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Vor den Kommunalwahlen: Was Präsident Selenskyj berichtet und verspricht

Die letzte Woche vor den Kommunalwahlen am 25. Oktober war in der Ukraine ziemlich angespannt. Einerseits breitet sich das Coronavirus weiter aus. Binnen einen Tages wurde mit über 7000 Neuinfektionen und 121 Todesfällen ein neuer Höchststand verzeichnet. Andererseits wurde intensiv Wahlkampf betrieben. Die Regierungspartei “Diener des Volkes” unternimmt alles, um ihre Position zu stärken. In diesem Zusammenhang hielt Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang der Woche eine Rede vor dem Parlament und am Ende der Woche gab er vier landesweiten TV-Kanälen ein langes Interview, unter dem Motto: “Herbst 2020: Errungenschaften und Herausforderungen”. Hier die wichtigsten Thesen der Rede und des Interviews:

Am 20. Oktober, fünf Tage vor den Kommunalwahlen, hielt Wolodymyr Selenskyj seine jährliche Rede an die Abgeordneten. Der Präsident sprach voller Leidenschaft, als wäre es eine erneute Antrittsrede und betonte: “Heute gibt es in der Ukraine keinen Beamten, der glaubt, er sei unantastbar oder ewig. Wenn keine Ergebnisse geliefert werden, verliert man sein Amt.”

Im Gegensatz zu Mai 2019, als Selenskyj zum ersten Mal als Staatsoberhaupt im Parlament sprach, ist die Lage im Herbst 2020 eine völlig andere: Die Wähler sind zunehmend enttäuscht von der neuen Mannschaft des Präsidenten. Zum Beispiel unterstützen dem Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) zufolge 21,5% der Bürger die Partei “Diener des Volkes”, also 11% weniger als noch vor sechs Monaten. Auch die Popularität des Präsidenten sinkt: Eine Umfrage der Forschungsgruppe “Rating” ergab, dass im September dieses Jahres 29% der Wähler, die sich bereits entschieden hatten, bereit waren, für Selenskyj zu stimmen. Vor sechs Monaten waren es noch 39%.

Selenskyj und sein Team haben sich schwach auf die Kommunalwahlen vorbereitet, sagen Beobachter. Zumal die Coronavirus-Epidemie sich im Land ausbreite, könne nicht bald mit positiven Veränderungen in der Wirtschaft des Landes gerechnet werden.

Die Partei  “Diener des Volkes” wird wahrscheinlich die Wahlkampagnen in den größten Städten Kiew, Lwiw, Dnipro und Odessa verlieren. Bei den Kommunalwahlen wird Selenskyjs Partei im Westen des Landes wohl ein schlechteres Ergebnis einfahren als die Partei “Europäische Solidarität” des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Und im Osten könnte sie hinter der von Jurij Bojko und Viktor Medwedtschuk angeführten Partei “Oppositionelle Plattform – Fürs Leben” landen. “Im Osten haben die ‘Diener des Volkes’ ihre Position verloren, obwohl gerade dort die Wähler die Friedensinitiativen des Präsidenten schätzen sollten, was sie aber nicht tun”, findet Maria Solkina, Politikexpertin der ukrainischen Stiftung “Demokratische Initiativen”.

Rede im Parlament: Die wichtigsten Thesen

Die Rede des ukrainische Präsidenten sei eine reine Fernsehshow und keine Rede vor einem Parlament gewesen, schrieb der Leiter der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine, Sergej Sumlenny, auf Twitter. Doch es gab auch positivere Reaktionen. Was hat der Präsident gesagt? 

Verhandlungen zu Donbass und Krim. “Frieden im Donbass und die De-Okkupation der Krim sind meine Prioritäten. Leider stand die Krim nie auf der Tagesordnung des Normandie-Formats, aber sie stand und wird immer auf unserer Tagesordnung stehen. Solange die Krim besetzt ist und dort regelmäßig Ukrainer und Krimtataren verfolgt werden, darf die Welt die Krim nicht vergessen”, sagte Selenskyj.

