Nimmt in der Ukraine Antisemitismus wirklich zu? Oder was stimmt mit der Studie der Anti-Defamation League nicht?

Am 21. November hat die Anti-Defamation League (ADL) eine Studie zu Antisemitismus in 18 Ländern vorgestellt, einschließlich der Ukraine. Laut der Umfrage hat einer von vier Befragten eine starke antisemitische Haltung. In Osteuropa habe sich diese Haltung im Vergleich zur früheren ADL Global 100-Umfrage noch verstärkt. So seien in der Ukraine 72 Prozent der Befragten der Meinung, dass “Juden in der Geschäftswelt zu viel Macht haben”. Insgesamt ist die Ukraine in diesem Index mit 46 Prozent an zweiter Stelle, nach Polen mit 48 Prozent. Auf dem dritten Platz liegt Ungarn mit 42 Prozent. Diese Umfragedaten erschienen dem Ukraine Crisis Media Center (UCMC) nicht überzeugend genug, vor allem weil im Frühjahr 2019 73 Prozent der Ukrainer bei den Wahlen für einen Präsidenten gestimmt haben, der Jude ist. Das UCMC lud daher Antisemitismus-Experten und Menschenrechtler ein, um die Methode der ADL-Studie zu bewerten. Einzelheiten vom UCMC:

Während der Diskussion im UCMC wurden Menschenrechtler und Soziologen gefragt: Gibt es einen Grund zur Annahme, dass Antisemitismus in der Ukraine zunimmt? Die Teilnehmer verwiesen sofort auf andere Studien, zum Beispiel auf eine des “Kongresses ethnischer Gemeinschaften der Ukraine” aus dem Jahr 2019. Sie zeigt, dass Verbrechen, die auf Antisemitismus zurückgehen, im Jahr 2018 rückläufig waren. Auch der Vandalismus sei um 50 Prozent zurückgegangen und Übergriffe habe es gar keine gegeben.

Eine 2018 veröffentlichte Studie des Pew Research Center (USA) ergab, dass die Ukrainer unter allen Ländern gegenüber Juden am freundlichsten eingestellt sind. Nur fünf Prozent der Ukrainer wollen keine Juden als Mitbürger. Das ist der niedrigste Wert in allen Ländern Ost- und Mitteleuropas.

Was stimmt mit der Methode der ADL nicht?

Veraltet und ungenau.“Wir haben die Anti-Defamation League wiederholt dafür kritisiert, dass sie eine veraltete Methode anwendet. Wenn ich deren Fragen beantworten würde, wäre ich auch ein Antisemit”, sagte Josef Zissels, Dissident, Menschenrechtsaktivist, Kopräsident des “Verbandes der jüdischen Organisationen und Gemeinschaften der Ukraine” und Vizepräsident des “Kongresses der ethnischen Gemeinschaften der Ukraine”. Er fügte hinzu: “Erstens sind die Fragen so formuliert, dass bejahende Antworten nicht unbedingt auf eine negative Haltung gegenüber Juden hindeuten. Zweitens wird für alle Länder dieselbe Methode angewendet, die nicht an die lokalen Besonderheiten der Wahrnehmung dieser Fragen durch die Befragten angepasst ist.”

Mychajlo Mischtschenko, stellvertretender Direktor des Soziologischen Dienstes des Kiewer Rasumkow-Forschungszentrums, sagte während der Diskussion: “Von den elf in der Studie vorgelegten Urteilen, sind sieben fraglich, inwieweit sie Indikatoren für Antisemitismus sein und als negatives Merkmal von Juden wahrgenommen werden können. Nach dieser Methode wird eine Person, die mit sechs dieser Urteile einverstanden ist, als Antisemit eingestuft. Ein großer Teil der in der Studie vorgelegten Urteile bezieht sich auf menschliche Mängel, wie zum Beispiel ‘Juden machen sich keine Sorgen über die Probleme derer, die nicht zu ihrer Gemeinschaft gehören’. Wenn ein Befragter danach gefragt wird, ob er einer solchen Aussage zustimmt, findet er sich in einer unklaren Situation wieder. Einerseits denken Vertreter aller Ethnien eher über die Probleme ihrer Gemeinschaft nach als über die Probleme anderer. Andererseits denkt der Befragte: Warum wird er in diesem Fall über Juden befragt? Wenn wir die Einstellung zu solchen stereotypen Urteilen messen, messen wir nicht so sehr die Position des Befragten, sondern vielmehr seine Vorstellung davon, was man in einer solchen Situation sagen darf und was man nicht sagen darf. Wenn man die Feststellung nimmt, der man in der Ukraine am meisten zustimmt, nämlich ‘Juden haben großen Einfluss in der Geschäftswelt’, dann hätten die meisten Befragten wahrscheinlich auch der Feststellung zugestimmt, dass ‘einige Ukrainer großen Einfluss in der Geschäftswelt haben’. Wenn es in der Ukraine Xenophobie gibt, dann erster Linie gegenüber den Oligarchen. Unsere Umfragen zeigen immer wieder, dass Menschen, die großen Einfluss in der Geschäftswelt haben, zu denjenigen zählen, denen die Ukrainer am negativsten gegenüberstehen, und hier hat deren ethnische Zugehörigkeit keine wesentliche Bedeutung.”

