Am 9. April 2015 stimmte die Werchowna Rada der Ukraine für das Gesetzespaket zur „Dekommunisierung“. Diese offizielle Verabschiedung von der sowjetischen Vergangenheit löste eine heftige Reaktion in der ukrainischen Gesellschaft aus: ein Teil ist für die sofortige Anwendung dieser Gesetze; ein Teil meint, dass es bei der Umsetzung nötig ist, vorsichtig vorzugehen, um die angespannte Situation im Land nicht zu verschärfen. Ist dieser Dekommunisierungsprozess in der Ukraine notwendig? Wie soll dieser Prozess ablaufen? Sollen alle Denkmäler aus der Sowjetzeit abgerissen werden? Das Ukraine Crisis Media Center führte darüber ein Exklusivinterview mit Wladislawa Osmak, der Direktorin des Zentrums für Stadtstudien an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie.
2015 beschloss die Werchowna Rada ein Dekommunisierungsgesetz. Brauchen wir überhaupt so eine Dekommunisierung und ist die ukrainische Gesellschaft reif für diesen Prozess?
Ich denke, dass die Dekommunisierung notwendig ist. Es ist sehr schade, dass dieser Prozess nicht früher eingeleitet wurde, obwohl es bereits in den 1990er Jahren und während der Präsidentschaft von Juschtschenko einige Entscheidungen dazu gab. Leider wurden diese Entscheidungen nicht mit entsprechenden Werkzeugen zu ihrer Umsetzung begleitet. Das heißt, es war eine Absichtserklärung, aber niemand verstand, wie man sie ins Leben umsetzen soll. Die Gesetze, die nun von der Werchowna Rada beschlossen wurden, sind nicht nur Absichtserklärungen, sondern beinhalten auch Mechanismen zur realen Umsetzung.
Ist unsere Gesellschaft für diesen Prozess reif genug? Sicherlich ein gewisser Teil, aber gleichzeitig ein anderer Teil bestimmt nicht. Und gerade dies macht diesen Prozess so schmerzlich und kompliziert. Aber man kann diesen Prozess wahrscheinlich nicht verschieben, denn gerade jetzt, wenn die Menschen viel bewusster und aktiver am gesellschaftlichen Leben teilnehmen als früher, können durch die Dekommunisierung solche und andere tiefgreifende Änderungen in der Gesellschaft durchgeführt werden.
Mir scheint zum Beispiel, dass die Dekommunisierung als ein Instrument gesehen werden kann, um eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Allerdings machen es die Fragen zur Umbenennung von Straßen und Städten, sowie zur Demontage oder Erhaltung von historischen, kulturellen und architektonischen Denkmälern, notwendig, einen öffentlichen Dialog zu führen und Entscheidungen zu treffen, die diesem Dialog entsprechen. Dies ist eine gute Möglichkeit, direkte Kontakte herzustellen. Man darf dabei nicht die Konflikte fürchten, die während dieser Dialoge entstehen werden.
Gibt es ein Rezept für den idealen Dekommunisierungsprozess?
Ich denke, dass es keinen idealen Dekommunisierungsprozess geben kann. Allerdings läuft dieser Prozess in unserer Gesellschaft, deren Mitglieder verschiedene persönliche Erinnerungen haben. Der Dekommunisierungsprozess ist eine Art Regenschirm, unter dem sich die Menschen auf dem Niveau des Nationalinteresses vereinen sollen. Dabei verstehen manche dieses Interesse, andere hingegen nicht. Für den einen ist er wichtig, für den anderen ist er inakzeptabel. Doch eigentlich ist er oftmals nicht deshalb inakzeptabel, weil jemand gegen die ukrainische Unabhängigkeit, Freiheit oder Demokratie ist, sondern weil uns dieses Gesetz auf die eine oder andere Weise einschränkt: Straßennamen gehen verloren, sowie gewohnte Denkmäler, die wir das ganze Leben über sahen. Und um dies zu akzeptieren, müssen wir an unseren Erinnerungen, an unserem „inneren Ich“ arbeiten.
