Nach 709 Tagen Gefängnis ist am 25. Mai Nadija Sawtschenko nach Hause zurückgekehrt. Im Kiewer Flughafen hat sie sich in einer emotionalen Rede an die Journalisten gewandt. Später fand eine gemeinsame Pressekonferenz mit Präsident Petro Poroschenko statt. Was bedeutet dieses in der Ukraine so lang erwartete Ereignis? Zu welchen Veränderungen kann es in der Ukraine, in Russland und in der internationalen Arena führen? Eine Analyse des Ukraine Crisis Media Center.
Austausch oder Begnadigung?
De jure sind die Freilassungen von Nadija Sawtschenko, Jewgenij Jerofejew und Aleksandr Aleksandrow kein “Austausch”. Rechtlich gesehen handelt es sich um eine symmetrische und gleichzeitige “Begnadigung”: Sawtschenko wurde von einem russischen Gericht zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Der russische Präsident Wladimir Putin begnadete sie angeblich auf Wunsch der Angehörigen der getöteten Journalisten, für deren Tod Sawtschenko verantwortlich gemacht wurde. Aleksandrow und Jerofejew, die von einem ukrainischen Gericht zu 14 Jahren Haft verurteilt wurden, hatten den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko um Begnadigung gebeten.
Aber de facto handelt es sich um einen Austausch. Iryna Heraschtschenko, die Bevollmächtigte des ukrainischen Präsidenten zur friedlichen Regelung des Konflikts im Donbass, schilderte den Verlauf der Operationen am 25. Mai: “Um 6.30 Uhr Fahrt zum Flughafen. Schon um 8.00 Uhr im Flugzeug. Die Präsidentenmaschine fliegt ab, um Nadija zu holen. Rostow. Wir dürfen das Flugzeug nicht verlassen. Die Operationen leitet im Auftrag des Präsidenten der Chef des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU). Gemäß den Vereinbarungen muss Nadija im gleichen Moment ins Flugzeug steigen, in dem ein in Kiew gelandetes russisches Flugzeug die beiden Angehörigen der russischen Hauptverwaltung für Aufklärung (GRU) an Bord nimmt.” Sawtschenko und die beiden GRU-Mitarbeiter wurden zur gleichen Zeit freigelassen, auf die Minute genau. Die Operation sah wie ein Austausch aus. Doch rechtlich handelte es sich um zwei unabhängige Verfahren.
Fortschritte bei den Minsker Vereinbarungen oder Zugeständnisse Russlands im Vorfeld neuer Gespräche über Sanktionen?
Die französische Führung betont, dass Sawtschenkos Freilassung ein Signal dafür ist, das die Minsker Vereinbarungen schnellstmöglich umgesetzt werden müssen. “Gemäß den Vereinbarungen, die bei Telefongesprächen am 23. Mai im Normandie-Format getroffen wurden, sollte Sawtschenko in die Ukraine zurückzukehren”, teilte der Pressedienst des französischen Präsidenten mit. Dies sei ein wichtiger Schritt bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. Der französische Präsident Francois Hollande sowie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel würden weiter daran arbeiten.
Dass die Minsker Vereinbarungen wichtig sind, betonte auch Nadija Sawtschenko während der Pressekonferenz im Präsidialamt am 25. Mai. “Gut, dass es die Minsker Vereinbarungen gibt. Gut, dass man sie umsetzen wird. Wir werden alles tun, damit sie umgesetzt werden”, sagte sie.
Warum diese Betonung auf Minsk? Für die europäischen Länder ist die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen klar an die EU-Sanktionen gegen Russland gebunden. Daher gibt es Grund zur Annahme, dass Sawtschenko nicht zufällig kurz vor der nächsten Verhandlungsrunde über die Verlängerung der Sanktionen im Juni 2016 freigelassen wurde. Das Zugeständnis des Kreml in Form der Freilassung der ukrainischen politischen Gefangenen Nummer 1 kann als guter Willen Russlands interpretiert werden, Minsk zu erfüllen. So sieht Alla Lazareva, Pariser Korrespondentin der Zeitschrift “Ukrajinskyj tyschden” (Ukrainische Woche), die Gefahr, dass die pro-russische Lobby in der EU Sawtschenkos Freilassung als Argument für eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland ausnutzen wird. “Klar, die Freilassung ist positiv sowohl für die Ukraine als auch für Nadija selbst, sie kann aber von den Lobbyisten des Kreml ausgenutzt werden, als zusätzliches Argument und Beweis für ‘Moskaus guten Willen’”, so Lazareva.
Die Partei des Präsidenten – Umfrageplus oder neue Risiken?
Sawtschenkos Freilassung fiel mit dem zweiten Jahrestag von Petro Poroschenkos Präsidentschaft zusammen – wohl eher zufällig. Das Urteil gegen Aleksandrow und Jerofejew wurde am 18. April 2016 gesprochen. Am 22. April erhielten sie die russische Übersetzung, am 23. Mai lief eine 30-tägige Frist zur Beschwerde ab und das Urteil trat in Kraft. Am 25. Mai baten die beiden GRU-Mitarbeiter um Begnadigung und Poroschenko kam ihrer Bitte nach. Somit ist unwahrscheinlich, dass ein bewusster Zusammenhang mit dem zweiten Jahrestag von Poroschenkos Präsidentschaft besteht.
