Schweigen tötet: Was bedeuten die Überfälle auf Aktivisten in der Ukraine?

Nach der Revolution der Würde stand Odessa immer wieder im Fokus ausländischer Beobachter und Journalisten. Der erste Grund war die Tragödie vom 2. Mai 2014, als Dutzende von Menschen bei Zusammenstößen zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Kräfte im Gewerkschaftshaus starben. Die Ernennung des ehemaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili zum Gouverneur des Gebiets Odessa 2015 bis 2016 zog auch die Aufmerksamkeit von Journalisten auf sich. Seit 2017 macht Odessa regelmäßig Schlagzeilen in den ukrainischen Medien. Fast jeden Monat gibt es in der Stadt Angriffe auf Aktivisten und Journalisten. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

“Schweigen tötet”. In der Nacht vom 27. auf den 28. September 2018 fand die Aktion “Schweigen tötet” vor dem Gebäude der Präsidialverwaltung in Kiew statt. Die Teilnehmer der Aktion forderten, dass die Behörden Angriffe auf Aktivisten in der Ukraine endlich untersuchen.

Das kriminelle Odessa. Der jüngste Fall ist das Attentat auf Oleh Mychajlyk, einen Aktivisten und Anführer des Ortsverbandes der Partei “Kraft der Menschen”in Odessa. Er wurde am Abend des 22. September in der Innenstadt nicht weit von seinem Haus angeschossen. Schwer verletzt wurde Mychajlyk ins Krankenhaus eingeliefert. Das Leben des 44-jährigen Mannes war in Gefahr. Doch es gelang den Ärzten, seinen Zustand zu stabilisieren. Es gibt Hoffnung auf seine Genesung.

Dieser Fall ist einer von ungefähr 40 Angriffen auf Aktivisten, von denen 14 allein während des letzten Jahres in Odessa verübt wurden. Zusammengeschlagen wurden Alina Podoljanka vom Regionalverband der “Volksbewegung der Ukraine” unddie Expertin der Gruppe “2. Mai”, Switlana Podpalaja. Serhij Sternenko von der Organisation “Die nicht Gleichgültigen” wurde mehrmals überfallen und Witalij Ustymenko von der Bewegung “Auto-Maidan” wurde mit einem Messer verletzt. Wie durch ein Wunder entkamen Mychajlo Kusakon, führendes Mitglied der “Volksbewegung der Ukraine”, und der Aktivist Hryhorij Kosma in ihren Autos entgegenkommenden Lastwagen. Für Aufsehen sorgte auch der Überfall auf Kateryna Handsjuk, eine Beraterin des Bürgermeisters der ukrainischen Stadt Cherson. Sie wurde in diesem Sommer mit Säure übergossen.

Alle Opfer kommen aus verschiedenen Organisationen, politischen Kräften und Medien. Aber sie alle einen zwei Tatsachen: Sie prangern seit vielen Jahren Korruption an und machen auf Gesetzesverstöße seitens der Behörden aufmerksam. Sie alle vertreten pro-ukrainische Ansichten.

Wer ist Mychajlyk? Oleh Mychajlyk ist ein Aktivist, der seit vielen Jahren in Odessa gegen illegale Bauvorhaben kämpft. Vor kurzem kündigte er an, bei den nächsten Kommunalwahlen für das Amt des Bürgermeisters kandidieren zu wollen. Er organisierte Protestaktionen und nahm an Mahnwachen teil.

Einschätzungen. Der Führer des Ortsverbandes der Partei”Macht der Menschen”, IhorBytschkow,sieht einen Zusammenhang zwischen dem Attentat und Mychajlyks oppositioneller Tätigkeit gegen den Bürgermeister der Stadt Odessa, GennadijTruchanow. “Oleg hat immer gesagt, dass Truchanoweinekriminelle Gruppe anführt, die unsere Stadt plündert. Und der Polizeichef von Odessa, DmytroHolowin, und der Staatsanwalt OlehSchutschenko decken die illegalen Machenschaften der Machthaber von Odessa”, so Bytschkow.

