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Regierungswechsel und Absetzung des Generalstaatsanwalts: Was hat das zu bedeuten?

Am 4. März haben die Abgeordneten auf einer außerordentlichen Sitzung des ukrainischen Parlaments für die Entlassung der Regierung gestimmt, die nur sechs Monate im Amt war. Kurz danach wurde ein neues Kabinett samt Premierminister ernannt, doch einige Ministerposten sind noch unbesetzt. Am nächsten Tag entließ das Parlament auch den Generalstaatsanwalt, der das Amt ebenfalls sechs Monate lang innehatte. Was bedeutet dies für die Ukraine? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:

Schon vor einigen Monaten waren Gerüchte über einen mögliche Regierungswechsel aufgekommen. Dann, im Januar 2020, reichte Premierminister Oleksij Hontscharuk seinen Rücktritt ein, doch Präsident Wolodymyr Selenskyj gab ihm damals “eine weitere Chance” und beließ ihn im Amt. Für eine Weile hieß es, die Regierung solle mit einigen neuen Ministern und Stellvertretern verstärkt werden. Doch am Ende entschieden sich der Präsident und seine Mehrheit im Parlament für einen radikalen Weg: die Entlassung der gesamten Regierung und die Bildung eines neuen Kabinetts.

Die entlassene Regierung wurde vollständig von der Partei “Diener des Volkes” und persönlich von Präsident Selenskyj gebildet. Auch das Regierungsprogramm wurde im August 2019 vom Parlament gebilligt, daher genoss die Regierung eigentlich seitdem ein Jahr lang Immunität.

Die Opposition im Parlament – die Partei “Europäische Solidarität” des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko, die Partei “Vaterland” von Julia Tymoschenko sowie die Partei “Stimme” – haben in keiner Weise den jetzigen Regierungswechsel initiiert. Er ist daher nicht Ergebnis eines politischen Kampfes, sondern Ergebnis einer politischen Krise innerhalb der Regierungspartei “Diener des Volkes”.

Was hat Selenskyj im Parlament gesagt?

Der Präsident betonte, die Regierung habe die aktuellen Probleme unzureichend gelöst: sinkende Haushaltseinnahmen, Rückgang in der Industrie, fehlende Maßnahmen gegen die Coronavirus-Epidemie, Lohnrückstände bei Bergleuten, nicht eingehaltene Versprechungen zur Senkung der Tarife kommunaler Dienstleistungen und mehr. Zudem sei sie nicht in der Lage, die Risiken der globalen Wirtschaftskrise für die Ukraine zu bewältigen.

Selenskyj zufolge hat das alte Ministerkabinett aber auch Erfolge vorzuweisen, allerdings nur wenige. Nötig seien nun “neue Köpfe und Herzen”, sagte er. Der Präsident fügte hinzu, er habe den Eindruck, dass die Wirtschaft “erst Schwung nahm, dann stolperte und nun Gefahr laufe, mit dem Gesicht auf den Boden zu fallen”. Selenskyj kritisierte, der Staatshaushalt sei nicht erfüllt worden. Allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2020 hätten 16 Milliarden Hrywnja gefehlt – 13 Milliarden davon seien auf gescheiterte Zolleinnahmen zurückzuführen.

Der Präsident bemängelte auch, dass in der Industrie vier Monate in Folge ein Rückgang um fünf Prozent zu verzeichnen sei. Ferner sei die Öffentlichkeitsarbeit gescheitert. In diesem Zusammenhang erwähnte er die Skandale um Prämien für Spitzenbeamte. Er erwähnte auch die Gesundheitsreform und deutete an, dass es sinnvoll sein könnte, mit ihr zu warten. Der Reform, mit der die Missstände im Gesundheitswesen beseitigt werden sollten, droht nun ein Stopp.

Wie steht es um die Wirtschaft wirklich?

Wechselkurs und Haushaltsdefizit. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2020 wurden die geplanten Einnahmen zum Staatshaushalt nicht erreicht. Im Januar fehlten 25 Prozent und im Februar fünf Prozent. Doch wie kam es dazu? Die Regierung hatte bei der Planung des Haushalts 2020 einen höheren Dollarkurs zugrunde gelegt: 27,5 Hrywnja für einen US-Dollar, während der reale Wechselkurs im Januar und Februar 24 bis 25 Hrywnja betrug. Der Dollarkurs ist wichtig für den Haushalt. Von ihm hängen die Zolleinnahmen ab. Je niedriger der Dollarkurs, desto niedriger die Einnahmen.

