Am 5. Dezember haben Mitarbeiter ukrainischer Geheimdienste den ehemaligen Gouverneur der Region Odessa und ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili auf dem Dach seines Wohnhauses in der Kostjolna-Straße im Zentrum von Kiew festgenommen. Jedoch gelang es nicht, den Politiker in ein Gefängnis zu bringen. Seine Anhänger blockierten das Auto der Sicherheitskräfte. Nach einer mehrstündigen improvisierten Demo schafften es schließlich Saakaschwilis Anhänger, ihn aus dem Auto zu ziehen. Sie entrissen ihn buchstäblich den Sicherheitskräften. Daraufhin ging Saakaschwili ungehindert zum Parlamentsgebäude, vor dem er eine Kundgebung abhielt. Dort übernachtete er auch – in einem von Demonstranten errichteten Zeltlager. Am Morgen stürmten Sicherheitskräfte ergebnislos das Lager.
Alle ukrainischen und viele ausländischen Medien berichteten über diese Ereignisse. Aber was bedeuten sie? Ist Saakaschwili dafür verantwortlich, was ihm vorgeworfen wird? Welche Konsequenzen hat das ukrainische politische Establishment zu erwarten? Wer ist der Gewinner und wer der Verlierer in dieser Konfrontation? Was wird als nächstes passieren?
Es gibt mehr Fragen als Antworten. Das Ukraine Crisis Media Center hat Reaktionen von Experten und Politikern sowie Fragen zusammengetragen, die die ukrainische Öffentlichkeit beschäftigen. Manchmal ist es nicht weniger wichtig, die richtigen Fragen zu stellen, als über verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu spekulieren.
Warum gerade Saakaschwili?
Saakaschwili ist ein ehemaliger Mitstreiter der jetzigen ukrainischen Führung. Er war Gouverneur der Region Odessa und ist ein auffallender Politiker und ein eindrucksvoller Schauspieler für politische Shows. Doch offensichtlich ist nicht er der größte “Feind der Ukraine”. Vor dem Hintergrund eines nicht reformierten Justizsystems und “fehlender Gerechtigkeit” in der ukrainischen Gesellschaft, selbst bei aufsehenerregenden Fällen, sieht die Festnahme von Saakaschwili seltsam aus.
Wachtang Kipiani, ein bekannter ukrainischer Journalist und Moderator beim TV-Sender ZIK brachte auf den Punkt, was die ukrainische Gesellschaft beschäftigt: “Seit vier Jahren findet der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) keinen Grund und keine Zeit, Viktor Medwedtschuk, Rinat Achmetow (…) oder ähnliche Personen, von denen es eine ganze Legion gibt, festzunehmen oder zumindest bei ihnen anzuklopfen. (…) Dutzende separatistische Bürgermeister von Städten im Donbass sind auf freiem Fuß und sogar im Amt. Stattdessen sehen wir Bilder aus der Kostjolna-Straße, auf denen zu sehen ist, wer der größte Feind des Staates ist.”
Gerade dies erlaubt es der ukrainischen Gesellschaft nicht, sich hinter das Vorgehen der ukrainischen Staatsmacht und Sicherheitsstrukturen zu stellen.
Warum wurde Saakaschwili nicht verhaftet?
Eine weitere Kuriosität von Saakaschwilis Festnahme ist, dass der unbewaffnete Politiker es geschafft hat, einer Inhaftierung zu entgehen. Ihm ist es übrigens nicht zum ersten Mal gelungen, die ukrainischen Gesetze zu umgehen. Erinnert sei nur daran, wie er die polnisch-ukrainische Grenze durchbrach, nachdem ihm die ukrainische Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Warum passiert all dies? Sewgil Musajewa-Borowyk, Chefredakteurin der Internetzeitung “Ukrajinska prawda” (Ukrainische Wahrheit), stellt fest: “Dass die Staatsmacht beim heutigen Szenario zum Scheitern verurteilt war, war mir schon um 9.00 Uhr klar. Ich weiß nicht, wer diese Spezialoperation geplant hat, aber sie haben alle Voraussetzungen dafür geschaffen, was schließlich geschah. Ehrlich gesagt komme zu einem traurigen Schluss. Die Behörden wollten Stärke demonstrieren, doch sie sorgten nur für einen weiteren Zirkus. Die Staatsmacht in der Ukraine ist schwach wie nie zuvor”, so die Journalistin.
Der Generalstaatsanwalt der Ukraine, Jurij Luzenko, entschuldigte sich während einer Rede im Parlament sogar für die ineffektive Arbeit der Geheimdienste.
An Saakaschwilis Festnahme waren praktisch alle Sicherheitskräfte beteiligt, außer dem Nationalen Anti-Korruptions-Büro (NABU) und der Spezialisierten Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft (SAP). Warum erleiden die ukrainischen Gesetzeshüter immer wieder ein Fiasko, wenn sie versuchen, Saakaschwili zu zügeln? Handelt es sich um vorsätzliche Sabotage oder ist es fehlende Koordination zwischen den verschiedenen Behörden, gegenseitiges Misstrauen oder einfach nur Zögern?
Ist das Audio- und Videomaterial glaubwürdig?
Saakaschwili wird vorgeworfen, mit einer kriminellen Organisation zusammengearbeitet zu haben. Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko präsentierte zunächst bei einer Pressekonferenz und dann im Plenarsaal des Parlaments Audio- und Videomaterial. Seiner Meinung nach beweist es, dass Saakaschwili von Serhij Kurtschenko, einem berüchtigten Geschäftsmann aus der Zeit von Viktor Janukowytsch, der in Russland untergetaucht ist und nach dem die Ukraine fahndet, für die Finanzierung von Protestaktionen mindestens 300.000 Dollar erhalten hat.