Welche Informationskomponenten soll es bei diesem Prozess geben?
Die Informationskomponenten können in mehrere Etappen gegliedert werden. Einige davon haben wir bereits definiert. Nehmen wir die Stufe der Umbenennung. Zum Beispiel wurde für Kiew eine besondere Internetseite bei die Kiewer Stadtverwaltung eingerichtet. All das war eine Frage der Privatinitiative. Wenn Sie Informationen finden wollen, werden Sie fündig. Eine andere Sache ist, dass man diese Informationen noch zugänglicher machen könnte, zum Beispiel durch Werbetafeln. Es hätte die Möglichkeit gegeben, die gesamte Diskussion legitimer zu machen und daran mehr Künstler zu beteiligen. Doch heute kann niemand sagen: „Aber wir wurden nicht gefragt.“
Für viele Menschen ist die Dekommunisierung in erster Linie mit Unannehmlichkeiten verbunden, wie die Umbenennung von Straßen usw.
Das Problem besteht darin, dass die Dekommunisierung, obwohl sie buchstäblich im 25. Jahr der Unabhängigkeit begann, von Anfang an schlecht vorbereitet wurde. Sicher, es gab viele Publikationen und Aktionen zum Thema, aber die Gesellschaft ist insgesamt träge. Und um auf die Frage zurückzukommen, ob die Dekommunisierung gerade jetzt durchgeführt werden soll, will ich Ihnen sagen, dass der eigentliche Dekommunisierungsprozess bereits eine Methode für jene ist, die sich um die Zukunft ihres Landes sorgen. Dieser Prozess mobilisiert damit diese träge Masse, selbst wenn dieser Prozess mit Konflikten begleitet wird. Unsere Gesellschaft ist fragmentiert, und je mehr wir weiterhin den Anschein erwecken wollen, dass wir in unseren Positionen geeint sind, desto tiefer wird der Konflikt zwischen gewissen Gruppen.
Sicher, ein Teil der Gesellschaft muss diesen Unannehmlichkeiten bewusst zustimmen. Aber es darf nicht sein, dass eine Entscheidung in dieser Frage aufgezwungen wird.
Wie wichtig ist die Anwendung dieser Gesetze in Bezug auf Symbole? Sollen sie an Ort und Stelle gelassen oder demontiert werden?
Das ist sehr, sehr schwierig. Das Gesetz besagt deutlich, welche Symbole demontiert werden sollen und welche nicht. Zum Beispiel soll das Sowjetwappen der Ukraine laut Gesetz aus dem öffentlichen Raum entfernt werden. Aber wie? Das klassischste Beispiel ist das Sowjetwappen der Ukraine auf dem Schild der „Mutter-Heimat“ (im Architekturmuseumskomplex zum Zweiten Weltkrieg in Kiew). Was soll damit geschehen? Spezialisten vom Institut Paton, die an der Erarbeitung der Konstruktion beteiligt waren, meinen, dass man das Wappen nicht einfach von dem Schild entfernen kann, da es zu einem Ungleichgewicht führen und das Denkmal schließlich einstürzen kann. Manche schlagen deshalb vor, das Sowjetwappen gegen das Wappen der heutigen Ukraine auszutauschen. Allerdings wurde das Denkmal trotzdem in einem bestimmten Stil gebaut und ist ein Kulturobjekt, gerade wegen seiner Größe. Man könnte auch einen anderen Weg gehen. Erinnern wir uns an den 9. Mai 2015: auf dem Kopf der „Mutter-Heimat“ wurde ein Kranz aus Mohnblumen (dem Symbol für die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg) angebracht. Und es schien, dass sie vom Sockel stieg und sich direkt neben uns befindet. Dies war ein Moment der Vereinigung und niemand kümmerte sich um das Wappen.
