Am 17. Januar hat der ukrainische Premierminister Oleksij Hontscharuk eine Rücktrittserklärung geschrieben. Zuvor waren heimlich aufgezeichnete Gespräche aus einer Besprechung der Regierung an die Öffentlichkeit gelangt. Hontscharuks Rücktrittsgesuch lehnte Präsident Wolodymyr Selenskyj allerdings noch am selben Abend ab. Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Erklärung von Oleksij Hontscharuk. Der Regierungschef gab am 17. Januar auf seiner Facebook-Seite bekannt, er habe ein Rücktrittsgesuch an Präsident Wolodymyr Selenskyj gerichtet. Eigentlich hätte er sie aber laut Gesetz an das Parlament richten müssen. Hontscharuk zufolge könnte aufgrund der veröffentlichten Gesprächsaufnahmen bei der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden sein, dass er und sein Team den Präsidenten nicht respektieren würden. Der Premier versichert allerdings, dass dies nicht der Fall sei.
“Ich habe dieses Amt übernommen, um das Programm des Präsidenten umzusetzen. Er ist für mich ein Vorbild für Ehrlichkeit und Anstand. Um jedoch Zweifel an unserem Respekt und Vertrauen in den Präsidenten auszuräumen, habe ich ein Rücktrittsgesuch geschrieben und es dem Präsidenten übermittelt, der es dem Parlament vorlegen kann”, schreibt Hontscharuk.
Ihm zufolge haben die Ukrainer Selenskyj beispiellos großes Vertrauen geschenkt. Deshalb habe der Präsident das Recht, jedes Mitglied seines Teams auf seine Effektivität hin zu bewerten.
Wie hat Wolodymyr Selenskyj reagiert? Der ukrainische Präsident führte am 17. Januar ein Treffen mit Premier Oleksij Hontscharuk durch, das gefilmt und veröffentlicht wurde. Dabei sagte Selensky zu Hontscharuk: “Ich habe von Ihnen ein Entlassungsgesuch erhalten, im Zusammenhang mit den jüngsten Konflikten oder Skandalen, wie auch immer… Wissen Sie, wie meine persönliche Einstellung zu Ihnen und Ihrer jungen Regierung ist?… Ich habe beschlossen, Ihnen und Ihrer Regierung eine Chance zu geben.” Gleichzeitig stellte der Präsident eine Reihe von Forderungen an das Kabinett. Insbesondere betonte das Staatsoberhaupt, die Arbeit der Regierung müsse optimiert werden, die Gehälter für Minister und Spitzenmanager staatseigener Unternehmen müssten gerecht gestaltet werden und Minister, die keine wirklichen Ergebnisse erzielt hätten, müssten entlassen werden. Zudem müsse ein Dialog mit dem Parlament aufgebaut werden.
Was war dem Rücktrittsgesuch vorausgegangen? Am 15. Januar waren auf dem YouTube-Kanal “Wie man den Präsidenten betrügt” drei Audioaufnahmen veröffentlicht worden, auf denen angeblich Gespräche während eines Treffens mit Premierminister Oleksij Hontscharuk zu hören sind. Dort sollen auch Finanzministerin Oksana Markarowa, Nationalbank-Chef Jakiw Smolij, seine erste Stellvertreterin Kateryna Roschkowa sowie die stellvertretende Leiterin des Präsidialamts, Julia Kowaliw, zu hören sein.
Was enthalten die Aufnahmen?Es sind Äußerungen zu hören, die den ukrainischen Präsidenten beleidigen. So verstehe Selenskyj angeblich nichts von Wirtschaft. Aus den Aufnahmen geht hervor, dass Hontscharuk angeblich die Vertreter des Finanzministeriums, des Wirtschaftsministeriums, der Nationalbank und andere Fachleute zusammengerufen habe, um für die Kommunikation mit dem Büro des Präsidenten und Selenskyj persönlich einen gemeinsamen Standpunkt zu den dringendsten Wirtschaftsfragen zu bestimmen. Dabei betont angeblich der Premier, man müsse Selenskyj auf verständliche Weise eine Reihe von Wirtschaftsproblemen erläutern.
Die Aufnahmen wurden im Web als “Besprechung” von Beamten “für ein Treffen mit dem dummen Präsidenten Selenskyj” präsentiert. Es wurden aber weder ein Datum der Aufnahme, noch ein Ort angegeben. Unklar ist auch, ob die Aufnahmen aus einer Besprechung oder aus mehreren stammen. Aufgrund der schlechten Qualität sind viele Sätze der Gesprächspartner unvollständig. Es sind Stimmen zu hören, die an die von Hontscharuk und die der anderen genannten Beamten erinnern.
