Religion und Politik: Was man über den neuen Kirchenstreit zwischen Kiew und Moskau wissen muss

In dieser Woche hat sich der ukrainische Präsident Petro Poroschenko an den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. mit der Bitte gewandt, der Orthodoxen Kirche in der Ukraine Autokephalie (Eigenständigkeit) zu gewähren. Zuvor hatten bereits alle Bischöfe von zwei ukrainischen orthodoxen Kirchen ein entsprechendes Ersuchen an den Patriarchen von Konstantinopel unterzeichnet. Am 19. April stimmte dann das ukrainische Parlament für die Unterstützung der Initiative des Präsidenten. Wenn der Patriarch der Bitte nachkommt, kann in der Ukraine eine ukrainische Ortskirche gebildet werden. Dies wird bereits seit der Unabhängigkeit des Landes, also schon ein Vierteljahrhundert lang angestrebt. Was das für die Ukraine bedeutet, warum diese Frage einen politischen Kontext hat und was zu erwarten ist, erläutert das Ukraine Crisis Media Center:

Was ist eine Ortskirche und warum braucht die Ukraine eine? Eine Ortskirche ist die Kirche aller orthodoxen Gläubigen eines Landes. Sie wird nach dem Territorialprinzip gebildet und ist auf dem Gebiet eines Staates unabhängig und selbstverwaltend. Das Gebiet der Kirche stimmt normalerweise mit den Staatsgrenzen überein. Ukrainische Politiker begründen die Notwendigkeit zur Schaffung einer Ortskirche mit dem Wunsch der orthodoxen Christen in der Ukraine nach Einheit. Natürlich gibt es dabei auch eine politische Komponente. Ungeachtet der in der Verfassung verankerten Trennung von Staat und Kirche spielt die Kirche in der Ukraine auch eine politische Rolle. Dies zeigte sich deutlich bei den Präsidentschaftswahlen 2004, als sich die Priester der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats massiv für den Kandidaten Wiktor Janukowytsch einsetzten, während die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche und die Ukrainische griechisch-katholische Kirche den damaligen orangefarbenen Maidan und den Kandidaten Wiktor Juschtschenko unterstützten. Heute, da Russland gegen die Ukraine einen Krieg führt, soll die Schaffung einer Ortskirche den Einfluss Russlands auf die Ukraine schwächen.

Russlands Präsident Wladimir Putin und Metropolit Onufrij

Seit wann läuft die Debatte über eine Ortskirche in der Ukraine? Die Frage einer Ortskirche wird seit den 1990er Jahren diskutiert. Ein großer Teil der Kirchenvertreter, Politiker und Religionswissenschaftler ist überzeugt, dass der Weg zu einer Ortskirche in der Ukraine über das Patriarchat von Konstantinopel (Istanbul) führt, dem die ukrainische Kirche formell bis zum Jahr 1686 untergeordnet war. Damals stimmte der Patriarch von Konstantinopel Dionysius einer Angliederung der Kiewer Metropolie an das Patriarchat von Moskau zu. Doch diese Entscheidung wurde nach Ansicht von Historikern und Religions-Experten unter Missachtung kirchlicher kanonischer Bestimmungen getroffen. Daher lud im Jahr 2008 der damalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko den Patriarchen Bartholomäus I. von Konstantinopel nach Kiew ein. Juschtschenko stellte die Frage der Autokephalie für die orthodoxe Kirche in der Ukraine auf die Tagesordnung. Während seines Besuches versprach der Patriarch nichts Konkretes, da er sich bemühte, sein Verhältnis zur Russischen Orthodoxen Kirche (Patriarchat Moskau) – der heute größten und mächtigsten orthodoxen Kirche – nicht zu belasten. Später, in den Jahren 2015 und 2016, reisten die ukrainischen Ex-Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Leonid Krawtschuk mehrmals zum Patriarchen nach Istanbul. Und im Jahr 2016 richtete schließlich das ukrainische Parlament eine Erklärung an den Patriarchen Bartholomäus I. mit der Bitte, den Kirchenakt aus dem Jahr 1686 für ungültig zu erklären und der Orthodoxen Kirche in der Ukraine die Autokephalie zu verleihen.

