Olena Stjaschkina: Es gibt keine “Donezker”

Olena Stjaschkina ist Schriftstellerin und Geschichtsprofessorin der Donezker Nationalen Universität. Die Hochschule befindet sich derzeit im Exil in Winnyzja. Mehrere Auftritte und Interviews haben Olena Stjaschkina in der gesamten Ukraine bekannt gemacht. In einem Gespräch mit der Zeitschrift “Insider” spricht sie über die sogenannte “Donezker Identität”, über Besetzung und Kollaboration. Das Ukraine Crisis Media Center bringt eine gekürzte Fassung dieses Interviews.

Was hat sich bei Ihnen und anderen Menschen aus Donezk verändert, mit denen Sie nun schon über ein Jahr lang weit weg von zu Hause in Winnyzja leben?

Sehr verändert haben sich viele meiner Freunde und Bekannten noch in Donezk, im März 2014. Es ist kein Geheimnis, dass Donzek und Luhansk den Maidan nicht gerade unterstützt hatten. Aber man kann nicht sagen, dass dort alle “Janukowytsch-Anhänger” waren. Vielmehr war es ein Mangel an Verständnis dessen, was geschieht. Doch im März 2014 sagten sogar diejenigen, die gegen den Maidan waren: “Die Ukraine ist unsere Heimat.” Die Ukraine als Heimat ohne innere Widersprüche zu begreifen, das war die wichtigste Veränderung. Wir glauben an die Ukraine.

Sie sagen, dass man nicht von “Donezkern” sprechen kann. Warum?

Die Begriffe “Donezker” und “Donbass” waren Teil der propagandistischen Vorbereitung der militärischen Intervention des Kreml in der Ukraine, Teil des Plans, den Donbass zu dämonisieren. Die Ukraine, Europa und die Welt sollten überzeugt werden, dass in der Region grundverschiedene Menschen leben, irgendwelche “Donezker”. Dieser Plan war recht erfolgreich. Aber die “Donezker” sind in Wirklichkeit so, wie auch der Rest der Ukraine. Natürlich gibt es regionale Besonderheiten, die auf die Arbeit der Menschen und die Geschichte der Besiedlung der Region zurückzuführen sind. Aber in dem künstlich geschaffenen dämonischen Bild des “Donbass” fehlt das, was wirklich existent ist, nämlich eine ukrainische, griechische und deutsche Komponente. So ist vielen unbekannt, dass in den Regionen Donezk und Luhansk auf dem Lande Ukrainisch gesprochen wird. Russischsprachig sind die großen Städte Donezk und Luhansk. Die kleinen Städte sind und waren immer ukrainischsprachig. Aber der Mythos des “russischen Donbass” wurde geschaffen und auf ihm basiert die militärische Aggression. Mit ihm arbeiten die Medien. Und die Ukrainer dachten, wenn die Menschen im Donbass eben anders sind, dann braucht man sich auch nicht in einen angeblichen Bruderkrieg hineinziehen zu lassen.

Viele haben Freunde verloren, die, wie Sie einmal gesagt haben, sich für “Russland in der Ukraine” entschieden haben. Wie geht man mit Menschen um, die die Besatzer unterstützen?

Wir müssen verstehen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die systematisch “harte Drogen” konsumieren. Unsere Hauptaufgabe ist deswegen, diese “Drogen” zu beseitigen. Menschen, die mit Propaganda schwer vergiftet wurden, brauchen eine Zeit der Stille. Sehr wichtig wäre, in den besetzten Gebieten die russischen Sendungen abzuschalten. Nur so kann man erreichen, dass es weniger “Infizierte” gibt.

Sie haben die Besetzung der Regionen Donezk und Luhansk mit Besetzungen durch Hitler-Deutschland vergleichen. Sind solche Parallelen richtig?

Ich bin überzeugt, dass Menschen unter Besatzung immer gleich handeln. Es geht gar nicht nur um den Zweiten Weltkrieg, sondern um die Geschichte aller Kriege, wenn ein Staat einen anderen besetzt. Wir können in der Geschichte ähnliche Beispiele finden.

Die Besetzung Österreich durch die Nazis: Es gab eine sprachliche Nähe und eine ähnliche Geschichte. Doch einige Österreicher wurden zu Partisanen, andere zu Denunzianten und freuten sich über Hitler. So war es auch in Frankreich während der Besetzung. Als Charles de Gaulle das Land befreite, musste man entscheiden, was man mit den Kollaborateuren macht. Als er sich das ganze Material anschaute, wurde ihm klar, das man mit ihnen nichts machen kann, da es zu viele von ihnen gab. Der französische Widerstand war nicht so verbreitet wie die Kollaboration. Charles de Gaulle sagte damals: “Frankreich braucht alle seine Kinder.”

Formen von Zusammenarbeit, Verrat, Zustimmung zu Gewalt und das Stockholm-Syndrom gibt es in allen besetzten Gebieten. Das war zu allen Zeiten und in allen Kulturen so. Die Geschichte einer Besetzung ist auch immer die Geschichte einer persönlichen Entscheidung. Man kann nicht ausschließen, dass sie an einem Tag moralisch und richtig, und am nächsten Tag schrecklich erscheint.

Auf der einen Seite haben in der Ukraine leider viele eine stalinistische Sicht auf die Besetzung im Osten des Landes, eine Sicht durch das Prisma der sowjetischen Geschichtsschreibung, wo es nur “Komplizen und Verräter” sowie die Hoffnung auf “heroischen Widerstand” gibt. Und auf der anderen Seite gibt es eine Wahrnehmung, wo alle in den besetzten Gebieten als Opfer betrachtet werden.

Viel wird über die Terminologie debattiert: Okkupanten, Separatisten oder Volksmilizen, Bürgerkrieg oder Besetzung. Wie wichtig ist es, welche Worte wir verwenden?

Es ist von entscheidender Bedeutung. Worte sind wichtig. Einen Bürgerkrieg gibt es im Lande nicht. Denken Sie an die Stadt Slowjansk, den sogenannten “Vorposten der russischen Welt”. Heute gibt es dort Märsche, bei denen die Menschen ukrainische Trachtenhemden tragen. Das bedeutet nicht, dass dort schon alles in Ordnung ist. Aber einen Partisanenkrieg haben wir dort nicht! Wenn es ein Bürgerkrieg wäre, dann wären nach der Befreiung von Slowjansk alle Unzufriedenen mit Waffen in einen Untergrund gegangen. Aber den gibt es nicht. Und in Kramatorsk ist es auch so. Dort gab es einen der größten Trachten-Märsche der befreiten Gebieten. Erst Mariupol! Das ist heute eine der patriotischsten Städte.

Was muss geschehen, damit Sie nach Donezk zurückkehren?

Die Grenze zur Russischen Föderation muss geschlossen und die Militärtechnik abgezogen sein. An der Grenze müssen ukrainische Grenztruppen stehen. Das ist eigentlich alles. Das würde mir reichen. Eine Kalaschnikow wird sofort zu einem Grabstock, wenn sie letzten Patronen verschießt. Ab dann liegt alles in unserer Hand.

Bild von Insider (c)