Politik oder Business? Die Aktionen gegen illegale Bauvorhaben stören weniger die politischen, sondern vielmehr die geschäftlichen Interessen einflussreicher Personen in Odessa. “Eine solche Missachtung des Gesetzes und der Interessen der Stadt hat es in der neueren Geschichte von Odessa noch nicht gegeben. In der ganzen Ukraine ist längst bekannt, dass das Baugeschäft in Odessa von der organisierten kriminellen Gruppe ‘Galantnik-Truchanow’ kontrolliert wird”, schreibt die Journalistin Soja Kasanschi auf Facebook.

Grauer Kardinal von Odessa. Die Zeitschrift “Nowoje Wremja” hat kürzlich einen Artikel von Kristina Berdinskikh über Vladimir Galantnik unter dem Titel “Odessas Papa” und dem Untertitel “In Odessa gibt es einen informellen Chef, zu dem selbst der Staat kein Konkurrent ist” veröffentlicht. In dem Artikel heißt es, dass Odessa den offiziellen Bürgermeister Gennadij Truchanow habe, aber auch einen inoffiziellen: einen Multimillionär, der in London lebe. Sein Name sei Vladimir Galantnik. Aber in der Stadt ziehe man es vor, diesen Namen nicht in den Mund zu nehmen.

 

“Galantnik ist eine Person, die in vielerlei Hinsicht die politischen und geschäftlichen Prozesse in der Stadt bestimmt. Er ist ein grauer Kardinal von Odessa”, sagte der Politikwissenschaftler Jaroslaw Katolik der Zeitschrift “Nowoje Wremja” und fügte hinzu: “Wenn man sich die offiziellen Register anschaut, dann hat Galantnik überhaupt keine Geschäfte in Odessa. Galantnik selbst ist wie ein Mythos. Jeder weiß von ihm, aber niemand hat ihn je gesehen.”

Was ist über Galantnik bekannt? Anfang der 90erJahre war er in Odessa ein gewöhnlicher Geschäftsmann, der mit Elektrowaren handelte. Später schloss er sich der kriminellen Gruppe an, derlaut einem 1998 veröffentlichten Bericht der italienischen Polizei auch GennadijTruchanow, der jetzigeBürgermeister von Odessa, angehörte. Nach Angaben von BBC interessierten sichdie italienischen Behörden für dieMänner aus Odessa, da sie imVerdacht standen, über Italien Drogen und Waffen zu schmuggeln. TruchanowwarzumBeispiel vor Ortsogar gemeldet. Die Männer kontrollierten laut den italienischen Behörden den Export und Import von Erdölproduktenund waren in Erpressung und Waffenhandel verwickelt.

 

Heute kontrolliert Galantnik Beobachternzufolge in Odessaden Markt “Priwos”, teilweise oder ganz dasEinkaufszentrum “City Center” und denbekannten Strand”Arkadia”. Er soll auch hinter dem Einkaufszentrumam Starosennaja-Platz, dem luxuriösen Wohnpark “Green Wood”und demHotel “De Paris” stehen. Hinzukommen eine ganze Reihe von Baufirmen, dieTruchanow und Galantnik gehören. “Das gleiche gilt für die Sanierungund den Bau von Straßen.Die öffentlichen Ausschreibungen gewinnen Firmen, die mit dem Bürgermeister von Odessa verbundensind”,schreibt die Journalistin Soja Kasanschi auf Facebook. Daher müssten im Zusammenhang mit dem Attentat auf den Aktivisten Oleh Mychajlyk auch die Verbindungen zwischen lokalen Behörden und den Geschäftsinteressen der Regierenden in Odessa untersucht werden.

Warum ist eine Reaktion Kiews wichtig? Nach einer ganzen Reihe von Überfällen und Angriffen ist klar, dass Kiew reagieren muss. Präsident Petro Poroschenko zögerte seinerzeit nicht, Micheil Saakaschwili vom Posten des Gouverneurs des Gebiets Odessa abzusetzen, der – erfolgreich oder weniger erfolgreich – versuchte, die Korruption in der Region zu bekämpfen und zu einer politischen Bedrohung für Poroschenko selbst wurde. Warum kann er nicht gegen Truchanow vorgehen, dessen korrupte Machenschaften weit über die Stadt hinaus bekannt sind? Eine Untätigkeit Kiew würde bedeuten, dass man nicht gewillt oder nicht fähig ist, Korruption zu bekämpfen. Dabei hat die jetzige ukrainische Führung die Korruptionsbekämpfung immer als eine ihrer Prioritäten darstellt.