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EU-Ukraine-Gipfel in Kiew: Errungenschaften und Herausforderungen

Am 12. Oktober 2021 hat in Kiew das 23. EU-Ukraine-Gipfeltreffen stattgefunden. Den wichtigsten Durchbruch stellt die Unterzeichnung eines Abkommens für die zivile Luftfahrt dar, das ukrainischen Fluggesellschaften und von EU-Mitgliedstaaten neue Möglichkeiten eröffnet. Die Verhandlungen darüber hatten mehr als 15 Jahre gedauert. Das Abkommen wird den ukrainischen Markt radikal verändern.

Beobachter sind sich einig: Der diesjährige Gipfel brachte das lang erwartete “Open-Skies-Abkommen”, Versprechen großzügiger Investitionen und Unterstützung für die Ukraine bei der Konfrontation mit Russland, und das an allen Fronten: im Energiebereich sowie bezüglich der Krim und des Donbass.

Aber das ist nicht die einzige Errungenschaft. Es wurde zudem eine Gemeinsame Erklärung mit 25 Punkten verabschiedet, die alle Bereiche der Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der EU betrifft.

Wichtigste Errungenschaft: Luftfahrtabkommen. Beim Gipfel in Kiew unterzeichneten die Ukraine und die Europäische Union ein Abkommen über einen gemeinsamen Luftverkehrsraum, auch “Open-Skies-Abkommen” genannt. Das Abkommen sieht vor, dass europäische Unternehmen jeden Flughafen in der Ukraine ohne Einschränkung anfliegen können und ukrainische Fluggesellschaften jeden Flughafen in der EU. Gleichzeitig verpflichtet sich die Ukraine, die europäischen Flugsicherheitsstandards einzuhalten. Das Dokument muss von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden, aber das ukrainische Infrastrukturministerium erklärte, das Abkommen gelte bereits ab der Unterzeichnung, auch wenn es noch von beiden Seiten ratifiziert werden müsse, bevor es förmlich in Kraft trete. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestätigte dies in Kiew.

Bereits vor der Unterzeichnung des Abkommens haben europäische Low-Cost-Gesellschaften angekündigt, in der Ukraine deutlich zu expandieren und fast die Hälfte der Regionalzentren des Landes anfliegen zu wollen. Die ukrainischen Bürger werden vom Markteintritt europäischer Unternehmen profitieren, insbesondere von Billiganbietern.

Ukrainische Fluggesellschaften gehen allerdings davon aus, dass das Abkommen einheimischen Unternehmen schaden wird. Einer der Gründe dafür sei, dass das “Open-Skies-Abkommen” europäischen Fluggesellschaften ermöglicht, in der Ukraine auch Inlandsflüge durchzuführen, während ukrainische Fluggesellschaften in der EU ein solches Recht nicht erhalten. Ukrainische Fluggesellschaften dürfen demnach nur zwischen verschiedenen Flughäfen innerhalb der EU fliegen, wenn der Start oder das Ziel der Route in der Ukraine liegt.

Energie und Sicherheit: Russisches Gas und russische Aggression. Während des Gipfels haben die EU-Vertreter mehrfach versichert, dass die Europäische Union die Ukraine nicht im Stich lassen wird.

Brüssel verspricht insbesondere, Mechanismen zu erarbeiten, um die Energiesicherheit der Ukraine zu gewährleisten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, die EU werde eng mit der Ukraine zusammenarbeiten, um die Gasversorgungs-Kapazitäten aus den Mitgliedstaaten der EU zu erhöhen. Zudem würden Möglichkeiten der gemeinsamen Lagerung von Gas erkundet. Dies schließt ukrainische Gasspeicher mit ein.

In der Gemeinsamen Erklärung, die in englischer Sprache vorliegt, wird unter anderem das gegenseitige Bekenntnis bekräftigt, dass im Zusammenhang mit bestehenden und künftigen Gasfernleitungen in der EU und der Ukraine die geltenden EU-Rechtsvorschriften und Verpflichtungen aus dem Assoziierungsabkommen vollständig umgesetzt werden sollen. Ferner solle das Energie- und Wettbewerbsrecht der EU vollständig angewendet werden. Auch wollen die EU und die Ukraine gegen Versuche Dritter, Energie als Waffe einzusetzen, gemeinsam vorgehen: 

“In the context of the existing and future gas transmission systems on the territory of the EU and Ukraine, we reiterated our mutual commitment to full implementation of the applicable EU legislation and the Association Agreement obligations. We also agreed to make best use of each other’s existing energy networks and capacities, and to consult and coordinate, as appropriate, on infrastructure developments, which may affect interests of both Parties. We underlined the need to fully apply the EU energy and competition legislation. The EU and Ukraine stressed the importance of working together against any potential efforts by third parties to use energy as a weapon, in particular as regards the effects on the sustainability of gas transit through Ukraine.”

