Nun ist es schon sechs Jahre her, als am 12. Februar 2015 das Protokoll von Minsk als Maßnahmenkomplex zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen vom September 2014 von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Francois Hollande, dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet wurde. Das Dokument zielte auf eine Deeskalation des seit 2014 im Osten der Ukraine herrschenden bewaffneten Konflikts. Angenommen wurde auch eine Erklärung, mit der das “Normandie-Format” für die Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts im Donbass geschaffen wurde. Mit der Unterzeichnung des Protokolls in Minsk wurde die heißeste Phase der militärischen Aggression Russlands im Donbass gestoppt. Doch eine wirkliche Lösung kam nicht zustande. Bis heute sind Teile der Regionen Donezk und Luhansk besetzt und nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung. Russland unterstützt und kontrolliert weiterhin die Marionettenregierungen der sogenannten “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” und setzt Kiew militärische und politisch unter Druck.
Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hat eine Diskussionsrunde organisiert, um herauszufinden: Welche Fortschritte wurden bei der Umsetzung der Minsker Abkommen in den letzten sechs Jahren erzielt? Haben sich die Minsker Abkommen inzwischen erschöpft? Gibt es alternative Mechanismen zur Lösung des bewaffneten Konflikts in Donbass? Was denken die Verbündeten der Ukraine?
An der Diskussion nahmen ukrainische Politiker, Experten und der französische Botschafter in der Ukraine teil. Hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Thesen der Runde:
Die Minsker Vereinbarungen sind ein politisches Abkommen und kein Rechtsakt
Experten betonen, dass die Minsker Vereinbarungen nur politischer Natur sind und keinen internationalen Rechtsakt darstellen. Die russische Seite besteht darauf, dass die Minsker Abkommen ein “Gesetz” oder ein internationaler Rechtsakt sind, dessen Bestimmungen verbindlich sind und nicht revidiert werden können. Streit gibt es um die Reihenfolge. Die Ukraine besteht darauf, dass Lokalwahlen in den betroffenen Gebieten erst stattfinden können, wenn Kiew die Kontrolle über die Staatsgrenze zu Russland durch die ukrainische Armee im Donbass übernimmt. Moskau besteht auf einer umgekehrten Reihenfolge und weiß, dass sich Kiew auf inakzeptable Bedingungen nicht einlassen wird. So blockiert Russland weiterhin den Verhandlungsprozess.
Oleksij Resnikow, stellvertretender ukrainischer Ministerpräsident, zuständig für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete und stellvertretender Vorsitzender der Trilateralen Kontaktgruppe Minsk, betonte in der Runde, dass die Minsker Abkommen politischer und diplomatischer Natur seien. Auch wenn der UN-Sicherheitsrat die Tatsache ansich und den Text des Maßnahmenpakets der Minsker Abkommen unterstützt und gebilligt habe, enthalte die entsprechende Entschließung keine verbindlichen Erklärungen.
Dem fügte der Vorstandsvorsitzende des UCMC, Valerij Tschalyj, hinzu: “‘Minsk’ ist ein politischer Prozess. Die angenommenen Dokumente sind nicht völkerrechtlicher Natur, wie die Russen im UN-Sicherheitsrat behaupten. Das ist unwahr. Wenn man sich diese Entschließung sorgfältig durchliest, dann werden die Minsker Abkommen nicht als internationales Rechtsdokument in Kraft gesetzt. Aber diese Fakes werden bis heute in die Welt gesetzt.”
Oleksandr Mereschko, Abgeordneter der regierenden Partei “Diener des Volkes” im ukrainischen Parlament, stellte fest, dass die Ukraine an der Umsetzung der Minsker Abkommen interessiert sei, da der natürliche Wunsch besteht, die territoriale Integrität und Souveränität des Staates wiederherzustellen. Gleichzeitig stimmte er anderen Teilnehmern der Diskussion zu, dass die Minsker Vereinbarungen kein internationales Abkommen, sondern eine politische Abmachung internationaler Natur seien.
“Minsk” wird nicht umgesetzt, und Russland ist daran schuld
Trotz der Tatsache, dass der Verhandlungsprozess zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen bereits ins siebte Jahr geht, sind sich die Experten einig, dass es keine wesentlichen Veränderungen gegeben hat, was die Lösung des Konflikts und die Beendigung des Krieges angeht. Hauptgrund dafür ist das fehlende Interesse der russischen Seite an einer Regelung des Konflikts.
Valerij Tschalyj betonte, Russland sabotiere die Umsetzung der Vereinbarungen und gleichzeitig verbreite die russische Propaganda, es sei die Ukraine, die die Minsker Abkommen nicht erfülle. “Es gibt keine wesentlichen Veränderungen. Gleichzeitig werden russische Vorwürfe laut, die Ukraine würde ‘Minsk’ nicht einhalten. Alle haben die von Russland initiierte Sitzung des UN-Sicherheitsrates und die Reden mit denselben früheren Narrativa gesehen, wonach zuerst die Ukraine eine Reihe von Schritten unternehmen müsse. In Wirklichkeit ändert sich die Situation wegen der russischen Seite nicht”, betonte er.
