Der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Kutschma, der die ukrainische Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE bei den Gesprächen in Minsk zur Regelung des Konflikts im Osten der Ukraine mehr als fünf Jahre lang vertrat, zieht sich von dieser Aufgabe zurück. An seine Stelle tritt sein Amtsvorgänger Leonid Krawtschuk. Wie wird sich das auf den “Minsker Prozess” auswirken? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Warum hört Kutschma auf? Es ist nicht das erste Mal, dass Leonid Kutschma, der zweite Präsident der unabhängigen Ukraine, seine Aufgaben in Minsk niederlegt. Kutschma ist 81 Jahre alt. Er begründete damals seinen Rückzug aus der Kontaktgruppe mit Gesundheitsproblemen. Doch auf Wunsch des jetzigen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, kehrte Kutschma zu den Gesprächen in der belarussischen Hauptstadt zurück. Allerdings hatte er noch vor Beginn der Quarantäne-Maßnahmen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie nicht mehr an den Treffen in Minsk teilgenommen. Und nun zieht er sich ohne Angabe von Gründen gänzlich zurück.
Kutschma war der letzte von denen, die im September 2014 das erste “Minsker Memorandum” unterzeichnet haben, das hauptsächlich Sicherheitsaspekte vorsah: den Rückzug schwerer Waffen und das Verbot des Einsatzes von Flugzeugen. Damals hatten das Dokument noch der russische Botschafter in der Ukraine, Michail Surabow, die OSZE-Sonderbeauftragte Heidi Tagliavini sowie die Anführer der selbsternannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk”, Sachartschenko, Purgin und Plotnizkij unterzeichnet. Das war das sogenannte “Minsk 1”.
2015 ernannte der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko Leonid Kutschma zum “ehrenamtlichen” Leiter der ukrainischen Delegation in Minsk.
Wer ist Krawtschuk? Leonid Krawtschuk ist 86 Jahre alt. Er war der erste Präsident der unabhängigen Ukraine. Zusammen mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem belarussischen Präsidenten Stanislaw Schuschkewitsch unterzeichnete er das Abkommen von Belowesch, das den Zerfall der Sowjetunion besiegelte.
Von allen bisherigen ukrainischen Präsidenten hatte Krawtschuk die kürzeste Amtszeit: nur 32 Monate. Der größte Bergarbeiterstreik in der Geschichte des Landes im Jahr 1993 führte im Sommer 1994 zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen. In Krawtschuks Amtszeit fiel auch die Hyperinflation von 1992 und 1993 sowie der Beginn der schweren Wirtschaftskrise der ersten Jahren der Unabhängigkeit des Landes. 1994, am Ende seiner Amtszeit, unterzeichnete Krawtschuk ein wichtiges Kooperations- und Partnerschaftsabkommen mit der EU, das den Grundstein für die europäische Integration der Ukraine legte.
Warum fiel die Entscheidung auf Krawtschuk? Präsident Selensky erklärte vor der Ernennung Krawtschuks: “Wir müssen ein Gleichgewicht finden: eine Person, mit der Russland spricht, eine Person, die in der Ukraine respektiert wird, und eine Person, die den Verhandlungstisch dominieren kann. Einen Mann, der die Ukraine in einer sehr schwierigen Zeit nicht verraten wird, denn unsere territoriale Integrität steht auf dem Spiel.”
Was sagt Krawtschuk über das Minsker Format? Krawtschuk hatte vor einiger Zeit erklärt, dass der “Minsker Prozess” von Anfang an in einer Sackgasse gesteckt habe. Daher müsse er verändert werden. Krawtschuk ist überzeugt, dass ohne die Umsetzung der Sicherheitsaspekte der Minsker Vereinbarungen Kommunalwahlen im Donbass unmöglich sind.
Er betonte: “Ist es in einem fremden Gebiet möglich, wo es heute kein einziges ukrainisches Atom gibt – weder Gesetze, Behörden, überhaupt nichts – Wahlen abhalten? Das geht nicht. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, müssen wir nach einem breiteren Format suchen.”
Schon vor zwei Jahren betonte Krawtschuk in einem Interview für “Radio Liberty”, das Minsker Format sei nicht in der Lage, den Krieg im Donbass zu beenden. Damals befürwortete er, wie auch der jetzige Präsident Selenskyj, Verhandlungen mit Russland.
Krawtschuk sagte: “Zuerst muss erreicht werden, egal wie schwierig es ist, dass ein Treffen allein auf der Ebene der russischen und ukrainischen Führung stattfindet. Was im Donbass passiert, ist das Werk des Kremls. Solange wir uns mit Russland nicht einig sind, was wir tun können, was Russland tun kann, oder was wir nicht tun können. Aber wir können niemals über die territoriale Integrität und Souveränität verhandeln. Alles andere kann man besprechen. Das ist einer der Wege.”
Eine weitere Möglichkeit sieht Krawtschuk in der Änderung oder einer “anderen Besetzung” des Minsker Formats. Er hält auch einen Übergang zum Budapester Memorandum für möglich.
Das “Protokoll von Minsk” vom September 2014 sowie die “Minsker Vereinbarung” vom Februar 2015 sind unter dem Schirm der vier Staatschefs des “Normandie-Formats” (Deutschland, Frankreich, Russland und Ukraine) unterzeichnet worden. Das Budapester Memorandum wurde am 5. Dezember 1994 in Budapest im Rahmen der dort stattfindenden KSZE-Konferenz unterzeichnet. Darin verpflichteten sich die USA, Großbritannien und Russland gegenüber der Ukraine, als Gegenleistung für einen Verzicht auf Nuklearwaffen, die Souveränität und die bestehenden Grenzen zu achten. China und Frankreich gaben zur Sicherheitsgarantie der Ukraine eigene Erklärungen ab.