Die Ex-Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Leonid Krawtschuk beim Patriarchen Bartholomäus

Warum ist die Kirchenfrage so wichtig? Die Ukraine ist ein Land mit einer langen sowjetischen Vergangenheit, wo Religion als “Opium für das Volk” bezeichnet wurde. Die Kirche wurde vom kommunistischen Regime stark verfolgt und bekämpft. Erst nach ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 erhielt die Ukraine Religionsfreiheit. Soziologische Erhebungen der letzten Jahre belegen: Gerade der Kirche als einer gesellschaftlicher Institution vertrauen die Ukrainer am meisten. Laut einer Umfrage des Kiewer Rasumkow-Forschungszentrums aus dem Jahr 2017 vertrauen 66,7 Prozent Freiwilligenorganisationen, 64,4 Prozent – der Kirche, 57,3 Prozent – der Armee, 24,8 Prozent – dem Präsidenten, 19,8 Prozent – der Regierung und 13,8 Prozent – dem Parlament. Die Kirche genießt also bei den Bürgern sehr hohes Ansehen. Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer (61,7 Prozent) bezeichnet sich selbst als gläubig, 4 Prozent als nicht gläubig, 2,5 Prozent als Atheisten und 8,2 Prozent stehen Religionen gleichgültig gegenüber.

Welche Kirchen gibt es in der Ukraine? Die Ukraine ist ein multikonfessionelles Land, in dem Christentum, Islam und Judentum nebeneinander existieren. Aber am weitesten verbreitet ist das orthodoxe Christentum. Gleichzeitig gibt es in der Ukraine sechs verschiedene christliche Kirchen: die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (26,5 Prozent der Gläubigen sind mit dieser Kirche verbunden), die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (12 Prozent ), die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (1,1 Prozent) und die Ukrainische griechisch-katholische Kirche (7,8 Prozent), sowie die Römisch-katholische Kirche (1,1 Prozent) und mehrere protestantische Kirchen. Viele Ukrainer (24 Prozent) bezeichnen sich als orthodox, sind aber mit keiner bestimmten orthodoxen Kirche verbunden. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, der Metropolit Onufrij vorsteht, gilt als autonom. Sie unterhält aber enge organisatorische und administrative, kanonische und ideologische Verbindungen zur Russischen Orthodoxen Kirche. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats unter Leitung von Patriarch Filaret entstand 1992, als ein Teils des Klerus, der sich für die Unabhängigkeit von der Russischen Orthodoxen Kirche aussprach, das Moskauer Patriarchat verließ. Zurzeit ist in der Ukraine nur die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats als kanonisch anerkannt, während das Kiewer Patriarchat und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche von den anderen kanonischen orthodoxen Kirchen in der Welt nicht anerkannt werden. Die Koexistenz der drei orthodoxen Kirchen war nie frei von Konflikten. Es herrschte immer Konkurrenz um Gläubige, um die Unterstützung seitens der Staatsmacht sowie um finanzielle Ressourcen. Außerdem hat diese Konfrontation eine sehr wichtige politische Dimension.

Moskaus Patriarch Kirill mit Präsident Wladimir Putin

Religion und Politik. Die Frage des Einflusses der Kirche auf die politischen Prozesse nahm im Jahr 2014 nach Beginn der bewaffneten Aggression Russlands gegen die Ukraine an Bedeutung zu. Die meisten ukrainischen Politiker möchten den Einfluss der Russischen Orthodoxen Kirche auf die Gläubigen in der Ukraine neutralisieren. “In Moskau macht niemand einen Hehl daraus, dass die Religions- und Kirchenfront in diesem hybriden Krieg sehr wichtig ist. Patriarch Kirill sagte, er werde niemals die Kontrolle Moskaus über die Ukraine aufgeben. Er sagte, die Grenzen der russischen Kirche seien unantastbar. (…) Die Kirche ist ein Verbreitungsweg und in einigen Gemeinden ist Kreml-Agitation zu hören”, sagte der ukrainische Religions-Experte Wolodymyr Jelenskyj. Deshalb ist in den letzten Jahren das Vertrauen der ukrainischen Gläubigen in das Moskauer Patriarchat und in den Patriarchen Kirill deutlich gesunken – von 44 Prozent im Jahr 2010 auf 14,8 Prozent im Jahr 2017.

