Nach dem Sieg der Maidan-Bewegung forderte die ukrainische Öffentlichkeit stark, die Korruption im Lande zu bekämpfen, darunter auch auf höchster Ebene. Zu diesem Zweck wurden neue Behörden geschaffen: das Nationale Anti-Korruptions-Büro und die Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft. Noch fehlt ein Anti-Korruptions-Gericht, das zum letzten Glied in dieser Kette werden soll. Das Gesetz über die Schaffung des Gerichts liegt bereits im Parlament. Doch die Prüfung des Entwurfs wird hinausgezögert. Zudem tobt seit Monaten unter den neuen Anti-Korruptions-Behörden ein Konflikt. Das Ukraine Crisis Media Center erläutert die Lage. Dabei hat es Material des Senders “Hromadske” sowie der Zeitungen “Ukrainska Prawda” (Ukrainische Wahrheit) und “Dserkalo Tyschnja” (Wochenspiegel) verwendet.
Welche neuen Anti-Korruptions-Organe gibt es in der Ukraine? Derzeit sind es drei: Die Nationale Agentur zur Verhütung von Korruption (NASK) stellt sicher, dass die Beamten ihr Einkommen und Vermögen angeben und keinen Korruptionsrisiken ausgesetzt sind. Das Nationale Anti-Korruptions-Büro (NABU) untersucht Verbrechen in Verbindung mit Korruption von Spitzenbeamten und Bestechungen in besonders großem Umfang. Und die Spezialisierte Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft (SAP) erhebt vor Gericht Anklage gegen die Täter.
Warum ist es zum Konflikt zwischen den Behörden gekommen? Zwischen den Leitern von NABU und SAP herrscht schon länger Streit. Das NABU wirft der SAP vor, Strafverfahren gegen einzelne Beamte eingestellt zu haben. Außerdem sei, so das NABU, der Leiter der SAP und einige andere Mitarbeiter der Behörde selbst korrupt. Auf der anderen Seite wirft die SAP den Detektiven des NABU mangelnde Professionalität bei den Ermittlungen vor. Anfang 2017 unterzeichneten unter Vermittlung der US-Botschaft der NABU-Chef Artem Sytnyk und der Leiter der SAP, Nasar Cholodnyzkyj, ein “Memorandum über Zusammenarbeit”. Doch es gelang nicht, deren Verhältnis zu normalisieren.
Warum ist die Konfrontation zwischen NABU und SAP gefährlich? Das NABU und die SAP sind Glieder ein und derselben Kette: Das NABU untersucht Korruptionsdelikte und die SAP ist der staatliche Ankläger vor Gericht. Ein Konflikt zwischen beiden Behörden bremst alle Ermittlungen und die Korruptionsbekämpfung insgesamt. Viele Experten bezeichnen die Ermittlungen des NABU gegen den SAP-Leiter Cholodnyzkyj als “Schuss ins eigene Bein”. NABU-Chef Sytnyk sagte der Zeitung “Dserkalo Tyschnja”, würde man vor der Korruption innerhalb der SAP die Augen verschließen, dann wäre das “kein Schuss ins Bein, sondern in den Kopf”. Seiner Ansicht nach demotiviert die Sabotage seitens der SAP die Detektive des NABU. Diese hätten keine Lust, unter Bedingungen zu arbeiten, wo geklärte Fälle ohne Folgen bleiben würden.
Welche Rolle spielen die “alte Institutionen” in dem Konflikt? Zu den alten Institutionen gehören die Generalstaatsanwaltschaft (GPU) unter Leitung von Jurij Luzenko, der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) unter Wasyl Hryzak sowie das Innenministerium mit Arsen Awakow an der Spitze. Noch vor einem halben Jahr hatten sie gemeinsam gegen das NABU Stellung bezogen. Im Dezember 2017 wehrte NABU-Chef Sytnyk einen Angriff des Generalstaatsanwalts Luzenko und des SBU-Chefs Hryzak ab. Beide hatten versucht, das Parlament dazu zu bringen, das Verfahren zur Entlassung der Leiter der Anti-Korruptions-Behörden zu vereinfachen und folglich den NABU-Chef zu entlassen. Damals konnten die ausländischen Partner der Ukraine die Führung in Kiew überzeugen, die Idee fallen zu lassen, die Gesetze über die Anti-Korruptions-Behörden zu ändern. In den letzten vier Monaten kam es jedoch zu einem Schulterschluss zwischen Sytnyk und Luzenko. Dieser hatte einst auf einer Entlassung des NABU-Chefs bestanden, um angeblich die Arbeit des SAP-Leiters Cholodnyzkyj untersuchen zu können. Nun hat die Generalstaatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen Cholodnyzkyj eröffnet. Es wird vermutet, dass sie auf diese Weise die SAP unter ihre Kontrolle bekommen will.
