„Patriotismusfalle“ und Unprofessionalität – Herausforderungen für ukrainische Medien

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Der ukrainische Journalismus erlebt heute große Herausforderungen. Darunter: die „Patriotismusfalle“, die durch den Krieg in der Ostukraine hervorgerufen wurde; Online-Angriffe auf Journalisten in Sozialen Netzen; Abhängigkeit von privaten Besitzern und Geldgebern; Abhängigkeit von Zielgruppen; und Trägheit. Medienexperten besprachen, vor welchen Herausforderungen der derzeitige Journalismus unter den Bedingungen des Informationskriegs steht.

Kiew, 15. September 2016 – Ein Weg zur Lösung des schwierigsten Problems, nämlich die Grenze zwischen Berufsethik und Patriotismus zu finden, kann eine Diskussion über die Berufsumgebung sein. Zu diesem Schluss kamen die Medienvertreter während der Diskussion „Selbstzensur in den ukrainischen Medien: Überwindung von Folgen und Möglichkeiten“ im Ukraine Crisis Media Center.

Oxana Romanjuk, ausführende Direktorin des Instituts für Masseninformationen, merkte an, dass es kaum Druck von außen auf ukrainische Medien gibt: in den vergangenen acht Monaten wurden nur sieben Zensurfälle registriert. Das größte Problem bei der Zensur ist die Beleuchtung der Ereignisse im Osten des Landes, was kürzlich zu einem Skandal zwischen dem Pressezentrum des ATO-Stabs und Journalisten von „Hromadske“ führte.

Nastja Stanko, Journalistin bei „Hromadske“, erklärte, dass das Verteidigungsministerium plant, Journalisten zu verpflichten, alle Reportagen vor einer Veröffentlichung überprüfen zu lassen.

„Es ist eins, wenn ein Offizier vor Ort prüft, was ein Journalist aufgenommen hat, um zu schauen, ob der Standort oder Waffen daraus ersichtlich sind. Aber es ist etwas anderes, wenn irgendwelche Kommentare von Militärs herausgeschnitten werden sollen, weil sie die Führung kritisieren oder dass gewisse Dinge nicht aufgenommen werden dürfen. Dabei handelt es sich um offensichtliche Zensur“, sagte sie.

Die „Patriotismusfalle“

Eine große Herausforderung besteht in der Selbstzensur als „Patriotismusfalle“, die durch die Entscheidung entsteht, ob man den Staat unter den Bedingungen des Kriegs kritisiert oder nicht kritisiert. Damit verbunden ist die Kritik an der Ideologisierung und Radikalisierung der Gesellschaft.

Die Experten führten aus, dass sich die Journalisten dabei in zwei Lager teilen: das eine Lager kritisiert die Armee und die Staatsführung unter den Bedingungen des Kriegs nicht; das andere versucht die größtmögliche Objektivität zu wahren.

„Es ist ein gewisser ideologischer Kampf zwischen jenen, die meinen, dass wir diesen Krieg um jeden Preis für die Unabhängigkeit gewinnen müssen, und jenen, denen es um einen Kampf um ein freies, demokratisches Land geht, wo Rechte und Freiheiten geachtet werden“, erklärte Maxim Butkewytsch.

Der Experte meinte, dass diese Radikalisierung etwas künstlich sei und durch Druck in den Sozialen Netzen entsteht, wodurch sich die Journalisten in die genannten Gruppen teilen.

Einerseits kann dies unter den Bedingungen des Kriegs zur Einschränkung der Arbeit von Medien führen, wie zum Beispiel, dass Journalisten gewisse Informationen nicht veröffentlichen (Waffengattungen; deren Standort und Anzahl; Positionen von Soldaten und von strategischen Militärobjekten), wobei dies auch die Sicherheit des Militärs betrifft. Gleichzeitig muss man nicht Propaganda betreiben und so agieren, wie es Russland in diesem Informationskrieg tut, indem man journalistische Standards aufgibt.