Die Reaktion der orthodoxen Kirchen der Ukraine. Zwei der drei orthodoxen Kirchen in der Ukraine unterstützen die Schaffung einer Ortskirche. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche verhandeln schon länger über eine Vereinigung. Aber ein möglicher Tomos (Erlass) des Patriarchats von Konstantinopel über die Autokephalie der Kirche in der Ukraine – auf Bitten der beiden Kirchen – könnte de facto die Frage ihres kanonischen Status lösen. Das Moskauer Patriarchat steht einer Autokephalie der Kirche in der Ukraine ablehnend gegenüber. Der Vorsteher der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, Metropolit Onufrij, hat das Autokephalie-Ersuchen an den Patriarchen Bartholomäus I. nicht unterzeichnet. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats betrachtet sich als die einzige kanonische orthodoxe Kirche in der Ukraine und besteht darauf, dass die anderen sich ihr anschließen müssen. Das Moskauer Patriarchat setzt ihren kanonischen Status als wichtigsten Trumpf bei diesen Verhandlungen ein.

Metropolit Onufrij und Präsident Petro Poroschenko

Wer kritisiert Poroschenkos Initiative? Neben dem Moskauer Patriarchat lehnt auch der Oppositionsblock (ehemals “Partei der Regionen”) die Schaffung einer Ortskirche in der Ukraine ab. Die Hauptargumente sind: Die Initiative des Präsidenten stelle eine Einmischung des Staates in kirchliche Angelegenheiten dar; das Hauptmotiv des Präsidenten sei PR im Vorfeld der Wahlen im kommenden Jahr; eine Vereinigung der Kirchen sei unrealistisch. “Die Kirche muss selbst eine Entscheidung treffen und die Gläubigen müssen selbst entscheiden, in welche Kirche sie gehen”, sagte der Fraktionsvorsitzende Jurij Bojko der BBC.

Jurij Bojko, Fraktionsführer des Oppositionsblocks

Ist die Schaffung einer Ortskirche realistisch? In den 26 Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine ist es noch keinem Präsidenten gelungen, die Orthodoxie in der Ukraine zu vereinen. Grund dafür ist die ständige Ablehnung seitens des Moskauer Patriarchats. Petro Poroschenko äußerte nun die Hoffnung, dass die Entscheidung des Patriarchen von Konstantinopel, der Kirche in der Ukraine Autokephalie zu gewähren, noch vor dem 1030. Jahrestag der Taufe der Kiewer Rus fällt – also noch vor dem 28. Juli 2018. Viele Beobachter meinen, dass die Chancen dafür gut stehen. Poroschenkos entschlossenes Vorgehen könnte ein Hinweis dafür sein, dass es gewisse Vereinbarungen gibt. Möglicherweise hat der ukrainische Präsident bei seinem jüngsten Besuch beim Patriarchen Bartholomäus I. Anfang April “ein bestimmtes Signal” bekommen. “Wenn der Präsident eine solche Erklärung abgibt, dann gab es offensichtlich diplomatische und kirchliche Verhandlungen und die Seiten haben einen gewissen Erfolg erzielt”, sagte Mykola Knjaschyzkyj, Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Religion im ukrainischen Parlament. Die gegenwärtige Verschärfung der Situation um Russland und Russlands gewisse Isolierung in der Welt könnte den Patriarchen Bartholomäus I. dazu bewegt haben, in der Frage der Schaffung einer Ortskirche in der Ukraine Fortschritte zu erzielen. Ob dies letztlich Wirklichkeit wird und wie das Moskauer Patriarchat darauf reagieren wird, wird die Zeit zeigen.