Worin genau bestehen die Vorwürfe gegen die SAP? NABU-Chef Sytnyk wirft dem SAP-Leiter Cholodnyzkyj vor, Material zu Kriminalfällen offengelegt und die Arbeit des NABU behindert zu haben. Im Gespräch mit der Zeitung “Dserkalo Tyschnja” nannte Sytnyk ein Beispiel. Als Detektive des NABU in Odessa im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen den Bürgermeister der Stadt Durchsuchungen durchführen wollten, stellte sich heraus, dass alle Verdächtigen verschwunden waren. Einige hielten sich im Ausland auf und “regelten das Problem” mit den Gerichten von dort aus. “Wir haben gute Gründe zu vermuten, dass jene Personen vom Leiter der SAP informiert wurden, der, wie sich herausstellte, Informationen über ihre Bewegungen hatte, die die Ermittler aber nicht hatten”, sagte Sytnyk.
Woher hat das NABU seine Beweise gegen Cholodnyzkyj? Im März hörten die Detektive des NABU das Büro des Anti-Korruptions-Staatsanwalts Cholodnyzkyj ab. Am Aquarium, das neben seinem Schreibtisch steht, brachten sie “Wanzen” an. Die aufgenommenen Gespräche sind die wichtigsten Beweise gegen Cholodnyzkyj.
Was ist der Inhalt der abgehörten Gespräche? Natürlich sind die Aufnahmen als “geheim” eingestuft. Aber einige Medien durften sich einen Teil des Materials anschauen. Auch NABU-Chef Sytnyk selbst sagte in Interviews, in welchen Fällen ein Verdacht gegen Cholodnyzkyj vorliegt. Ihm zufolge handelt es sich unter anderem um Unterschlagung von Geldern durch Beschäftigte der Stadtverwaltung in Odessa, um eine von der Gesundheitsministerin Uljana Suprun angezeigte versuchte Bestechung, um Untersuchungen im Zusammenhang mit Einkommens- und Vermögenserklärungen hochraniger Beamter, um Ermittlungen im Zusammenhang mit den Geschäftsinteressen des Eigentümers einer großen Agrarholding usw. Sytnyk hält jene Aufnahmen für einen wichtigen Beweis, da sie die Vermutungen des NABU bestätigen würden. Cholodnyzkyj hingegen spricht von einem “Zusammenschnitt einzelner Wörter”. Bei einer Rede im Parlament am 4. April betonte er, dass die veröffentlichten Gespräche aus dem Zusammenhang gerissen seien.
Wie äußern sich die Chefs von NABU und SAP vor der Öffentlichkeit? Beide wollen einen öffentlichen Skandal und übermäßige Aufmerksamkeit der Medien vermeiden. Denn beide wissen, dass der Konflikt ihre Behörden diskreditiert. Sytnyk (NABU) befürchtet, dass seine Beweise nicht berücksichtigt werden, und Cholodnyzkyj (SAP) hat allen Grund zu fürchten, dass die Beweise bestätigt werden. Daher erklärten sie zum Beispiel am 4. April 2018 gemeinsam vor dem Parlament, dass es keinen Konflikt zwischen ihren Behörden gebe. Beide betraten zusammen den Plenarsaal und setzten sich nebeneinander. In ihren Rechenschaftsberichten an das Parlament beriefen sich sich aufeinander.
Was ist als nächstes zu erwarten? Höchstwahrscheinlich wird es nicht gelingen, die Sache gegen Cholodnyzkyj zu vertuschen. Dem Fall wird sich die Qualifikations- und Disziplinarkommission der Staatsanwälte annehmen. Das NABU wird von der Kommission wohl die Entlassung von Cholodnyzkyj fordern. Es gibt aber keine klare Regelung, wer die Leitung der SAP übernimmt, für den Fall, dass Cholodnyzkyj entlassen wird. Theoretisch wird der erste stellvertretende Leiter der SAP seine Funktion übernehmen, bis jene Kommission einen neuen Kandidaten nominiert und diesen dem Präsidenten vorschlägt. Aber im Prinzip kann jeder von Cholodnyzkyjs Stellvertreter vorübergehend die Leitung der SAP übernehmen
Gibt es Gründe für Optimismus? Natürlich ist der Verdacht der Korruption innerhalb der Behörden, die gerade Korruption bekämpfen sollen, ein schwerer Schlag für die Erwartungen der ukrainischen Gesellschaft und der ausländischen Partner der Ukraine. Doch derzeit handelt es sich wahrscheinlich nur um einzelne Personen und nicht um systematische Vorgänge innerhalb der SAP. “Hoffnung macht, dass das wichtigste Rückgrat des SAP-Teams aus professionellen Mitarbeitern besteht, die richtige Werte vertreten. Dank dieser Menschen haben wir auch Ergebnisse. Deshalb muss die SAP um jeden Preis bewahrt werden”, sagte NABU-Chef Sytnyk in einem Interview. Möglicherweise wird die Entlassung von Cholodnyzkyj, sofern seine Schuld bewiesen wird, ein Schritt zur Aussöhnung beider Behörden sein und den Weg zu gemeinsamen Bemühungen Kampf gegen die Korruption frei machen.