Darüber hinaus wird erstmals in der jüngsten Gemeinsamen Erklärung zwischen der EU und der Ukraine Russland als Konfliktpartei im Donbass bezeichnet. Es heißt, die beim Normandie-Gipfel in Paris im Dezember 2019 vereinbarten Maßnahmen sowie die Minsker Vereinbarungen müssten vollständig umgesetzt werden:

“We stressed the importance of fully implementing the measures agreed at the Normandy Summit in Paris in December 2019, as well as the full implementation of the Minsk agreements, underlining Russia’s responsibility as a party to the conflict.”

Ferner freut es die Ukraine, dass auch die Krim in der Gemeinsamen Erklärung erwähnt wird: 

“We remain deeply concerned about the presence of Russian military equipment and personnel in the non-government-controlled areas of Ukraine and unprecedented large-scale military build-up close to its border with Ukraine and in the illegally annexed Ukrainian Autonomous Republic of Crimea and the City of Sevastopol. We strongly urge Russia to meet its commitments under the Vienna Document, and to provide more transparency and to credibly explain the deployment of military forces and equipment in these areas.” 

Größte Herausforderung: EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Auf dem Gipfel am 12. Oktober hat die ukrainische Führung auch eine EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine zur Sprache gebracht.

Kiew fordert seit Jahren, dass die Europäische Union anerkennt, dass die Ukraine eines Tages Mitglied der EU wird. Auch diesmal brachte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das Thema hinter verschlossenen Türen, aber auch öffentlich vor Journalisten zur Sprache. Er erklärte: “Wir gehen einen Weg, aber wo ist die Ziellinie? Gibt es eine? Jeder Ukrainer möchte dieses Signal hören.” Doch eine direkte Antwort bekam er nicht.

Auf der Pressekonferenz nach den Gesprächen sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einer möglichen EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine lediglich: “Wir sind eine europäische Familie und arbeiten zusammen.” Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, fügte hinzu, dass Selenskyjs Argumente “solide und stark” seien, sie jedoch nur Anlass seien, “eine Diskussion zu diesem Thema innerhalb der EU zu mobilisieren”. 

Der Ukraine waren diese Aussagen natürlich eindeutig zu wenig.

Investitionen in Höhe von sechs Milliarden Euro. Der Gipfel bestätigte schriftlich auch neue Möglichkeiten für die Ukraine. Unter anderem geht es um öffentliche und private Investitionen aus der EU in Höhe von bis zu 6,47 Milliarden Euro. Einzelheiten dazu teilten die Seiten aber nicht mit. Es heißt lediglich, Kiew und Brüssel hätten vereinbart, die Initiative schnell umzusetzen.

Am Vorabend des Gipfels berichtete die ukrainische Zeitung “Jewropejska Prawda” (Europäische Wahrheit) unter Berufung auf einen hochrangigen EU-Beamten, es solle ein umfassendes Investitionspaket im Werte von rund 6,5 Milliarden Euro geschnürt werden, um private und öffentliche Investitionen in die ukrainische Wirtschaft anzukurbeln.

Der Zeitung zufolge bedeutet dies aber nicht, dass eine so große Summe von der EU bereitgestellt wird. Es solle ein Investitionsplan erarbeitet werden, in einem für alle Länder der Östlichen Partnerschaft geltenden Format. Der Plan sehe Zuschüsse, Darlehen und vor allem Bankgarantien vor, die, wie die EU erwartet, fast das Zehnfache dieser Investitionen möglich machen sollen. Eine genaue Summe der Kredite, Garantien und Zuschüsse wird von der EU derzeit nicht genannt.

Was ist als nächstes zu erwarten? Der Gipfel bestätigte, dass Kiew und Brüssel die Gespräche über neue Einfuhrzölle auf ukrainische Waren im Rahmen des bestehenden Freihandelsabkommens fortsetzen werden. Kiew möchte dabei erreichen, dass die EU ihren Markt für die Ukraine weiter öffnet.

Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, die Ukraine erwarte nächstes Jahr auf dem nächsten Gipfel mit der EU die Unterzeichnung des sogenannten “Abkommens über Visafreiheit für die Industrie”. Dies ist ein Abkommen über die Konformitätsbewertung und die Akzeptanz von Industrieprodukten.

Auch dies wäre ein revolutionäres Abkommen, denn es würde den Markteintritt nicht nur von Rohstoffen aus der Ukraine, sondern auch von Industriegütern auf den EU-Markt vereinfachen.