Staatsanleihen und Coronavirus. Bis zur Überarbeitung des Haushalts 2020 kann der Staat das Loch bei den Einnahmen nur stopfen, indem er sich Geld auf dem Markt besorgt. Aber auf den Weltmärkten hat die Ausbreitung des Coronavirus Panik ausgelöst. Investoren verkaufen riskante Vermögenswerte – Aktien von Unternehmen und Anleihen von Entwicklungsländern. Dies hat bereits Auswirkungen auf die Ukraine: Die Nachfrage nach ukrainischen Staatsschulden ist zurückgegangen, und es wird für das Finanzministerium immer schwieriger, Geld zu niedrigen Zinssätzen und über lange Zeiträume zu leihen.

Langfristig kann der Coronavirus eine Wirtschaftskrise in der Ukraine verursachen und den Handel beeinträchtigen. Der größte Handelspartner der Ukraine ist China. Ein Rückgang der Importe und folglich ein Rückgang der Haushaltseinnahmen sowie ein Rückgang der Exporte und damit ein Rückgang der Einnahmen in Währung könnten zur Abwertung der Hrywnja führen.

IWF. Die Wirtschaftslage und die Probleme in den öffentlichen Finanzen werden dadurch erschwert, dass die Ukraine sich in keinem Programm des Internationalen Währungsfonds befindet. Das bisherige IWF-Stand-by-Programm endete im Februar, und die Regierung unter Oleksij Hontscharuk hatte alle ihre sechs Monate im Amt über ein neues verhandelt. Doch bisher wurde keine Kredit-Tranche für die Ukraine gewährt.

Das Haupthindernis für ein neues IWF-Programms ist die Tatsache, dass der Gesetzentwurf Nr. 2571, der die Rückgabe verstaatlichter Banken an frühere Eigentümer verbietet, noch immer nicht verabschiedet wurde. Ein solches Gesetz ist nötig, weil der Oligarch Ihor Kolomojskyj versucht, gegen die Verstaatlichung seiner PrivatBank im Jahr 2016 zu klagen. Der Gesetzentwurf liegt dem Parlament vor, doch es kann ihn erst verabschieden, wenn es die Prüfung des Gesetzes über den Markt von Grund und Boden abgeschlossen hat.

Der Regierungswechsel könnte die Gespräche mit dem IWF weiter behindern. Die Behörde, die für sie zuständig ist, ist das Finanzministerium. Es hat mit Ihor Umanskyj einen neuen Chef. Der neue Finanzminister hat den IWF in der Presse schon oft kritisiert und erklärt, die Ukraine müsse “härter mit dem IWF umgehen und einige seiner Forderungen nicht akzeptieren”.

Nach der Ernennung eines neuen Premierministers stimmen die Abgeordneten im Paket für die neuen Minister. Es fehlen aber noch neue Minister für Wirtschaft und Agrarindustrie, für Energie sowie für Bildung und Kultur. Das ist umso überraschender, da der Präsident erklärt hatte, die Wirtschaftsprobleme seien die Hauptgründe für den Regierungswechsel.

Warum das alles gerade jetzt?

Eigentlich gibt es keine klar erkennbaren Gründe für die Entlassung der Regierung. Denn jedem ist klar, dass sechs Monate noch keine Amtszeit für eine Regierung sind, um die Ergebnisse ihrer Arbeit bewerten zu können. Es ist klar, dass wirtschaftliche und soziale Transformationen viel länger brauchen.

Auch die Probleme, mit denen die Ukraine zu kämpfen hat, sind nicht erst gestern aufgetreten und sind auch nicht das Ergebnis der sechsmonatigen Arbeit jener Regierung. Zudem sind Erfolge einer Regierung viel später zu spüren. Gerade deswegen räumt das Gesetz der Regierung nach Billigung ihres Programms ein Jahr lang Immunität ein. Daher wird vermutet, dass die objektiven Wirtschaftsindikatoren nicht der eigentliche Grund für die Entlassung der Regierung sind.

Wahrscheinlich wollte Präsident Selenskyj auf den spürbaren Rückgang der Umfragewerte reagieren – seiner, die seiner Partei und die der Regierung. Doch eigentlich müsste er sich nicht von ihnen leiten lassen, denn er hatte wiederholt erklärt, dass er nur für eine Amtszeit als Präsident angetreten sei.

Revanche der Oligarchen?

Eine Reihe von Experten glauben, dass der Regierungswechsel eine Revanche der Oligarchen ist. Immerhin habe die Regierung von Oleksij Hontscharuk versucht, sich von den Finanz- und Industriegruppen zu distanzieren und insbesondere gegenüber dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj eine harte Haltung einzunehmen.

