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Was will Putin?

Seit Wochen richtet sich die Aufmerksamkeit der Menschen in der Ukraine, in den Ländern der Region und im Westen auf die ukrainisch-russische Grenze. Dort hat die Russische Föderation eine bedeutende Streitmacht zusammengezogen. Diplomaten tauschten Erklärungen aus, US-Präsident Joe Biden bot dem russischen Staatschef Wladimir Putin ein Treffen an und Präsidenten von EU-Staaten warnten vor einer Eskalation. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hielt eine Rede, in der er sich auch an Putin wandte und ihm vorschlug, sich im Donbass zu treffen. Tags darauf hielt Putin seine traditionelle Rede vor der Föderationsversammlung, die von den Ukrainern aufmerksam verfolgt wurde. Denn gerade in einer solchen Rede im Jahr 2014 hatte er die Föderationsversammlung gebeten, den Einsatz russischer Streitkräfte auf ukrainischem Territorium zu billigen. Doch einen Tag nach Putins jüngster Rede erklärte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu überraschend, dass die Militärmanöver abgeschlossen seien und die russischen Truppen sich von der Grenze zur Ukraine zurückziehen würden. Welches Ziel hat Putin mit der Truppenverlegung und der Eskalation verfolgt? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Was hat Putin vor der Föderationsversammlung gesagt?

Putins Rede war asymmetrisch was die Erwartungen an sie angeht. Die internationale Gemeinschaft hatte Erläuterungen zur Lage an der russisch-ukrainischen Grenze erwartet und ein Teil der russischen Bürger eine Erklärung zur Lage des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Der größte Teil von Putins Rede bezog sich auf die russische Innenpolitik, auf epidemiologische, wirtschaftliche und soziale Fragen. Mehr als eine Stunde lang versprach Putin Familien und Kindern Alleinerziehender neue Sozialleistungen, er versprach neue Investitionsmöglichkeiten in den Regionen und vieles mehr. Traditionell, wenn auch nur kurz, prahlte er wieder mit neuen Entwicklungen russischer Waffen.

Die internationale Politik erwähnte er erst in den letzten 15 Minuten. Dabei lag sein Fokus nicht auf der Ukraine oder dem Donbass, sondern auf Belarus. Er sprach von einem “Anschlag” auf den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko sowie über nicht näher erläuterte Drohungen seitens des “kollektiven Westens”. Über Nawalny, dessen Freilassung von Demonstranten in Russland gefordert wird, aber auch über die Konzentration russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine verlor er kein Wort. 

Belarus in Putins Fokus: Anspielung auf eine westliche Unterstützung eines “Anschlags” auf Lukaschenko.Putin sagte: “Jeder ist bereits an die Praxis politisch motivierter, illegaler Sanktionen in der Wirtschaft gewöhnt, an die groben Versuche einiger, anderen ihren Willen mit Gewalt aufzuzwingen. Aber heute verwandelt sich diese Praxis zu etwas viel Gefährlicherem – ich meine die kürzlich bekannt gewordenen Fakten bezüglich des direkten Versuchs, einen Staatsstreich in Belarus zu organisieren und den Präsidenten dieses Landes zu ermorden. Gleichzeitig ist es charakteristisch, dass selbst solche eklatanten Aktionen vom sogenannten kollektiven Westen nicht verurteilt werden. Niemand scheint das zu bemerken. Jeder gibt vor, dass überhaupt nichts passiert.”

Worum geht es? Am 17. April sagte Lukaschenko vor Fernsehkameras, er sei Ziel eines Attentats der USA gewesen, und der russische Geheimdienst erklärte, an der Verschwörung seien angeblich zwei vergangene Woche in Moskau festgenommene Personen beteiligt gewesen – “belarussische und ukrainische Nationalisten”, die von den USA und Polen beraten worden seien. Lukaschenko beschuldigte insbesondere Yuras Zenkovich, einen US-Anwalt mit belarussischer und amerikanischer Staatsbürgerschaft, den Chef der belarussischen Volksfront, Grigorij Kostusjow, sowie den Literaturkritiker und Politikwissenschaftler Oleksandr Feduta, an dem Attentat beteiligt gewesen zu sein. Als mögliche Organisatoren nannte er die CIA und das FBI. Er lieferte jedoch keine Beweise.

