Kurz vor dem Finale: Für wen die Ukrainer stimmen wollen

Aktuelle Umfragen zeigen ein klares Bild. Doch wer sind die Wähler, die sich einerseits für den Präsidentschaftskandidaten Wolodymyr Selenskyj und andererseits für den Amtsinhaber Petro Poroschenko entscheiden? Wie viel Macht hätte ein Präsident Selenskyj bis zu den Parlamentswahlen im Herbst und eventuell danach? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Am 11. April wurden die ersten Umfragen nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen veröffentlicht. Demnach wollen in der Stichwahl am 21. April 61 Prozent der Ukrainer, die an der Wahl teilnehmen wollen, für den Showman Wolodymyr Selenskyj stimmen. Für den jetzigen Staatschef Petro Poroschenko wollen 24 Prozent votieren. 15 Prozent der Befragten sind noch unentschieden.

Dank der Nachwahlbefragungen der ukrainischen Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” am Tag der ersten Wahlrunde, am 31. März, sind interessante Angaben zu den Wählern von beiden Finalisten zusammengekommen.

Wer sind Selenskyjs Wähler? Wolodymyr Selenskyj stützt sich vor allem auf Wähler im Süden und Zentrum des Landes. 35,3 Prozent aller Stimmen, die für ihn abgegeben wurden, kamen aus den südlichen und 34 Prozent aus den zentralen Regionen des Landes. 18,5 Prozent der Stimmen kamen aus den westlichen Regionen. Mit 12,1 Prozent haben die Stimmen aus dem Osten des Landes den geringsten Anteil an allen Stimmen, die Selenskyj in der ersten Wahlrunde bekam.

Über 29 Prozent von Selenskyjs Wählern leben auf dem Lande und 22,3 Prozent in Städten mit über 50.000 Einwohnern. Mehr als die Hälfte seiner Wähler lebt also in der Provinz. Rund 45 Prozent von Selenskyjs Anhängern leben in Großstädten mit über 50.000 Einwohnern.

55,5 Prozent der Wähler sind Frauen und 44,5 Prozent sind Männer.

24,6 Prozent von Selenskyjs Wählern sind 18 bis 29 Jahre alt, 28 Prozent sind 30 bis 39 Jahre alt und 21 Prozent sind 40 bis 49 Jahre alt. 14,5 Prozent seiner Wähler kommen aus der Altersgruppe zwischen 50 und 59. 11,8 Prozent sind über 60 Jahre alt.

Selenskyjs Anhänger sind überwiegend gebildete Menschen: 32,5 Prozent verfügen über eine mittlere Berufsausbildung und 46,2 Prozent haben eine unvollständige beziehungsweise abgeschlossene Hochschulausbildung. 17 Prozent verfügen lediglich über einen Schulabschluss.

Wer sind Poroschenkos Wähler? Was die Anhänger des jetzigen Präsidenten Petro Poroschenko angeht, zeigt sich ein anderes geographisches Bild. 37 Prozent seiner Wähler leben im Westen des Landes und 40 Prozent in den zentralen Regionen. 16,5 Prozent leben im Süden und nur 6,4 Prozent im Osten.

Poroschenkos Anhänger leben vor allem in den regionalen und großen Städten des Landes – fast 47 Prozent. 33,2 Prozent seiner Wähler leben auf dem Lande und 20 Prozent in kleinen Städten.

Unter Poroschenkos Anhängern gibt es etwas mehr Männer als unter Selensykjs Anhängern. Bei Poroschenkos sind es 47,1 und bei Selenskyj 44,5 Prozent. Was die weiblichen Anhänger angeht, sind es bei Poroschenko 52,9 Prozent und bei Selenskyj 55,5 Prozent.

Je älter die Wähler, desto mehr von ihnen unterstützen Poroschenko. Von seinen Wählern gehören nur 10,8 Prozent zur Altersgruppe 18 bis 29, 18,3 Prozent zur Altersgruppe 30 bis 39, 19,1 Prozent zur Altersgruppe 40 bis 49 und 21,9 Prozent zur Altersgruppe 50 bis 59. Den größten Anteil haben mit 29,9 Prozent die Anhänger, die über 60 Jahre sind.

Unter Poroschenkos Wählern ist die Anzahl der Menschen mit höherer Bildung größer als bei Selenskyj. 52 Prozent verfügen oder absolvieren einen Hochschulabschluss. Weitere 30 Prozent haben eine mittlere Berufsausbildung.

Noch einmal: Wer ist Herr Selenskyj?

Das Ukraine Crisis Media Center hat bereits viel über die Besonderheiten von Selenskyjs Präsidentschaftskandidatur geschrieben, die ihm einen beispiellosen Wahlerfolg beschert haben. Er wird zunehmend als virtueller Kandidat aus dem Fernsehen bezeichnet. Auch vor der Stichwahl führt Selenskyj weiterhin mit Hilfe von Videoclips einen Monolog mit den Wählern. Der erwartete Dialog mit der Gesellschaft ist ausgeblieben.