“Wir haben die Krim wieder auf die internationale Agenda gesetzt. Wir werden eine Krim-Plattform schaffen, ein Format zur Koordinierung der internationalen Bemühungen zum Schutz der Rechte der Menschen auf der Krim und zur De-Okkupation der Halbinsel. Ich habe diese Initiative bereits ausführlich mit Vertretern der Europäischen Union, des Vereinigten Königreichs, Kanadas, der Türkei und anderen Partnern erörtert. Viele von ihnen wollen sich anschließen und aktiv daran teilnehmen”, so der Präsident.

Er erwähnte auch das Budapester Memorandum, das unter den fünf Fragen der Befragung ist, die vom Präsidenten initiiert wurde und an der die Bürger bei den anstehenden Kommunalwahlen am 25. Oktober freiwillig teilnehmen können.

Über den Corona-Kampf. Das erste Thema, das Präsident Selenskyj in seiner jährlichen Ansprache aufgriff, war der Kampf gegen die Coronavirus-Epidemie. Zunächst kritisierte er erneut, was er von der Vorgängerregierung geerbt habe. Ferner sagte der Präsident, die Corona-Situation im Land sei unter Kontrolle und verglich die Ukraine sogar mit Deutschland.

Als Errungenschaft seines Teams bezeichnete Selenskyj die Wiedereinrichtung eines Dienstes von Sanitär-Ärzten, den Aufbau einer Produktion von Schutzmasken und Testmöglichkeiten sowie die Zusatzzahlungen an Ärzte für die Behandlung von COVID-19-Patienten und die Entwicklung von Medikamenten.

Laut dem Präsidenten waren es “wirksame Maßnahmen der Führung des Landes, die dazu beigetragen haben, die Corona-Sterblichkeitsrate zu minimieren”. In der Ukraine liege sie bei 1,9%, während sie in anderen europäischen Ländern deutlich höher sei. “Wir freuen uns nicht und haben mit anderen Mitleid. Wir dürfen uns aber nicht zurücklehnen. Der Kampf gegen COVID-19 geht weiter”, so Selenskyj.

Über “den Staat im Smartphone”. “Nicht die Menschen für den Staat, sondern der Staat für die Menschen – so lautet das Hauptprinzip in den Beziehungen zwischen den Bürgern und dem Staat. Wir wollen, dass der Staat ein angenehmer Dienstleister ist”, betonte der Präsident in seiner Rede vor dem Parlament.

“Millionen Ukrainer nutzen die App ‘Dija’. Die Ukraine ist das erste Land der Welt mit einem digitalen Pass. Dutzende anderer Dokumente wurden digitalisiert, um die Geschäftstätigkeit zu vereinfachen. Die Ukrainer haben digitale Führerscheine”, so das Staatsoberhaupt.

Über die Zusammenarbeit mit der NATO. Der Präsident versicherte, dass die Ukraine weiterhin NATO-Standards umsetzen wird, um ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. So habe die Ukraine den NATO-Status eines Partners mit erweiterten Fähigkeiten erlangt und den Generalstab an die typische Struktur der NATO-Staaten angepasst. Zudem seien gemeinsame Übungen wie “Rapid Trident “durchgeführt worden und die ukrainischen Truppen würden weiterhin mit den NATO-Standards in Einklang gebracht.

“Großes Bauprogramm”. Der Präsident berichtete ferner über das, was während seiner Präsidentschaft im Land gebaut wurde, und erinnerte an sein Programm: “Um das Programm ‘Bequemes Land’ umzusetzen, haben wir das ‘Große Bauprogramm’ gestartet, und dies ist nicht nur irgendein Name eines staatlichen Programms. Jeder sieht, dass im Land wirklich groß gebaut wird. Wir schweißen die Ukraine nicht nur mit Ideen, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Straßen und Brücken zusammen. In diesem Jahr sind es 4000 Kilometer Straßen mit landesweiter Bedeutung, 2000 Kilometer Straßen von lokaler Bedeutung, 100 Schulen, 100 Kindergärten und 100 Sportanlagen. Wir möchten, dass jede Region ihre eigene große Sportarena hat.”