Aber stimmt das? Saakaschwili versichert, er kenne Kurtschenko nicht und das von Luzenko veröffentlichte Material sei eine Fälschung. Der georgische Ex-Präsident sagte: “Der Demonstrationsmarsch letzte Woche hat ihnen Angst gemacht. Früher schickte Poroschenko Hranowskyj, der mir direkt drohte: Wenn ich das Land nicht verlasse, wenn ich nicht aufhöre über Korruption zu sprechen, besonders im militärischen Bereich, dann werden sie Material zusammenstellen und mich über den SBU damit kompromittieren.”
Doch kann man der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft überhaupt glauben? Derzeit eskaliert die Konfrontation zwischen den Strafverfolgungsbehörden in der Ukraine, die sich gegenseitig ihre Zuständigkeit bei der Untersuchung von Korruptionsfällen streitig machen. Generalstaatsanwalt Luzenko wirft einzelnen Abteilungen des NABU sogar vor, illegal zu operieren.
Europäische und amerikanische Institutionen und Experten sind meist auf der Seite des NABU als der unabhängigsten Institution. So bezeichnete beispielsweise Michael Carpenter, ehemaliger Pentagon-Berater unter US-Präsident Barack Obama und jetziger Direktor des Biden Center for Diplomacy and Global Engagement an der Universität Pennsylvania, das Vorgehen der Generalstaatsanwaltschaft und des SBU gegen das NABU als “Schande”.
Somit kompromittiert die Konfrontation mit dem NABU Luzenko und die von ihm geleitete Generalstaatsanwaltschaft selbst. Kann man ihren Beweisen für eine Schuld Saakaschwilis glauben? Diese Frage beschäftigt die ukrainische Gesellschaft sehr.
Ist die “Bewegung neuer Kräfte” diskreditiert?
Der Verdacht einer Zusammenarbeit mit Kurtschenko und somit auch mit Russland ist ein ziemlich schwerer Vorwurf, der sowohl auf Saakaschwili selbst als auch auf seine politische Kraft, die “Bewegung neuer Kräfte”, einen Schatten wirft. Solche Vorwürfe kompromittieren einen Politiker schwer, wenn er sie nicht widerlegen kann.
Switlana Salischtschuk, Abgeordnete des “Blocks Petro Poroschenko” (BPP) im ukrainischen Parlament, die Saakaschwili monatelang beim Aufbau seiner neuen Bewegung unterstützte, schreibt: “Wenn sich die Audio- und Videoaufnahmen der Staatsanwaltschaft bestätigen, dann wird das ein schwerer Schlag für die demokratischen Kräfte sein und das Vertrauen der Bevölkerung in friedlichen Protest beschädigen. Saakaschwili muss umfassende Antworten auf alle Fragen liefern. (…) Kurtschenkos Geld würde nicht nur Verrat bedeuten, sondern auch die Aussicht auf Korruptionsbekämpfung in diesem Land völlig untergraben, was für den Präsidenten von Vorteil ist.”
Diese Meinung teilt Mustafa Najem, ebenfalls Abgeordneter des BPP und Mitglied der informellen Parlamentariergruppe “Europa-Optimisten”: “Saakaschwili und sein Team müssen alle sich ergebenden Fragen umfassend beantworten. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zu ignorieren, ist keine Option (…) Schweigen, Slogans und Ausweichmanöver sind inakzeptabel. Im Zustand des Krieges mit Russland wären alle offenen Fragen, Verdächtigungen und Fakten, die nicht erklärt werden können, tödlich.”
Die Zeit spielt gegen Saakaschwili. Je länger er sich Antworten entzieht, desto schwieriger wird es, das Vertrauen der Gesellschaft wiederherzustellen.
Warum unterstützen Saakaschwili keine Massen?
Saakaschwilis Aktionen dauern bereits seit mehr als zwei Monaten. Aber inzwischen ist klar, dass sich die Ukrainer – trotz der vielen berechtigten Forderungen und Vorwürfe gegen die jetzige Staatsmacht – nicht beeilen, sich Saakaschwilis Anhängern auf der Straße anzuschließen. Obwohl die Ukrainer mit der politischen Korruption und den schleppenden Reformen unzufrieden sind, sehen sie in Saakaschwili immer noch nicht den Anführer eines neuen Maidan, der zu einem effektiven Wettkampf mit der Staatsmacht fähig ist.
Warum? Dafür gibt es viele Gründe. Einer von ihnen ist, dass die Menschen Saakaschwilis Theatralität misstrauen und nicht wissen, was seine wahren Motive sind. Sie verstehen auch nicht, warum ihn zweifelhafte populistische Politiker wie Julia Tymoschenko umgeben. Am 5. Dezember trat bei einer improvisierten Kundgebung von Saakaschwilis Bewegung die Europaabgeordnete Jane Collins von der UK Independence Party (UKIP) auf. Bekanntlich war die UKIP im Jahr 2014 die treibende Kraft hinter der Kampagne für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Im Jahr 2014 war Collins eine der 137 Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die gegen die Ratifizierung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens gestimmt haben. Indem sich Saakaschwili mit solchen Menschen umgibt, verringert er seine Chancen deutlich, in der ukrainischen Gesellschaft Unterstützung zu finden.