Wenn man die Sowjetsymbole entfernt, muss man darüber nachdenken, mit was sie ersetzt werden sollen. Zum Beispiel: wenn man alle Sowjetsymbole aus den Metrostationen entfernt, wodurch sollen sie ersetzt werden? Etwa durch schnell und krumm angebrachte ukrainische Symbole? Es würde den Wert der architektonischen Komplexe zerstören und unbeabsichtigt unser Bewusstsein beeinflussen. Wenn wir in minderwertig gebauten Häusern und in einem minderwertig gestalteten öffentlichen Raum leben, sinkt unsere Selbstachtung und unsere Rücksicht auf andere. Wir degenerieren.
An den Stellen, wo Denkmäler entfernt wurden und ein leerer Sockel bleibt, erscheint früher oder später ein Mülleimer. Deshalb muss man mit Spezialisten sprechen, wie man den Platz besser umgestalten kann. Zum Beispiel den Sockel selbst von dem Ort entfernen, um ein Blumenbeet anzulegen. Wir müssen damit anfangen, über die Bedeutung jener Umgebung zu sprechen, in der wir leben und wie wir uns in dieser Umgebung verhalten. Tatsächlich geht es bei der Dekommunisierung um Freiheit, was man auch Dekolonisierung nennen kann. Aber diese Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Wenn wir die Vergangenheit aus der Erinnerung löschen, hilft uns das nicht weiter.
Es gibt verschiedene Lösungsansätze. Man kann eine Verdrängungspolitik durchführen und ein Tabu auf Erinnerungen an die Vergangenheit auferlegen, denn bisher ist die Wunde noch nicht verheilt, wie es zum Beispiel in Spanien geschah. Man kann zum Beispiel auch eine Entnazifizierung durchführen, wie es Deutschland tat.
Der Kampf gegen Symbole ist sicherlich notwendig, aber man darf die Dekommunisierung nicht allein darauf reduzieren.
Deutschland gestand sich die Verbrechen des nationalistischen und faschistischen Regimes ein, das dort herrschte. Wir haben eine etwas andere Situation. Wir positionieren uns ausschließlich als Opfer, obwohl in allen Sowjetregierungen auch Ukrainer vertreten waren.
Gerade diese ukrainische Position der Opferrolle konserviert unsere innere Abhängigkeit. Wir gewöhnten uns daran, zu jammern und Schuldige außerhalb der Ukraine zu suchen. Aber genau das hemmt uns in der Entwicklung. Solange wir nicht erwachsen werden und solange wir nicht die Verantwortung für alles, was wir taten, einschließlich für uns selbst, übernehmen wollen, solange werden wir nicht unabhängig.
All diese Listen der „Volksfeinde“, die derzeit aufgestellt werden, sind ebenfalls Erbe der Sowjetzeit, das bei uns Wurzeln schlägt.
In letzter Zeit war die Tendenz zu beobachten, Straßen so umzubenennen, damit „Russland bestraft wird“. Bezeichnend ist das Beispiel des Wosduchoflotsker Prospekts, auf dem sich die Russische Botschaft befindet. In den vergangenen zwei Jahren gab es Vorschläge, diesen Prospekt zu Ehren Stepan Banderas, Dschochar Dudajews oder Boris Nemzows umzubenennen, nur um Russland zu ärgern…
Das gehört auch zu unserem Problem. Der Dekommunisierungsprozess war ausschließlich als vorbildliche Geste gedacht. Die Umbenennung von Straßen, das Anbringen von Gedenktafeln, die Aufstellung von Denkmälern – alles symbolisch. Doch bei uns läuft eine Art Kampf, als ob die Lebenden gegen Stein und Metall kämpfen. Ich verstehe, dass viele Leute diese Vergangenheit und das gegenwärtige Verhalten Russlands als Kränkung empfinden, dass es Familiengeschichten und Schmerzen gibt, die unverzeihbar sind. Allerdings berühren wir heute nur die Spitze eines Eisbergs, aber was weiter wird, ist nicht bekannt. Wir legen das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft in Zukunft existieren soll.
Olena Gorkowa, UCMC
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