“Wolodymyr Selenskyj will seine Anhänger nicht dabei stören, wie sie sich ihn selbst für sich ausmalen. Heute stimmen Menschen für ihn, die ganz verschiedene Ansichten über die Zukunft haben”, schreibt der Journalist Pawlo Kasarin für die Internetzeitung “Ukrajinska Prawda”. Er zitiert auch eine Studie des Rasumkow-Forschungszentrums, aus der hervorgeht, dass die Integration der Wählerschaft von Selenskyj auf dem Prinzip der Inklusion verschiedener politischer Plattformen und Erwartungen basiert.

So wollen 56 Prozent der Anhänger von Selenskyj einen NATO-Beitritt der Ukraine und 35 Prozent sind für Blockfreiheit. 55 Prozent wollen weg von Russland und 32 Prozent wollen die Beziehungen zu Russland wiederherstellen. 52 Prozent wünschen sich eine Förderung der ukrainischen Sprache und 41 Prozent wollen gleiche Bedingungen für alle Sprachen. 47 Prozent wollen Marktwirtschaft und 41 Prozent staatliche Kontrolle.

Doch was bringt Menschen mit so unterschiedlichen Ansichten dazu, für Selenskyj zu stimmen? Die Antwort ist einfach: “Der Kandidat Wolodymyr Selenskyj hat vom ersten Tag seines Wahlkampfes an versucht, keine eigene Zielgruppe zu suchen. Inklusion statt Exklusion. Statt Antworten zu geben, versucht sein Wahlstab sie zu vermeiden, um dann die Ernte bei den Wählern im ganzen Land zu sammeln”, schreibt Kasarin. Denn der Kandidat, für den die Leute in der ersten Wahlrunde gestimmt haben, ist dem Journalisten zufolge weiterhin “sphärisch in einem Vakuum”. Alle seine Schritte würden – sollte er gewählt werden – seine eigenen Wähler zu Frustration verurteilen. “Weil die Erwartungen zu unterschiedlich sind”, so Kasarin.

Welche Machtinstrumente hätte ein Präsident Selenskyj?

Wolodymyr Selenskyj verspricht im Falle eines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen Veränderungen in nahezu allen Lebensbereichen. Doch laut Verfassung hat der Präsident gar nicht so viele Machtinstrumente, vor allem dann, wenn er über keine eigene Mehrheit und Fraktion im Parlament verfügt. Ähnlich war es in den letzten Amtsjahren von Präsident Viktor Juschtschenko, der nur begrenzt Einfluss auf die Entwicklung im Lande hatte, da er nur einen Teil seiner Fraktion im Parlament unter Kontrolle hatte. Damals regierte in vielerlei Hinsicht das Land Premierministerin Julia Tymoschenko, die ständig mit dem Präsidenten in einem Konflikt stand.

Ist ein Regierungswechsel möglich? Um die Regierung oder einzelne Minister zu ändern, würde ein neuer Präsident die Stimmen von mindestens 226 Abgeordneten benötigen. Derzeit hat Selenskyj im Parlament keine eigene Fraktion, nicht einmal eine Gruppe. Aber im Falle eines Wahlsieges könnte Selenskyj versuchen, eine Gruppe von Anhängern im Parlament aufzubauen.

Die Amtseinführung des neuen Präsidenten findet spätestens am 3. Juni statt. Parlamentswahlen wird es erst im Oktober geben. Dann würde Selenskyj die Möglichkeit haben, eine Fraktion im Parlament aufzubauen und über sie Einfluss im Parlament zu nehmen. Bis dahin wird ein neuer Präsident, um Einfluss auf die Regierung zu haben, sich entweder mit dem jetzigen Premierminister einigen müssen, oder versuchen müssen, im Parlament 226 Stimmen für eine neue Regierung zusammen zu bekommen.

Militärbereich. Der einzige Bereich, in dem ein neu gewählter Präsident auch ohne parlamentarische Unterstützung bedeutende Einflussmöglichkeiten haben wird, ist das Militär. Der Präsident ist Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und für alle seine Bereiche direkt verantwortlich. Der Präsident ernennt den Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und dessen Stellvertreter. Er bestimmt die Zusammensetzung des Rates, mit Ausnahme einiger Mitglieder, die aufgrund ihres Amtes dem Rat angehören. Ein neuer Präsident könnte also schon am Tag seiner Amtseinführung Oleksander Turtschynow vom Posten des Sekretärs des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates entlassen.

Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ernennt und entlässt der Präsident deren höheres Kommando. Daher kann ein neuer Präsident, wenn er das will, den Generalstabschef Viktor Muschenko schnell gegen jemand anderen austauschen. Doch den Verteidigungsminister, Stepan Poltorak, wird ein neuer Präsident nicht so einfach entlassen können. Das kann nur das Parlament, das auch einen neuen auf Vorschlag des Präsidenten bestimmt.

Daher wird im Falle eines Sieges bei den Präsidentschaftswahlen Selenskyj vor der großen Aufgabe stehen, eine Parlamentsmehrheit zu suchen oder mit dem jetzigen Premierminister Wolodymyr Hroisman zu verhandeln. Andernfalls wird bis zu den Parlamentswahlen der Einfluss des neuen Präsidenten sehr begrenzt bleiben und sich hauptsächlich auf den Militärbereich beschränken.