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Austausch von Gefangenen oder Mördern?

Am 29. Dezember fand erstmals seit zwei Jahren im Osten der Ukraine wieder ein Gefangenenaustausch zwischen Kiew und den selbsternannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” statt. Erzielt wurde er beim Treffen der Staats- und Regierungschefs im Normandie-Format (Ukraine, Deutschland, Frankreich, Russland) am 9. Dezember in Paris. Die Einzelheiten wurden dann am 23. Dezember im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk festgelegt. Alle Seiten schwiegen bis zuletzt. Noch am Tag des Austausches war weder die Liste noch die genaue Zahl der Personen bekannt. Wie viele waren es und wie hat die ukrainische Öffentlichkeit reagiert? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Ungleicher Austausch: 76 zu 141. Dieser Austausch war im Vergleich zu dem, der am 7. September 2019 zwischen der Ukraine und Russland stattfand, nicht paritätisch. In Paris hieß es noch “alle gegen alle” und später wurde präzisiert “alle Identifizierten gegen alle Identifizierten”. Erst nach Abschluss des Austauschs am 29. Dezember veröffentlichte der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) die Liste aller Ukrainer, die über den Checkpoint “Majorske” aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Unter ihnen sind 12 Militärs und 64 Zivilisten, also insgesamt 76 Personen. Es standen aber 81 auf der Liste. Serhij Siwocho, Berater des Sekretärs des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, sagte gegenüber dem ukrainischen Sender “Hromadske”, dass einige Ukrainer, die von den prorussischen Separatisten aus der Gefangenschaft entlassen worden seien, sich geweigert hätten, an dem Austausch teilzunehmen. Sie wollten in den besetzten Gebieten bleiben, weil sie dort Familien hätten.

Die Ukraine war bereit, 141 Personen in die besetzten Gebiete zu entlassen. Letztlich waren es von ukrainischer Seite 127 Gefangene, denn 14 wollten an dem Austausch nicht teilnehmen und in den von Kiew kontrollierten Gebieten bleiben.

Keine der Seiten gab eine Erklärung dazu ab, warum der Austausch nicht paritätisch verlief. Jedenfalls bedeutet dies, dass der Ukraine für einen nächsten Austausch weniger Menschen zur Verfügung stehen, während in Russland und auf der Krim sich noch immer viele inhaftierte Ukrainer befinden. Außerdem kann Moskau immer weitere pro-ukrainisch gesinnte Menschen in den sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” sowie auf der besetzten Krim für weitere Austausche festnehmen.

Gefangene gegen “Berkuts” und Terroristen. Am meisten umstritten ist an diesem Austausch, dass die Ukraine fünf ehemalige Angehörige der aufgelösten Spezialeinheit “Berkut” hat gehen lassen. Ihnen wird vorgeworfen, am 20. Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan während der Massenproteste 48 Menschen getötet und 80 verletzt zu haben. Drei von ihnen befanden sich in Untersuchungshaft, zwei standen unter Hausarrest. Diese Personen sind Bürger der Ukraine, die nicht in einem direktem Zusammenhang mit den Ereignissen im Donbass stehen. Sie sind keine “Kriegsgefangenen” der Ukraine. Ihnen wird die Erschießung von Menschen vorgeworfen.

Darüber hinaus wurden drei Personen (Wolodymyr Dwornikow, Viktor Tetjuzkyj und Serhij Baschlikow) den sogenannten “Volksrepubliken” übergeben, die wegen eines Terroranschlag in Charkiw schuldig gesprochen wurden. Bei dem Anschlag am 22. Februar 2015 wurden vier Menschen, darunter Minderjährige, getötet. Das Gericht in Charkiw verurteilte sie zu lebenslanger Haft. Russland bestand darauf, dass diese Personen auf die Liste für den Austausch gesetzt werden.

Daher beantragte die ukrainische Staatsanwaltschaft eine Änderung der vorbeugenden Maßnahmen gegen die Gefangenen, damit sie, solange noch die Frist läuft, gegen das Urteil Berufung einlegen können. Das Gericht entließ die Gefangenen daraufhin aus der Haft, wonach es zum Austausch kam.