Iryna Heraschtschenko, Abgeordnete der Partei “Europäische Solidarität”, sagte, die Besetzung der Krim und des Donbass sei Teil von Putins Strategie und Taktik, die darauf abziele, die Ukraine wie den gesamten postsowjetischen Raum im russischen Einflussbereich zu halten. Daher bleibe die Situation kritisch.
Etienne de Poncins, außerordentlicher und bevollmächtigter französischer Botschafter in der Ukraine, sagte, die Situation sei nach wie vor sehr schlecht. Man habe viel Zeit und Mühe aufgewendet, um Lösungen zu finden, und es gibt positive Entwicklungen. “Ich möchte betonen, dass wir entschlossen sind, eine richtige Lösung zu finden”, betonte der Botschafter und fügte hinzu, dass dies Anstrengungen und viele Verhandlungen mit Präsident Selenskyj, Putin und Bundeskanzlerin Merkel erfordern werde. Etienne de Poncins sagte ferner: “Wir können stolz auf einige Fortschritte sein.” Dabei wies auf den Bau der Brücke in Stanyzja Luhanska, den Austausch von Gefangenen und auf den Pariser Gipfel im Normandie-Format im Dezember 2019 hin.
Das Problem ist, dass Russland sich nicht als Konfliktpartei betrachtet
“Die Russen bezeichnet sich weiterhin als Vermittler zwischen Kiew und dem Donbass, wie sie sagen, oder zwischen Kiew, Donezk und Luhansk. Sie müssen ständig daran erinnert werden, dass die Trilaterale Kontaktgruppe Russland, die Ukraine und die OSZE-Vermittler umfasst, und dass die Ukraine einer solchen Vermittlung durch die OSZE zugestimmt hat. Sie hat definitiv niemals einer Vermittlung seitens der Russischen Föderation zugestimmt”, erinnerte Oleksij Resnikow.
Der stellvertretende ukrainische Ministerpräsident erklärte weiter, warum eine solche Haltung unlogisch ist: “Wenn Russland die Minsker Vereinbarungen als einen internationalen Vertrag betrachtet, der als verbindliche Resolution des UN-Sicherheitsrates bestätigt wurde, dann muss herausgefunden werden, wer Subjekt internationaler Beziehungen ist. Wenn dies Russland und die Ukraine sind, dann muss die Russische Föderation dieses Dokument ratifizieren und ihm Legitimität verleihen.” Resnikow fügte hinzu, sollte Russland aber alle Bezirke der Regionen Donezk und Luhansk als Teil der Ukraine betrachten und sich nicht in die souveränen Angelegenheiten der Ukraine einmischen wollen, dann könnten die Minsker Vereinbarungen auch nicht als internationaler Rechtsakt angesehen werden.
Oleksandr Mereschko von der Partei “Diener des Volkes” sagte in diesem Zusammenhang: “Dies sind vielleicht beispiellose Verhandlungen in der Geschichte der Diplomatie, weil wir mit denen verhandeln, die sich weder als Konflikt- noch als Verhandlungsseite betrachten, sondern sich selbst als Vermittler oder Mediator bezeichnen. Dies ist eine sehr absurde Situation.”
Der französische Botschafter Etienne de Poncins fügte noch hinzu: “Russland versucht ständig so zu tun, als wäre es keine Konfliktpartei, und versucht die Ukraine zu zwingen, direkt mit den Separatisten zu kommunizieren. Wir widersetzen uns dieser Dynamik und versuchen Russland zu zwingen, irgendwelche Verpflichtung zu übernehmen.”
Derzeit gibt es keine Alternative zum Minsker Verhandlungsprozess
Dem französischen Botschafter in der Ukraine zufolge sind die Minsker Vereinbarungen an die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland gebunden. Sollte das Format von “Minsk” geändert werden, dann könnte es auch keine Sanktionen mehr wegen der Nichteinhaltung von “Minsk” geben. Daher müsste man alles sorgfältig abwägen, so Etienne de Poncins: “Ich weiß, dass es in der Ukraine eine Debatte über die Minsker Abkommen und ihre Gültigkeit gab. Wir glauben, dass Sie die Situation in der Ostukraine nicht lösen können, indem Sie das Format der Verhandlungen ändern.” Ihm zufolge fehle es an politischem Willen und Russlands trage einen großen Teil der Verantwortung dafür. Oft habe er von einem Plan B gehört, aber den gebe es nicht. Daher sollte man weiterhin dem Plan A folgen, also den Minsker Vereinbarungen und dem Normandie-Format.
Oleksij Resnikow sagte in dem Zusammenhang: “Bis heute sind die Minsker Abkommen die einzige Grundlage, die existiert. Heute gibt es zwei Plattformen – das Normandie-Format auf höchster Ebene zur Beilegung des militärischen und bewaffneten internationalen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine im Donbass sowie die Trilaterale Kontaktgruppe, die sich bereits in einem virtuellen ‘Minsk’ befindet.”