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Was passiert mit den prorussischen politischen Kräften in der Ukraine?

Für die alten und neuen prorussischen Parteien setzten Mitte 2021 Turbulenzen ein. Präsident Wolodymyr Selenskyj ging mit Sanktionen des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates vor allem gegen den Oligarchen Viktor Medwedtschuk vor, was ein schwerer Schlag für die vor allem im Süden und Osten der Ukraine vertretenen prorussischen Kräfte war. Diese Woche steht Medwedtschuk vor Gericht und die vorbeugenden Maßnahmen gegen ihn wegen Verdachts auf Landesverrat werden wohl verlängert. Das Vorgehen gegen Medwedtschuk schwächt seine politische Kraft, aber die Nachfrage nach einer Alternative zu ihr ist in der Gesellschaft trotzdem vorhanden. Die Zeitung “Ukrajinska Prawda” hat die Tendenzen bei den prorussischen Kräften in der Ukraine analysiert. Eine Zusammenfassung:

2014: Krieg schwächt prorussische Kräfte in der Ukraine. Die Annexion der Krim und die Besetzung eines Teils des Donbass durch Russland hat die Balance innerhalb der ukrainischen Wählerschaft verändert. Seit den ersten Wahlen im Jahr 1991 bis zu den Wahlen 2012 hatte sich in der Ukraine allmählich ein “duales Wahlsystem” entwickelt, in dem der Anteil der prowestlichen und prorussischen Wähler ungefähr gleich verteilt war. Doch mit der russischen Aggression verloren die prorussischen Parteien auf einen Schlag mehrere Millionen Anhänger.

Anton Hruschezkyj, stellvertretender Direktor des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS), weist darauf hin, dass derzeit in der Ukraine die Kräfte mit nationaldemokratischer und prowestlicher Ausrichtung über den prorussischen dominieren. “Die Wählerschaft in der Ukraine lässt sich jetzt unterteilen in eine national-patriotische Gruppe, die 40 bis 45 Prozent ausmacht, und eine kritische Gruppe von 30 bis 35 Prozent, die auf prorussische Parteien anspricht. Weitere 20 Prozent sind Menschen in der Mitte, die sich noch nicht endgültig entschieden haben”, so der Soziologe.

Das heißt, dass Russland mit seiner Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2014 selbst die Basis für Parteien geschmälert hat, die traditionell Moskaus Interessen in der Ukraine vertreten oder zumindest daran gearbeitet hatten, die Ukraine und Russland einander näher zu bringen.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage, die Anfang Juni durchgeführt wurde, hat jetzt nur noch eine Partei, die eindeutig als prorussisch bezeichnet werden kann, eine echte Chance, bei Wahlen ins Parlament einzuziehen. Das ist die Partei “Oppositions-Plattform – Fürs Leben”.

Die größte prorussische Kraft in der Ukraine: Zwei Flügel. Die größte prorussische Partei in der Ukraine ist zweifellos die “Oppositions-Plattform – Fürs Leben”. Sie ist als einzige mit einer vorwiegenden Wählerbasis im Osten des Landes mit 44 Abgeordneten im ukrainischen Parlament vertreten.

Der Kern ihrer Wähler ist recht konservativ. Über 50 Prozent ihrer Anhänger sind über 60 Jahre alt. Nach aktuellen Daten des KIIS hat die Partei die älteste Wählerschaft von allen: 23 Prozent ihrer Unterstützer sind 45 bis 59 Jahre alt und 51 Prozent 60 Jahre und älter. Das heißt, drei Viertel der Wähler sind ältere Menschen.

Die Partei selbst besteht aus zwei großen Gruppen: den Flügeln Medwedtschuk-Rabinowitsch und Ljowotschkin-Firtasch. Daher hat die Partei zwei öffentliche Anführer: zum einen Viktor Medwedtschuk, der sich so nah wie möglich am Kreml positioniert, und zum anderen Jurij Bojko, der den ehemaligen nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowytsch als “starken Hausherren” kopiert.

Zwischen den Gruppen gab es ernsthafte Konkurrenz um Einfluss in der Partei. Durch die Sanktionen des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates gegen Medwedtschuk, dessen Tochter Patenkind des russischen Staatschefs Wladimir Putin ist, ließen die Grabenkämpfe in der Partei jedoch schlagartig nach. “Wir müssen uns jetzt mehr an Ljowotschkin orientieren”, sagte der “Ukrajinska Prawda” einer von Medwedtschuks Mitarbeitern unmittelbar nach der Verhängung der Sanktionen.

Von den Sanktionen gegen Medwedtschuk und der Schließung seiner Fernsehsender profitierte vor allem Serhij Ljowotschkin. Er kontrolliert nach wie vor ein großes Medienpaket, darunter den TV-Sender “Inter”. Und sein Freund Jurij Bojko verstärkt unterdessen seine öffentliche Präsenz.

Die Sanktionen waren aber nicht nur ein Schlag für Medwedtschuks Image, sondern auch gegen die ganze Partei “Oppositions-Plattform – Fürs Leben”. So sanken ihre Umfragewerte von 20 Prozent im Dezember 2020 nach den Sanktionen im März dieses Jahres auf etwa 14 Prozent. Nach neuesten Umfragen liegt sie derzeit bei 12 bis 13 Prozent.