Allerdings war die Freilassung von Sawtschenko und anderer Geiseln eines der Versprechen, die Poroschenko dem ukrainischen Volk gegeben hatte. Nun hat er es erfüllt und kann mit einer zunehmenden Unterstützung seitens der Wähler rechnen. Dies ist vor allem deswegen wichtig, weil der Präsident rapide an Popularität verliert. Die Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” hat 57 Experten befragt, die Erfolge und Misserfolge von Petro Poroschenko im zweiten Jahr seiner Amtszeit analysiert haben. Die Experten gaben ihm für seine Arbeit 4,5 von zehn möglichen Punkten. Im ersten Jahr seiner Präsidentschaft hatte er noch 5,3 Punkte erhalten. In einer Umfrage stellte die Stiftung ferner einen noch nie da gewesenen Rückgang des Vertrauens in den Präsidenten fest. Im Mai 2016 gaben 70 Prozent der Befragten an, dem Präsidenten zu misstrauen.
Nadija Sawtschenko verließ die Ukraine im Sommer 2014 als einfache Soldatin. Damals rückte die ukrainische Armee erfolgreich im Donbass vor, doch es kam zur direkten Intervention der Armee der Russischen Föderation, was einen Wendepunkt in den Kampfhandlungen darstellte. So kam es zur Tragödie von Ilowajsk.
Jetzt ist Sawtschenko als Nationalheldin und Parlamentsmitglied nach Hause zurückgekehrt. Sie kommt in ein Land zurück, dessen wichtigste Herausforderungen nicht nur der halb eingefrorender Konflikt im Osten ist, sondern auch politische Instabilität, mangelnde Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung, eine gescheiterte Reform der Staatsanwaltschaft sowie schleppende systemische Reformen.
Sawtschenkos Freilassung bringt Poroschenkos Umfragewerten durchaus Pluspunkte. Doch dies wird kaum die Risiken kompensieren können, die mit einer automatischen Verbesserung der Umfragewerte der Partei von Julia Tymoschenko einhergehen. Ihre Vaterlands-Partei, deren Wahlliste bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober 2014 von Nadija Sawtschenko angeführt wurde, steht zum “Block Petro Poroschenko” in Opposition. Sawtschenkos enorme Popularität bei den Wählern, ihre Kompromisslosigkeit, ihr harter Charakter, Radikalismus und ihre Unkenntnis der Feinheiten des politischen Spiels sind für Poroschenko und die gesamte ukrainische Staatsmacht eine sehr schwierige Herausforderung.
Blick aus Russland: Sawtschenkos Freilassung als Zeichen der Schwäche?
Zwar bringt die Freilassung von Nadija Sawtschenko Putin Pluspunkte für die laufenden Gespräche in Minsk. Doch innenpolitisch bekommt der russische Präsident für sein Vorgehen auch heftige Kritik. Auf den ersten Blick müsste der Austausch der beiden GRU-Abgehörigen gegen Sawtschenko für Russland von Vorteil sein. Aber die russische Seite hat sie nie als ihre Militärangehörigen anerkannt und sie immer nur als einfache russische Bürger bezeichnet. Der russischen Seite zufolge sind sie auf eigene Initiative in den Donbass gegangen. Dort seien sie “Milizionäre der Luhansker Volksrepublik” gewesen und als solche von ukrainischen Kräften festgenommen worden. So argumentierte vor Gericht auch die Verteidigung der beiden russischen GRU-Offiziere.
Besondere Freude wegen Aleksandrows und Jerofejews Freilassung ist Russland nicht zu spüren. Ihre Ankunft in Moskau fiel sehr bescheiden aus und wurde sehr vorsichtig von den drei regierungstreuen Kanälen RT, dem ersten Kanal “Rossija” und NTW gezeigt. Deren Journalisten durften keine Fragen stellen. Begrüßt wurden die beiden Männer nur von ihren Ehefrauen.
Auf Sawtschenkos Freilassung und die Ankunft der ukrainischen Pilotin in Kiew reagierte die russische Öffentlichkeit vor allem mit Wut und Enttäuschung. Das geht aus einer Analyse russischer sozialer Netzwerke hervor, die von dem ukrainischen Journalisten und Blogger Denys Kasanskyj vorgenommen wurde. Zwei Jahre lang schuf die russische Propaganda ein Bild von Sawtschenko als hysterische Mörderin unschuldiger Zivilisten und russischer Journalisten. Und jetzt wurde sie plötzlich freigelassen. Viele fragen sich: Warum?
So ist für den umstrittenen russischen Politiker Eduard Limonow der Austausch ein Zeichen der Schwäche Russlands und Putins. “Russland, in der Person von Wladimir Putin, hat dem enormen Druck seitens der USA, Frankreichs, Deutschlands, und, was noch ekelhafter ist, dem Druck der halb zerquetschten, zerbröckelnden und offen gesagt sterbenden Ukraine nachgegeben. Russland hat auf Putins Entscheidung hin Schwäche gezeigt. Jetzt wird man uns weiter unter Druck setzen. Eine Einwilligung zur Stationierung von OSZE-Polizeikräften im Donbass haben Putins Normandie-Partner bereits erreicht. In Zukunft werden wir gewaltigen Druck wegen der Krim bekommen”, schreibt Limonow in seinem Livejournal.
Wahrscheinlich teilt nicht die gesamte russische Öffentlichkeit solch radikale Ansichten. Doch wahrscheinlich empfindet ein erheblicher Prozentsatz der Russen Putins Entscheidung als Schwäche und sieht darin einen Kompromiss auf Druck des Westens. Möglicherweise wird die russische Gesellschaft, die von der Propaganda über ein “sich von den Knien erhebendes Russland” aufgeheizt und von zwei Jahren Krieg “gegen die ukrainischen Faschisten” radikalisiert ist, Putin dies nicht verzeihen.