Das US-Außenministerium hat die von Lukaschenko erhobenen Vorwürfe zurückgewiesen. Auch Polen wies die russischen Vorwürfe der russischen Behörden zurück, an einer Verschwörung zur Ermordung von Lukaschenko beteiligt gewesen zu sein. Polen erkennt Lukaschenko wie alle mittel- und westeuropäischen Länder nicht als rechtmäßig gewählten Präsidenten von Belarus an. Sie betrachten die Präsidentenwahl vom August 2020 als manipuliert und fordern Minsk auf, politische Gefangene freizulassen und die Gewalt gegen Demonstranten und Gefangene zu beenden.

Experten zufolge und insbesondere im Zusammenhang mit dem Gewicht, das Putin der Lage in Belarus in seiner Rede einräumte, scheint der “Anschlag” wohl eher eine gemeinsame Sonderoperation von Belarus und Russland zu sein.

Nach einem Treffen zwischen Putin und Lukaschenko am folgenden Tag (22.04.2021) forderte Lukaschenko eine bessere Verteidigung und Sicherheit für den Unionsstaat, also für Russland und Belarus.

“Es gibt Fragen, denen man sich verstärkt annehmen muss, einschließlich der Sicherheit und der Verteidigung unseres Unionsstaats”, sagte Lukaschenko. Während seines Treffens mit seinem russischen Amtskollegen Putin in Moskau erklärte er, Minsk und Moskau hätten sich auf fast drei Dutzend Fahrpläne für die Integration in den gemeinsamen Unionsstaat geeinigt. Lukaschenko zufolge wurden auf Regierungsebene Vereinbarungen getroffen. Zwei oder drei weitere Programme müssten noch erörtert werden.

Möglicherweise war auch ein Einsatz russischer Truppen in Belarus Gesprächsthema.

Es ist bemerkenswert, dass Putin die Ukraine nur parallel zur Situation in Belarus erwähnte. Die ukrainischen Maidan-Proteste 2013-2014 und die Demonstrationen in Belarus, die im Sommer 2020 begannen, bezeichnete Putin als versuchte “Staatsstreiche”.

Neue nebulöse Drohungen an den “kollektiven Westen”. Traditionell erwähnte Putin in seiner Rede “unfreundliche” Aktionen gegen Russland, ohne anzugeben, von wem sie kommen. “Gleichzeitig hören auch unfreundliche Aktionen gegen Russland nicht auf. In einigen Ländern wurde ein unanständiger Brauch eingeführt: aus irgendeinem Grund und meistens ohne Grund alles an Russland festzumachen. Es ist wie ein Sport, irgendein neuer Wettkampf, wer lauter schimpft”, so Putin.

Er sagte zudem: “In dieser Hinsicht verhalten wir uns äußerst zurückhaltend, gar bescheiden, kann ich direkt und ohne Ironie sagen. Oft reagieren wir überhaupt nicht auf unfreundliche Handlungen, und auch nicht auf offene Unhöflichkeit. Wir wollen gute Beziehungen zu allen Teilnehmern des internationalen Austausch haben. Aber wir sehen, was im wirklichen Leben passiert: Wie gesagt, man bringt Russland mal hier mal dort ohne Grund ins Spiel.” Putin fügte hinzu, Russland wolle wirklich keine Brücken abbrennen. “Aber wenn jemand unsere guten Absichten als Gleichgültigkeit oder Schwäche sieht und selbst beabsichtigt, diese Brücken endgültig abzubrennen oder sogar zu sprengen, sollte er wissen, dass die Reaktion Russlands asymmetrisch, schnell und hart sein wird”, so Putin. Er unterstrich: “Die Organisatoren von Provokationen, die grundlegende Interessen unserer Sicherheit gefährden, werden ihre Taten bereuen, da sie lange Zeit nichts bereut haben.”

Die Entschlossenheit, mit der Putin sprach, rief beim Publikum Beifall hervor. Doch seinen Aussagen folgten keine Taten. Schon am nächsten Tag wurde den russischen Truppen befohlen, die Manöver zu beenden und in ihre Kasernen zurückzukehren.

Truppenabzug: Zieht sich Russland zurück?

Am 22. April teilte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu mit, dass Russland am 23. April damit beginne, seine Truppen aus dem südlichen und westlichen Militärbezirk, wo sie Übungen auf der besetzten Krim und in der Nähe der ukrainischen Grenzen durchführen, in ihre ständigen Kasernen zurückzuziehen.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, begrüßte die Entscheidung des Kremls, aber die ukrainischen Streitkräfte würden weiterhin in erhöhter Alarmbereitschaft bleiben.