Sind die Aufnahmen gefälscht?“Das ist nicht meine Stimme”, erklärte inzwischen die stellvertretende Leiterin des Präsidialamts, Julia Kowaliw. Es bestehen durchaus Zweifel an der Echtheit der Aufnahmen. Eine ähnliche Beratung hatte es vor einem Monat, Mitte Dezember, gegeben, wie aus der Internetseite der Nationalbank hervorgeht. Der Pressedienst des Ministerkabinetts stellte fest, “es liegen keine Informationen über die Echtheit von Audio- oder Videodateien vor, die im Internet verbreitet werden”.
Die ukrainische Webzeitung “DT.ua” beruft sich auf Quellen, wonach dies die ersten beiden von insgesamt 14 Aufnahmen seien. Sie seien eigens vor dem Treffen der Regierungsfraktion “Diener des Volkes” veröffentlicht worden, damit es einen Grund gebe, der Regierung das Vertrauen zu entziehen.
Während der Fraktionssitzung am 15. Januar diskutierten die Abgeordneten tatsächlich wegen der skandalösen Aufnahmen über einen Misstrauensantrag gegen Hontscharuk. Das bestätigte die Abgeordnete Iryna Vereschtschuk. Ihr zufolge fand eine Probeabstimmung über Hontscharuks Rücktritt statt. Das Ergebnis wollte sie aber nicht verraten. Laut Medienberichten stimmten weniger als 20 Abgeordnete der Regierungsfraktion, also eine klare Minderheit, für einen Misstrauensantrag gegen den Premierminister.
Schon am nächsten Tag, am 16. Januar, war der besagte YouTube-Kanal “Wie man den Präsidenten betrügt” mit den skandalösen Aufnahmen gelöscht.
Wie steht es um das geltende Verfahren? Juristische Einschätzung.Die Geschichte mit dem Rücktritt wurde von Rechtsverstößen und politischen Gesten begleitet, anstatt die geltenden Verfahren einzuhalten. Erstens sieht die Verfassung (in Artikel 8 Absatz 12) vor, dass der Premier und die Regierung vom Parlament entlassen werden. Der Präsident ist an diesem Verfahren nicht beteiligt. Laut Gesetz hätte Hontscharuk dem Parlament ein Rücktrittsgesuch vorlegen müssen und die Abgeordneten hätten entweder dafür oder dagegen stimmen müssen. Stattdessen legte der Premier das Gesuch dem Präsidenten vor. Dieser kann es nun entweder an das Parlament weiterschicken oder bei sich behalten.
Es kommt hinzu, dass laut ukrainischem Recht das Parlament derzeit das Kabinett gar nicht entlassen kann. Das betonte gegenüber ukrainischen Medien der Verfassungsrechtler Oleksandr Moskaljuk. “Die Absetzung des Ministerkabinetts darf vom Parlament innerhalb des ersten Jahres nach Bestätigung des Regierungsprogramms gar nicht erörtert werden. Das geht aus Artikel 87 Teil 2 der Verfassung der Ukraine hervor. Das heißt, Hontscharuks Kabinett genießt ein Jahr lang Immunität, weil sein Programm bestätigt wurde”, so der Jurist. Er fügte hinzu: “Ähnliche Situationen gab es in anderen Ländern, wo ein Regierungsbeamter nicht entlassen werden konnte, aber unter einem gewissen Druck der Öffentlichkeit schließlich selbst zurücktrat.” Moskaljuk schließt nicht aus, dass das Parlament Hontscharuks Rücktrittsgesuch ablehnt, so wie es seinerzeit mit Premier Arsenij Jazenjuk unter Präsident Petro Poroschenko war. In einem solchen Fall könnte Hontscharuk einfach weiter regieren.
Wer könnte dahinter stecken?Innerhalb der Regierung wird vermutet, dass hinter der Veröffentlichung der Gesprächsaufnahmen der ehemaligen Mitinhaber der PrivatBank, Ihor Kolomojskyj, stecken könnte. Diese Vermutung äußerten gegenüber dem ukrainischen Sender “Hromadske” zwei Regierungsbeamte aus Hontscharuks Umfeld. Der Oligarch verlangt eine Entschädigung für die aus seiner Sicht illegale Verstaatlichung der Bank im Jahr 2016. Doch die Regierung teilt die Ansicht des Internationalen Währungsfonds, wonach die Verstaatlichung nicht revidiert werden könne. Kolomojskyj selbst sagte gegenüber “Hromadske”, er habe mit der Veröffentlichung jener Gesprächsaufnahmen nichts zu tun.