Daten ukrainischer Soziologen widersprechen den Ergebnissen der Studie.Wolodymyr Paniotto, Leiter des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) sagte im UCMC: “Was seit 1994 nach der angepassten Bogardus-Skala in der Ukraine untersucht wird, bezieht sich mehr auf die emotionalen Komponenten der Einstellungen gegenüber Juden. Beispielsweise, ob man sie als Familienmitglieder, Nachbarn und Arbeitskollegen haben möchte. Unser Institut führt alle zwei Jahre diese Studie durch. In den letzten zehn Jahren war die Situation stabil. Die Juden kommen im Durchschnitt auf den fünften Platz. Dies entspricht in etwa der Haltung gegenüber Russen, Krimtataren und Amerikanern. Die Haltung gegenüber ukrainischen Juden ist besser als die gegenüber israelischen Juden. Aber im Fall der Roma gibt es wirklich das Problem einer negativen Einstellung.”

Fehler der Methode.Wolodymyr Paniotto betonte, dass der zur Diskussion stehende Index eine große Fehlerquote habe: “Bei einer Stichprobe von 500 Befragten beträgt die Fehlerquote unter Berücksichtigung des Design-Effekts ungefähr sieben Prozent. Darüber hinaus gibt es weniger Befragungs-Punkte als bei einer standardmäßigen soziologischen Erhebung. Der Index ist instabil. Zum Beispiel kam Frankreich 2014 in dem Index auf 37 Prozent, 2015 waren es 17. Innerhalb eines Jahres konnte sich die Situation nicht so stark verändern. 2014 kam die Ukraine laut ADL-Index auf 38 Prozent, im Jahr 2015 auf 31 und im Jahr 2019 auf 46. Im Jahr 2019 lag die Ukraine nach Polen an zweiter Stelle, da aus mehreren Ländern, in denen laut früheren Studien ein höherer Index vorlag – nämlich Griechenland, Bulgarien, Serbien, Belarus und Rumänien – keine Umfragen vorlagen. Soziologen haben festgestellt, dass der kognitive Aspekt (die Überzeugungen der Menschen), die sie in sozialen Erhebungen angeben, nicht immer mit dem Verhaltensaspekt korreliert, also wie sie sich im wirklichen Leben verhalten. Die Daten für 2018 zeigen, dass 36 Prozent der Ukrainer theoretisch bereit waren, für einen Juden als Präsidentschaftskandidaten zu stimmen. 73 Prozent haben dies bei der letzten Wahl 2019 tatsächlich getan”

Wie sieht es mit antisemitischen Vorfällen in der Ukraine aus?

In den letzten drei Jahren gab es keine physischen Übergriffe und die geringste Anzahl von Vandalismus-Fällen in den letzten Jahrzehnten. “In den letzten drei Jahren gab es in der Ukraine keinen einzigen antisemitischen physischen Übergriff. Zum Vergleich: In Westeuropa – Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten – werden Dutzende solcher Übergriffe pro Jahr registriert. Im Jahr 2017 gab es in der Ukraine 24 Fälle von Vandalismus aufgrund von Antisemitismus und 2018 12 Fälle. Die Beschmierung des Denkmals für Scholem Alejchem in Kiew ist der elfte Fall im Jahr 2019 für die gesamte Ukraine. Das ist der niedrigste Wert in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten. Das gleiche gilt für Hassreden”, sagte im UCMC Josef Zissels und fügte hinzu: “Übrigens hat sich nach dem Maidan die Haltung gegenüber Juden und Krimtataren deutlich verbessert, weil sie auf dem Maidan aktiv waren und mit an die Front gingen. Die Juden haben gezeigt, dass sie sich mit dem ukrainischen Staat, seiner Zukunft und den bestehenden Herausforderungen identifizieren, und bereit sind, ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Das spiegelt sich in der Haltung gegenüber ihnen wider, was auch aus den Studien des KIIS hervorgeht.”

Wjatscheslaw Lichatschow, Aktivist und Experte des Menschenrechtszentrums “Zmina”, stimmt dem zu: “Die höchste Anzahl antisemitischer Verbrechen und Fälle von Vandalismus gab es in der Ukraine in den Jahren 2006 bis 2008. In den letzten zehn Jahren sehen wir einen Abwärtstrend, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen osteuropäischen Ländern, zum Beispiel in Polen, das in der ADL-Studie ebenfalls hohe Antisemitismus-Werte erhalten hat, anders als in Westeuropa, wo laut der ADL-Studie der Grad des Antisemitismus geringer ist. Es kann festgestellt werden, dass diese Studie keine Erhebung zum Ausmaß des Antisemitismus ist, da sie nicht das widerspiegelt, was wirklich in der Gesellschaft geschieht. Die Ukraine als ein Land mit starken antisemitischen Stimmungen wahrzunehmen, ist eine rückständige Sichtweise, die absolut nicht der Wirklichkeit entspricht. Die Ukraine ist das Land mit den geringsten Fällen von Antisemitismus in Europa und der Welt.”