Die ukrainische Zeitung “NW” befragte Politiker und Experten zu der unerwarteten russischen Entscheidung, um herauszufinden, warum der Kreml erst eine militärische Bedrohung auslöste, und dann begann, sich zurückzuziehen. Hier die wichtigsten Thesen:

Putin erhielt die Aufmerksamkeit der Staats- und Regierungschefs der Welt, erreichte jedoch in den Verhandlungen mit der Ukraine nicht den gewünschten Effekt. Der ehemalige ukrainische Außenminister Wolodymyr Ohrysko (2007-2009) kommentierte die Situation wie folgt: “Putin hat ein Ziel erreicht: Der Westen richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. Für ihn persönlich und für das russische Regime ist dies ein Indikator dafür, dass Russland weiterhin Teil der Weltordnung ist und sich an globalen Fragen beteiligt. Für den Kreml ist es ein Symbol für seine Größe, wenn der US-Präsident ihn anruft und ein Treffen anbietet, ebenso wie die europäischen Staats- und Regierungschefs. All dies gefällt seinem Ego.”

Ohrysko sagte ferner, diese Situation sei für Russland auch von innenpolitischer Bedeutung, da Putins Umfragewerte bei etwa 35% liegen, was im Vergleich zu 2014 sehr niedrig ist, als sie etwa 80% erreichten.

“Eines der Ziele war es, die ukrainische Führung in Panik zu versetzen, damit sie ihre Verhandlungspositionen aufgibt. Putin gelang dies nicht, weil der Westen – über Biden und die NATO – dem russischen Führer klargemacht hat, dass eine Aggression gegen die Ukraine schwerwiegende Folgen haben und es kein Zögern mehr geben würde. Auch die Führung der Ukraine und die ukrainische Gesellschaft haben eine Rolle gespielt und gezeigt, dass es keinen Spaziergang geben wird, dass die Russen mit schweren Verlusten zu rechnen hätten”, betonte Ohrysko.

Moskau wollte die Ukraine in den Minsker Gesprächen unter Druck setzen, aber ohne Erfolg. Oleksij Arestowytsch, der Sprecher der ukrainischen Delegation bei der Trilateralen Kontaktgruppe in Minsk zur Beilegung der Situation im Donbass, sagte: “Die Russen haben keine wirklichen Möglichkeiten, gegen die kollektive Haltung der Ukraine und der USA, Großbritanniens und anderer NATO-Länder vorzugehen.” Arestowytsch sagte ferner, Russland habe erstens versucht, seine Verhandlungsposition gegenüber den USA zu stärken, und zweitens habe Moskau die ukrainische Führung in Bezug auf die Trilaterale Kontaktgruppe und das Normandie-Format unter Druck setzen wollen. “Putin hat erwartet, dass wir Angst haben würden, und Frankreich und Deutschland würden sich mit Washington streiten. Die Reaktion der westlichen Länder erwies sich als so konsolidiert und koordiniert, dass die Russen verstanden haben, dass jede Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine irreversible Konsequenzen für Russland selbst haben würde”, so Arestowytsch.

Die theatralische Demonstration der Stärke zielte auf die Ukraine und die USA ab. Oleksandr Mereschko, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des ukrainischen Parlaments, glaubt, dass die Konzentration russischer Truppen nahe der Grenze zur Ukraine ein Weg war, Kiew einzuschüchtern. “Auf der anderen Seite hat Russland versucht, viel Aufmerksamkeit vom Westen zu bekommen. Diese theatralische Machtdemonstration war nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Vereinigten Staaten bestimmt”, so Mereschko. Ihm zufolge träumt Putin davon, gleichberechtigt neben US-Präsident Joe Biden zu stehen. Er wolle Washington beeindrucken, indem er die Nachbarstaaten terrorisiere.

“Putin provoziert und schaut sich dann die Reaktion des Westens an. Wenn es keine Reaktion gibt, macht er weiter. In diesem Fall haben die westlichen Länder schnell auf seine Provokationen reagiert, was ihn möglicherweise gestoppt hat”, so Mereschko. 

Außerdem sei es unmöglich, die Truppen in einem Zustand ständiger voller Kampfbereitschaft zu halten. “Putin beschloss, sie zurückzuziehen. Er hat versucht, die Welt in einen Zustand der Unsicherheit zu versetzen, in Erwartung dessen, was er tun würde, ob er einen weiteren Akt der Aggression begehen würde oder nicht. Er spitzte diesen Zustand bis zu dem Tag zu, an dem er seine Rede vor der Föderationsversammlung gehalten hat”, sagte Mereschko. Seiner Meinung nach will Putin “beachtet” werden. Dafür greife er zu Einschüchterung, nach dem Motto: “Wenn man Russland nicht respektiert, dann soll man Angst vor ihm haben.”