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Warum der russische Gaspreis steigt und was das mit der Ukraine zu tun hat

Seit Wochen herrscht europaweit Aufregung rund um die Gaspreise. 2021 haben sie an den Spotmärkten alle Rekorde gebrochen. In der Ukraine ist allen klar: Russland will mit dem Gaspreis erpressen und den Rohstoff als politische Waffe einsetzen. Der Preisanstieg hat auch mit dem Bestreben Russlands zu tun, die Ostseepipeline Nord Stream 2 so schnell wie möglich in Betrieb zu nehmen. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center.

Warum steigen die Gaspreise in Europa? Der Preisanstieg geht auf mehrere Faktoren zurück. Erstens ist 2021 der Gesamtverbrauch von Erdgas weltweit gestiegen. Dies hängt mit der Aufhebung von Quarantäne-Beschränkungen und einer wirtschaftlichen Erholung zusammen. Außerdem geht in letzter Zeit die Gasförderung in Europa zurück und die Abhängigkeit von Importen wächst. Ein weiterer Faktor für die steigende Nachfrage ist die “grüne Energiewende”, derzufolge fossile “schmutzige” Energieträger durch “saubere” ersetzt werden sollen. In ihrem Bestreben, sich von der Kohle zu lösen, haben viele Länder daher auf Gas umgestellt und so ihre Abhängigkeit von diesem Energieträger erhöht. All diese Faktoren zusammen führen zu einer erhöhten Nachfrage nach Gas.

Doch in diesem Herbst hat sich die Situation noch deutlich verschärft, und diese Entwicklung geht bis ins Frühjahr 2021 zurück. Am 28. September erreichten die Gaspreise in Europa einen historischen Höchststand und überstiegen erstmals 1000 US-Dollar pro tausend Kubikmeter. Seitdem sind die Preise weiter stark gestiegen. Am 6. Oktober erreichten die Gas-Futures-Preise in Europa den Rekordwert von 1937 US-Dollar pro tausend Kubikmeter.

Warum profitiert Russland von der “Energiewende” in der EU? Russland ist der wichtigste Erdgaslieferant in Europa. Neben Russland sind Norwegen und Algerien die größten Lieferanten außerhalb der EU. In Zahlen ausgedrückt: 2019 und 2020 kamen laut EU-Kommission aus Russland 43,4 % bzw. 45,5 % der EU-Gasimporte, aus Norwegen 22,7 % bzw. 20 %, aus Algerien 11,6 % bzw. 12 %. Und im ersten Quartal 2021 stieg der Gesamtanteil Russlands an den Lieferungen an die EU (Pipeline- und Flüssiggas) noch weiter und erreichte 50 % (davon 45 % Pipelinegas und 5 % Flüssiggas).

Die “Energiewende”, für die man sich in Europa entschieden hat, kommt Russland eindeutig zugute. Denn diese Situation begünstigt Manipulationen und künstliche Beschränkungen. Und Russland hat auch schon damit begonnen, Lieferungen einzuschränken, um politische Ziele zu erreichen. Jetzt ist es für Europa an der Zeit zu begreifen, was die Ukraine schon längst weiß: Russland nutzt Gas nicht nur als Ware, sondern auch als geopolitisches Druckmittel.

Wie manipulieren Russland und Gazprom? Mychajlo Hontschar, Leiter des ukrainischen Zentrums für globale Studien “Strategie XXI”, sagte der ukrainischen Zeitung “Glavkom”, der nie dagewesene Anstieg der Gaspreise sei das Ergebnis einer Strategie des Kremls, die Gaslieferungen an die EU künstlich zu reduzieren. Dem Energieexperten zufolge liefert Russland entgegen offizieller Zusicherungen aus Moskau in Wirklichkeit weniger Gas nach Europa, als es behauptet.

Gazprom würde, so Hontschar, mehr als früher verkaufen, aber nicht alles, was auf dem Papier vereinbart worden sei, komme physisch aus Russland in der EU auch an. “Ein Großteil des Gases, das Gazprom auf dem europäischen Markt verkauft, wird dort von seinen Tochtergesellschaften zurückgekauft und weiterverkauft, ohne die EU zu verlassen”, so der Experte. Er fügte hinzu: “Wahrscheinlich laufen Karusselle zwischen mehreren in der Schweiz registrierten ‘Tochterunternehmen’, meist im Kanton Zug, die allesamt Töchter von Gazprom sind. Dies ist nicht nur ‘Gazprom Export’, sondern auch ‘Gazprom Deutschland’ und ‘Gazprom Schweiz’. Wingas gehört zu den wichtigsten Händlern, die auf dem deutschen Markt operieren. Es ist nicht verwunderlich, dass das Karussell von Gazprom, indem es gekonnt in die Realitäten des Marktes eingebettet wurde, die Preise auf dem europäischen Spotmarkt in die Höhe getrieben hat.”