Außerdem hatte im Vorfeld des Austauschs das Berufungsgericht in Kiew angekündigt, die Gruppe der Staatsanwälte, die mit dem Fall der ehemaligen Berkut-Angehörigen befasst waren, auszuwechseln. Auch wurden die vorbeugenden Maßnahmen gegen die Personen geändert, denen die Erschießung von Menschen auf dem Maidan im Februar 2014 zur Last gelegt wird. Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka richtete ein entsprechendes Ersuchen an das Gericht. Dies deutet darauf hin, dass das Gericht einer politischen Zweckmäßigkeit unterworfen wurde.

Insgesamt kann man sagen, dass im Gegenzug für die Gefangenen Ukrainer, von denen die meisten Zivilisten sind, Kiew Russland Mörder übergeben hat, die auf ihren Prozess warteten, aber auch Terroristen, deren Schuld bewiesen ist.

Kritik am Austausch.Die Familien der “Himmlischen Hundertschaft”, jener Menschen, die im Februar 2014 auf dem Maidan erschossen wurden, haben Präsident Wolodymyr Selenskyj gebeten, im Rahmen des Austausches keine ehemaligen Berkut-Angehörigen freizulassen. Was die Maidan-Fälle angehe, müsse Gerechtigkeit hergestellt werden, was ein Prüfstein für die jüngere Geschichte der Ukrain sei.

Der ukrainische Regisseur Oleh Senzow, der selbst in Russland aus politischen Gründen inhaftiert war und im Rahmen eines Austausches freigelassen wurde, erklärte, die Ukraine müsse ihre Helden zurückholen, aber “nicht auf Kosten der Werte, für die diese Helden gekämpft haben”. “Wenn heute alles klappt, wird es einen Austausch geben. Ein Teil unserer Gefangenen wird nach Hause zurückkehren… Dafür wird die Ukraine wahre Mörder übergeben: russische Söldner, Terroristen aus Charkiw und fünf Berkuts”, so Senzow. Er fügte hinzu: “Und es geht nicht nur darum, dass uns so gut wie keine ‘Ressourcen an Menschen’ (ein sehr zynischer und praktikabler Begriff) bleiben. Denn um die Rückkehr weiterer Geiseln zu ermöglichen, wird die ukrainische Regierung gezwungen sein, weiterhin mit den Interessen des Landes gegenüber dem Feind Handel zu treiben. Das Wichtigste ist, dass durch diesen Schritt für uns Gerechtigkeit verloren geht.” Doch gerade für Gerechtigkeit hätte die Ukrainer, so Senzow, auf dem Maidan ausgeharrt und würden heute gegen die Besatzer kämpfen.

Erklärung des ukrainischen Präsidenten.Wolodymyr Selenskyj trat erst vor die Presse, nachdem sich alle Freigelassenen im Kiewer Flughafen Boryspil mit ihren Familienangehörigen getroffen hatten. Der Präsident bedauerte, dass es nicht mehr möglich sei, die Menschen zurückzuholen, die auf dem Maidan ihr Leben verloren hätten. Er betonte aber, es sei möglich, Ukrainer aus der Gefangenschaft zu holen:

“Ich bin der Meinung, dass unsere Kämpfer, unsere Militärs und unsere Journalisten allesamt Helden sind, und ich bin davon überzeugt, dass es unsere Priorität ist, unsere Leute zurückzuholen. Ich habe Achtung vor allen Eltern und Angehörigen, die ihre Lieben auf dem Maidan verloren haben. Leider können wir diejenigen, die nicht mehr unter uns sind, nicht zurückholen, aber wir können Lebende zurückholen. Und ich bin überzeugt, das hat Priorität… Wir holen lebende Menschen zurück. Mehr noch: Wenn ich hundert Berkuts hätte und ich einen lebenden Aufklärer zurückholen müsste, dann würde ich hundert Berkuts weggeben.”

Wie geht es weiter? Der ukrainische Außenminister Wadym Prystajko begrüßte den jüngsten Austausch und sagte, die Ukraine werde, um die Formel “Alle gegen alle” gänzlich umzusetzen, weiterhin im Normandie-Format arbeiten:

“Es gibt kaum ein besseres Geschenk für 76 ukrainische Familien als die Tatsache, dass ihre Lieben bereits nach Hause unterwegs sind und mit ihnen die Feiertage verbringen werden. Die im Normandie-Format erzielten Vereinbarungen werden erfüllt. In den nächsten Runden werden wir weiter daran arbeiten, die endgültige Formel ‘Alle gegen alle’ umzusetzen. Das hat Priorität.”