Nachfrage nach wirtschaftlicher Stabilität stärker als Nachfrage nach “Freundschaft mit Russland”. Interessanterweise ist Russland seit langem nicht mehr der “wichtigste Trumpf” der prorussischen Kräfte in der Ukraine. Experten zufolge wollen die Wähler der ehemaligen “Partei der Regionen”, deren Chef Viktor Janukowytsch war, Stabilität und wirtschaftliche Verbesserung.

“Sie wollen eine starke Hand”, meint Oleksij Antypowytsch, Leiter der Forschungsgruppe “Rating”. Den Wählern sei es egal, wie viel ein Politiker stehlen würde, Hauptsache er mache auch etwas für die Menschen. Es habe so viele Korruptionsskandale um den einstigen Bürgermeister von Charkiw, Gennadij Kernes, gegeben, aber die Einwohner der ostukrainischen Millionenstadt hätten ihn dennoch unterstützt, erinnert Antypowytsch.

Er glaubt, dass der Wunsch nach “Frieden und Freundschaft mit Russland” für die Wähler im Süden und Osten der Ukraine weniger wichtig ist als das Thema Gehälter, Renten, Tarife und soziale Gerechtigkeit. Das Thema “Freundschaft mit Russland” müsse irgendwo “im Hintergrund” noch zu hören sein, aber es habe in den letzten Jahren vor allem durch das Vorgehen Russlands selbst stark an Gewicht verloren.

Bedarf an Erneuerung und Suche nach “neuen Gesichtern”. Ein weiterer interessanter Trend ist, dass selbst konservative Wähler im Süden und Osten Veränderung wollen. Je jünger die Wähler, desto stärker suchen sie laut Umfragen nach neuen Politikern und neuen politischen Projekten.

Vor dem Hintergrund der Vertrauenskrise in den neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seine Partei “Diener des Volkes”, die bei den Wählern im Süden und Osten schon im Jahr 2019 einsetzte, begann eine virtuelle Partei des Kreml-freundlichen in Spanien ansässigen Bloggers Anatolij Scharij bei den prorussischen Wählern Punkte zu sammeln. Seine Anhänger sind relativ jung: 32 Prozent sind unter 30, weitere 44 Prozent sind zwischen 30 und 44 Jahre alt.

In dieser Wähler-Nische begann nach den Sanktionen gegen Viktor Medwedtschuk auch das ehemalige Mitglied des “Oppositionsblocks”, Jewgenij Murajew, aktiv zu werden. In diversen Umfragen der letzten Monate kommt er teilweise auf recht hohe Werte: von 2,5 auf bis zu 4 bis 5 Prozent. Auch der Kern seiner Anhänger ist relativ jung. Es sind meist Menschen zwischen 30 und 59 Jahren.

Oleksij Antypowytsch von der Forschungsgruppe “Rating” weist darauf hin, dass die Wählerschaft von Scharij und Murajew zwar ähnlich ist, diese beiden Politiker aber völlig unterschiedliche Nachfragen bedienen würden. “Scharij ist ein virtueller Charakter. Die Konsumenten seiner Inhalte sind auch seine Anhänger, sie sind aber andere Menschen, jünger und aktiver”, erläutert der Soziologe. Murajew hingegen bediene einfach nur die Nachfrage nach einer Verjüngung.

All diese politischen Projekte, die im prorussischen Wähler-Segment von 35 Prozent aktiv sind, erreichen selbst zusammen kaum die Hälfte dieses Potenzials. Mit anderen Worten, fast jeder zweite Wähler im Süden und Osten der Ukraine sucht entweder nach einer alternativen politischen Kraft oder weiß nicht, wen er wählen soll.

Kommt in der Ukraine eine neue prorussische Partei? Klar ist, dass es in der Ukraine ein großes ungenutztes Wählerpotenzial für prorussische Parteien gibt, die auf wirtschaftliche Stabilität setzen. Nach und nach gibt es Projekte, die versuchen, dieses Potenzial auszuschöpfen.

Das erste politische Projekt, das versuchen wird, die Position der Erben der einstigen “Partei der Regionen” zu stärken, wird höchstwahrscheinlich die vom ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Borys Kolesnikow angekündigte Partei “Die Ukraine ist unsere Haus” sein. Dieses Projekt wird schon als neues “Kind” des Oligarchen Rinat Achmetow bezeichnet. Doch wie die “Ukrajinska Prawda” herausgefunden hat, investiert er derzeit weder finanziell noch organisatorisch in Kolesnikows Partei. Kolesnikow selbst sagte über den Start der Partei: “Die Hauptidee ist, die besten Leute aus allen Bereichen zusammenzubringen: Industrie und Landwirtschaft, Informationstechnologie, Medizin, Bildung, Soziales, kleine und mittlere Unternehmen.”

Der Anführer der neu geschaffenen politischen Kraft, der einst Mitglied der “Partei der Regionen” war, sagte der “Ukrajinska Prawda”, dass derzeit die Vorbereitungen für die Gründung der Partei laufen würden. “Wir sind im Aufbau”, betonte Kolesnikow und kündigte an, seine politische Kraft werde am Unabhängigkeitstag der Ukraine, am 24. August, der Öffentlichkeit vorgestellt. Somit könnte in der Ukraine am 30. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit eine neue prorussische Partei präsentiert werden.