“Gazprom will eigentlich alle Spielregeln brechen, die von europäischen Institutionen auf dem europäischen Gasmarkt aufgestellt wurden, und zwar die Regeln des Dritten EU-Energiepakets. Auf diese Weise soll die EU dahingehend erpresst werden, alle rechtlichen Beschränkungen für den Betrieb der Pipelines Nord Stream 1, Nord Stream 2 und Turkish Stream aufzuheben”, so der Experte. Er ist sich sicher, dass der Kreml mittels Gazprom eine hybride Spezialoperation gestartet hat, getarnt als Trend auf dem Markt.

Mit anderen Worten, Hontschar meint, dass Gazprom den Gasmarkt als einen Schauplatz für Kriegsoperationen betrachtet. “Die Europäische Kommission hat diese Krise nicht verhindert, weil man in Brüssel alles auf Faktoren des Marktes zurückführt, entweder aus Naivität oder aus der Überzeugung heraus, dass die ‘Hebel des Marktes’ alles automatisch regeln werden, oder vielleicht auch aus Inkompetenz. Bis zuletzt hat die Europäische Kommission nicht beachtet, dass einige Unternehmen, davon das größte Gazprom, den Markt für nicht marktwirtschaftliche Ziele ausnutzen, um den Markt zum eigenen Vorteil umzugestalten und die von der EU-Kommission aufgestellten Beschränkungen für Putins Gaspipelines aufzuheben”, so Hontschar.

Der Kreml drängt auf verstärkte Gasexporte nach Europa. Offizielle Berichte aus Russland am 7. Oktober machten keinen Hehl daraus, warum rund ums Gas eine künstliche Aufregung geschaffen wird. “Wir sind bereit, die Exporte zu erhöhen, aber es gibt eine Bedingung”, hieß es aus dem Kreml. Der stellvertretende russische Ministerpräsident und Energieminister Alexander Nowak erkärte, Russland sei bereit, in diesem Jahr “Rekordmengen an Gas” nach Europa zu exportieren, aber dafür müsste die Gaspipeline Nord Stream 2 schnell zertifiziert werden.

Der russische Präsident Wladimir Putin fügte hinzu, ein weiterer wichtiger Transitweg für russisches Gas sei das Gastransportsystem der Ukraine. Aber diese Route sei teurer und umweltschädlicher. Nachdem Putin Gazprom vorgeschlagen hatte, die Lieferungen russischen Gases auf den europäischen Markt zu erhöhen, fielen die Gas-Futures an einem Tag unter 1200 Dollar. Der Mindestpreis wurde auf 1197,64 US-Dollar festgelegt, was 14 % unter dem geschätzten Preis vom Dienstag lag.

Die Ukraine und die Erpressung des Kremls. Gazprom hat insgesamt vier Gaspipelines in Umgehung der Ukraine gebaut: Blue Stream und Turkish Stream durch das Schwarze Meer und Nord Stream 1 und Nord Stream 2 durch die Ostsee. Die Gesamtkapazität dieser Leitungen beträgt fast 160 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Dies übersteigt die Transitkapazität des Gastransportnetzes der Ukraine, die nominell 146 Milliarden Kubikmeter erreicht.

Die Beraterin beim ukrainischen Energieministerium, die ehemalige stellvertretende Außenministerin Lana Serkal, schreibt in der Zeitung “Ukrajinska Prawda”, Putins Behauptung, der Transit durch die Ukraine sei “unrentabel”, sei eine Lüge. “Diese Anschuldigungen sind eindeutig falsch. Erstens nutzt Gazprom derzeit nicht mehr als 10 % der bereits bezahlten Transitkapazitäten. Eine Zunahme des Transits bis zur Höhe des vom Vertrag vorgesehenen Volumens würde derzeit Gazproms Kosten für die Durchleitung jedes Kubikmeters Gas in die EU senken. Insbesondere sind auch die Kapazitäten für den Gastransit durch die Ukraine nach Ungarn schon bezahlt. Der Verzicht auf diese Kapazitäten ist ein Beweis dafür, dass sich Gazprom nicht kommerziell verhält, was Gegenstand einer Untersuchung seitens der europäischen Kartellbehörde sein sollte. Indem Russland die Kapazitäten der ukrainischen Route, die sogar schon bezahlt sind, nicht ausschöpft, schafft Russland in einer ganzen Reihe europäischer Länder, darunter Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Slowakei, Ungarn, Polen und Ukraine, bewusst Gasengpässe. Und dieses Defizit erzeugt einen Preisdruck und bedroht die Energiesicherheit unserer Region”, so Serkal.