„Die Einstellung „Lasst uns im Namen des Sieges so handeln, wie man uns behandelt“ ist sehr gefährlich“, sagte Maxim Butkewytsch.

„Bot-Angriffe“ in Sozialen Netzen

Eine Ableitung dieses Problems ist die Politarisierung von Journalisten und der enorme Druck auf sie in Sozialen Netzen, einschließlich der offenen Verwendung von Bots [Computerprogramme zur Automatisierung] und Trollen [Störenfriede in Sozialen Netzen]. Journalisten bekommen Drohungen, wenn sie versuchen, Fake-Nachrichten [bewusste Falschmeldungen] zu wiederlegen, was sich aber laufend wiederholt. Aus diesem Grund bleibt viel Zeit für die eigentliche berufliche Tätigkeit auf der Strecke.

Finanzielle Abhängigkeit

Die im breiten Kontext verstandene Selbstzensur ukrainischer Medien rührt oftmals daher, dass Journalisten von der einen oder anderen Person, seien es von Besitzern oder Geldgebern, abhängig sind. Sie werden wohl kaum jene kritisieren oder gegen die Personen vorgehen, die sie finanzieren.

Diese Tendenz zeigt sich vor allem in Wahlkampfzeiten. Medien bekommen dann für die Veröffentlichung von Artikeln zugunsten der einen oder anderen Partei Geld und kritisieren deshalb deren Aktionen während des Wahlkampfs nicht, beziehungsweise thematisieren nicht, wenn sie Wahlversprechen nicht erfüllen.

Unprofessionalität

Ein weiteres Problem ist die Trägheit und Nichtprofessionalität. Nur zirka 40 Prozent der Medien berichten mehr oder weniger ausgewogen (führen Analysen durch und zeigen verschiedene Standpunkte). Die restlichen 60 Prozent drucken nur „aktiv“ das, was ihnen als vorgefertigte Pressemeldungen (Artikel) geschickt wird. Sie recherchieren erst gar nicht nach anderen Standpunkten und nach der Wahrheit, womit sie faktisch ihre journalistische Funktion verletzen. Dass dies über die Hälfte der Medien betrifft, weist auf die komplizierte Situation bei einem der kritischsten Problemen hin, betonte Oxana Romanjuk.

Die Jagt nach Ratings

Ein weiteres Problem ist die Jagt nach Ratings und nach Aufmerksamkeit beim Publikum, was oftmals einem „Abdriften in die Yellow-Press“ gleicht.

„Es ist eine Sache, wenn reißerische Titel um ein vielfaches schlechter sind, als wenn sie das mit für die Gesellschaft wichtigen Themen machen, denn das hat tragische Konsequenzen für die Menschen“, erklärte Maxim Butkewytsch.

Oxana Romanjuk merkte an, dass reißerische Überschriften absolut zulässig sind, wenn der Artikeltext dann auch allen journalistischen Standards entspricht.

Dialog als Mechanismus, um Selbstzensur zu überwinden

Nach Meinung der Diskussionsteilnehmer ist eine Diskussion innerhalb der Berufsumgebung, insbesondere über das, was die Ereignisse im Osten betrifft, notwendig, um die Spannungen zu lockern und eine Grenze zwischen Selbstzensur und Berufsethik zu finden.

„Es ist wichtig, dass es diese berufliche Diskussion gibt, denn was mit uns passiert, passiert zum ersten Mal. Man darf nicht darüber klagen, dass Fehler vorkommen, sondern muss sie anerkennen“, meinte Natalija Sokolenko, Journalistin beim „Öffentlichen Rundfunk“.

„Unser größter Vorteil ist, dass wir uns, im Gegensatz zu Russland, eine öffentliche Diskussion über verschiedene Standpunkte erlauben können. Wir besprechen alles sehr lebhaft. Bei uns darf man kritisieren, und das ist ein enormer Vorteil. Wenn wir das aufgeben, verlieren wir eine unserer wesentlichen Waffen“, betonte Maxim Butkewytsch.