Es sei daran erinnert, dass der Präsident und die Regierung dafür kritisiert werden, angeblich Mittel aus dem Coronavirus-Fonds für den Bau von Straßen und anderer Infrastruktur verwendet zu haben, nur um potenziellen Wählern zu zeigen, was die Regierung leistet. Für den Corona-Fond wurden Ausgaben in anderen Bereichen gekürzt, darunter in der Kultur.

TV-Interview: Die wichtigsten Punkte

Bezüglich eines Lockdowns. Selenskyj sagte, er wolle alle beruhigen. “Uns ist klar, dass ein Lockdown die Wirtschaft unseres Landes stoppen wird und das wäre beängstigend und gefährlich. Das ist aus heutiger Sicht meiner Meinung nach unmöglich und unangebracht”, sagte das Staatsoberhaupt. Selenskyj unterstützt Gesundheitsminister Maksym Stepanow, der einen Lockdown bei 15.000 neuen Corona-Fällen pro Tag (derzeit sind es rund 7000) für möglich hält. Dann gäbe es aber keinen Mangel an Krankenbetten, sondern an Ärzten.

“Wir können nicht das gesamte Gesundheitswesen auf COVID-Patienten umstellen. Wir werden nicht plötzlich Millionen neuer Ärzte in der Ukraine haben. Dies ist ein großes Problem. Deshalb wenden wir uns an die Menschen. Uns ist klar, dass alle es leid sind, aber bitte tragen Sie Schutzmasken”, so Selenskyj.

Über die “landesweite Befragung”. Der Präsident sagte, er betrachte die Befragung als ein wichtiges Ereignis, weil er in seinem Wahlprogramm “Volksherrschaft” versprochen habe. Er betonte, die Befragung werde keine rechtlichen Konsequenzen haben, aber ihm Argumente liefern, Veränderungen einzuleiten.

“Ich werde die Antworten der Menschen verinnerlichen, mit den Abgeordneten sprechen und entsprechende Positionen vorschlagen”, sagte er.

Zusammenarbeit mit dem IWF. Selenskyj ist überzeugt, dass es unmöglich ist, die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds aufzukündigen, weil die Ukraine eine schwache Wirtschaft habe. Es gebe eine Pause in den Beziehungen zum IWF, weil es Personen gebe, die sich einmischen würden. “Ohne westliches Geld kommen wir nicht  zurecht. Wir hatten die erste Tranche, wir haben alles für die zweite getan. Aber es gibt Leute in der Ukraine, die Lobbyarbeit betreiben, nur um uns zu stören”, sagte der Präsident. Namen wollte er jedoch keine nennen.

Kabinettsumbildung. Der Präsident schließt personelle Veränderungen in der Regierung nicht aus. Er will sich bald mit Premierminister Denys Schmyhal treffen. Dann könnte es zu Umbesetzungen kommen. “Die Schwächsten werden gehen”, sagte Selenskyj und fügte hinzu: “Es können Köpfe rollen, das ist wahr. Aber nicht, weil irgendwelche Abgeordneten ein schlechtes Verhältnis zu dem einen oder anderen Minister haben”, so der Präsident. Namen von Ministern nannte er auch nicht.

Landreform und gestohlenes Land. Der Präsident verteidigt seine Landreform, mit der das Moratorium auf den Verkauf landwirtschaftlicher Flächen in der Ukraine aufgehoben wurde. Er betonte, dass die Politiker 30 Jahre lang den Ukrainern vorgelogen hätten, wertvolle Schwarzerdeböden könnten an Ausländer verkauft werden. Gleichzeitig hätten sie sich mit Machenschaften Grund und Boden selbst angeeignet.

“Wir haben untersucht, wie bei den Menschen bezüglich der Landreform Gehirnwäsche betrieben wurde. Dann haben wir den Leiter des staatlichen Katasteramts ausgewechselt, der sofort alle Zahlen offenlegte: fünf Millionen Hektar wurden gestohlen. Übrig geblieben sind noch etwas mehr als zwei Millionen Hektar. Es waren sieben Millionen Hektar. Wo sind die anderen fünf? Sie wurden gestohlen”, so Selenskyj.