Aus Hontscharuks Umfeld ist unterdessen zu hören, er sei wegen Personalentscheidungen beim Energieunternehmen “Tsentrenergo” und bei drei weiteren regionalen Energieanbietern entlassen worden. Mit den Entscheidungen sei Kolomojskyj unzufrieden gewesen. Unzufrieden mit der Regierung sei auch der Oligarch Rinat Achmetow gewesen. Denys Schmyhal, der neue ukrainische Premierminister, war früher als Top-Manager für DTEK tätig. Das Kohleunternehmen gehört Achmetow.

Selenskyjs Umfragewerte hängen auch von den großen TV-Sendern ab, die den Oligarchen gehören. Möglicherweise haben sie dem Präsidenten zu verstehen gegeben, dass seine Beliebtheitswerte weiter sinken könnten. Möglich ist auch, dass die Abhängigkeit des Präsidenten von Umfragewerten, für die es keine rationale Erklärung gibt, ihn zu einem neuen Deal mit den Oligarchen drängt.

Warum wurde der Generalstaatsanwalt entlassen?

Am 5. März sprach das Parlament auch dem Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka das Misstrauen aus. Präsident Selenskyj hatte ihn im vergangenen Sommer in einem Telefongespräch mit US-Präsident Donald Trump als “hundertprozentigen eigenen Mann” bezeichnet. Auch er verbrachte im Amt nur sechs Monate. In dieser Zeit wurde der zentrale Apparat der Staatsanwaltschaft gesäubert und mit Überprüfungen vor Ort begonnen. Wem stand Rjaboschapka im Weg?

Der Fall PrivatBank. Die Entfernung von Rjaboschapka ist für Ihor Kolomojskyj definitiv von Vorteil. Rjaboschapka hatte alle Verfahren bezüglich der PrivatBank an das Nationale Anti-Korruptions-Büro der Ukraine (NABU) übergeben. Einschließlich einer Untersuchung zu einem möglichen Entzug von Geldern aus der PrivatBank durch deren frühere Eigentümer vor der Verstaatlichung. Rjaboschapka hatte erst kürzlich erklärt, dass es in diesen Fällen Fortschritte gebe, ebenso wie bei der Untersuchung im Fall  Ukrnafta. Die Öl- und Erdgas-Förderfirma befindet sich auch in Kolomojskyjs Interessenssphäre.

Konflikt mit Awakow. Rjaboschapka hatte einen unausgesprochenen Konflikt mit Innenminister Arsen Awakow. Die Polizei hatte Ende letzten Jahres gegen mehrere Personen Verdacht im Zusammenhang mit dem Mord an dem Journalisten Pawel Scheremet erhoben. Vor Gericht fielen jedoch viele Unstimmigkeiten auf. Der Generalstaatsanwalt erklärte daraufhin, die Polizei müsse noch an dem Fall arbeiten. “Ich denke, es müssen noch zusätzliche Beweise gesammelt werden, damit der Fall vor Gericht gebracht werden kann, da die gesammelten Beweise nicht ausreichen”, sagte Rjaboschapka.

Der Fall Poroschenko. Während seines Wahlkampfes vor einem Jahr hatte Selenskyj angekündigt, für Verhaftungen zu sorgen. Doch bisher kann er sich damit nicht rühmen. Das Büro des Präsidenten hatte ganz klar von allen Strafverfolgungsbehörden aufsehenerregende Fälle gefordert. Zum Beispiel erhob das Staatlich Ermittlungsbüro Verdacht gegen Petro Poroschenko, doch der Generalstaatsanwalt verweigerte seine Unterschrift. In Selenskyjs Umfeld wurde daraufhin Rjaboschapka vorgeworfen, illoyal zu sein und dem ehemaligen Präsidenten zuzuspielen.

Das Staatliche Ermittlungsbüro verdächtigt Poroschenko der Machtergreifung. Er wird beschuldigt, illegal zwei Mitglieder des Hohen Justiz-Rates und den ersten stellvertretenden Leiter der Auslandsaufklärung, Serhij Semotschko, ernannt zu haben. Rjaboschapka soll wiederholt abgelehnt haben, das entsprechende Dokument der Ermittler zu unterschreiben, da der “Fall roh” sei und vor Gericht scheitern werde. Am Vorabend der Entlassung des Generalstaatsanwalts sagte David Arachamija, Fraktionschef der “Diener des Volkes”, dies sei der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe.