Tennis im Wahlkampf-Hauptquartier gegen den ukrainischen Journalisten Wlad Krasinskyj verloren hatte.

“Professionelle Journalisten müssen sich möglicherweise auf Wettbewerbe, Flashmobs und Tennis-Spiele vorbereiten, bei denen Journalisten ein Interview mit Selenskyj gewinnen können”, schrieb ironisch im April 2019 Oksana Romanjuk vom Institut für Massenmedien (IMI) für die Zeitschrift “Telekritika”.

“Ich bin Euch nichts schuldig!”

Im Januar 2019 produzierten Journalisten des TV-Magazins “S’chemy” einen Beitrag über Selenskyjs Film-Geschäfte in Russland, die, wie Selensky selbst früher gesagt hatte, zu noch zu Beginn des russisch-ukrainischen Krieges eingestellt worden seien.

Ein Journalist wollte Selenskyj darauf ansprechen, aber der Komiker reagierte heftig und gab keine Antwort. “Lass uns einen Termin vereinbaren. Warum willst Du dich nicht wie normale Leute treffen? Wie normale Journalisten?”, sagte damals Selenskyj lediglich. Doch als der Journalist nicht nachgab und weiterhin auf einem zweiminütigen Interview bestand, sagte Selenskyj: “Ich bin Euch nichts schuldig. Ich bin nur meinen Eltern etwas schuldig. Ich akzeptiere nicht das Format Ihres Gesprächs.”

Diese Bemerkung war skandalös: Sie zeugte von einer Haltung eines Politikers gegenüber den Medien, der es nicht für notwendig hält, seine Handlungen gegenüber der “vierten Gewalt” zu erläutern. Nach seiner Wahl hat Präsident Selenskyj bereits mehrere Briefings abgehalten, bei denen “keine Fragen vorgesehen waren”.

Fake-Meldungen aus dem Büro des Präsidenten

Anfang August berichteten ukrainische Medien über den Rücktritt von Andrij Bohdan, des Leiters des Büros des Präsidenten, und veröffentlichten dabei ein Foto einer handschriftlichen Erklärung. Es stellte sich jedoch heraus, dass Bohdan nicht zurücktritt, und die Quelle der Fake-Meldung war Bohdans Stellvertreter Kyrylo Tymoschenko, der im Büro des Präsidenten für die Informationspolitik zuständig ist.

Viele ukrainische Medien hatten diese Meldung verbreitet, weil sie die Quelle für verlässlich hielten. Die spätere Richtigstellung der Rücktrittsmeldung war ein Schlag gegen das Ansehen dieser Medien, mit dem das Büro des Präsidenten gespielt hatte. Die Journalisten sahen sich durch diesen “Fake-Leak” von der Staatsmacht herausgefordert, die die Medien in den Augen der Öffentlichkeit diskreditieren wolle. Die Folge ist ein Vertrauensverlust zwischen Journalisten und ihren Quellen innerhalb der Staatsmacht.

Chef des Präsidenten-Büros: “Kommunikation mit der Gesellschaft ohne die Medien”

Bald darauf stellte der Leiter des Büros des Präsidenten, Andrij Bogdan, auf eine Frage eines Journalisten von “Radio Liberty” fest, Selenskyjs Präsidentschaftskampagne habe bewiesen, dass eine Kommunikation mit der Gesellschaft ohne Vermittler und ohne Journalisten möglich sei.

Er meint, die “klassischen Journalisten” seien es gewohnt, sich selbst als Gesellschaft wahrzunehmen. “Aber wie unser Wahlkampf gezeigt hat, kommunizieren wir ohne Vermittler und ohne Journalisten mit der Gesellschaft”, betonte er.

Beleidigungen von Journalisten

Vor kurzem stand der gewählte Abgeordnete der Partei “Dieners des Volkes”, Maksym Buschanskyj, im Mittelpunkt eines Medien-Skandals. Er hatte auf Telegramm die Journalistin der Zeitung “Nowoje Wremja”, Olha Duchnitsch, als “dummes Schaf” bezeichnet. Davor war ein Interview mit Dmytro Rasumkow erschienen, in dem Duchnitsch Buschanskyj einen “Sowjet- und Janukowytsch-Nostalgiker” nannte.

In sozialen Netzwerken ist Buschanskyj als konsequenter Gegner des Maidan und der Post-Maidan-Staatsmacht bekannt. “Es ist wirklich egal, was der Maidan war, eine Revolution, wie Sie bis heute bescheiden behaupten, oder ein Putsch, was sogar einem Blinden klar war. Wir leben immer noch mit dem, was passiert ist, und das alle zusammen… Auf ihrem Gewissen sind die Polizei, das Gesundheits- und Bildungswesen und vieles mehr, was ich nicht erwähne, um ihre Nerven zu schonen”, schrieb er im Jahr 2017.

“Janukowytsch war ein sch…  Präsident. Aber rechtmäßig gewählt. Und auf jeden Fall besser als das, was wir jetzt haben. Er hätte durch Wahlen beseitigt werden müssen, bei turnusmäßigen oder vorgezogenen. Und wenn es keinen Kandidaten gegeben hätte, der gegen ihn hätte gewinnen können, dann hätte man eben fünf weitere Jahre warten müssen”, schrieb er in demselben Beitrag. Und in einem Interview für “Stran.ua” sagte er, “das einzige Ergebnis des Maidan ist die Legalisierung des Nazimus”.

Später veröffentlichte die Partei “Diener des Volkes” eine Reaktion auf Buschanskyjs Äußerung über die Journalistin. Die Partei verurteilte Buschanskyjs Worte und entschuldigte sich bei der Journalistin. Gleichzeitig bezeichnete sie Buschanskyjs Äußerung “als übertrieben und unethisch, aber als ziemlich verständliche Reaktion auf die Einschätzung der persönlichen Gefühle des gewählten Abgeordneten, die er angeblich in Bezug auf die Sowjetunion und gewisse ukrainische Politiker hegt.”

Deshalb fordert die Partei “Diener des Volkes” Journalisten auf, von “solchen Werturteilen” abzusehen. “Wenn sie auf den offiziellen Seiten angesehener Publikationen veröffentlicht werden, fördern sie künftig Brandmarkungen und eine voreingenommene Haltung gegenüber Politikern, die noch nicht einmal ihre Amtszeit als Abgeordnete angetreten haben”, so die Partei.